Keine Marionette: Die Sicht russischer Fachleute auf Ukraine und USA
Noch immer gibt es in Russland Experten, die den militärischen Gegner jenseits von Propaganda-Klischees analysieren. Sie sehen sie als Akteur mit eigenen Interessen. Mehr TV-Präsenz hat die andere Sicht.
Die offiziell-politische Sicht Russlands auf die Beziehungen zwischen der Ukraine und ihrem wichtigsten Waffenlieferanten USA findet sich in Endlosschleife in zahlreichen Berichten der Regierungsmedien: Die Kiewer Regierung sei nur eine Art Marionette der USA und habe im Prinzip keine eigene Handlungsmacht.
Warum diese Geschichte erzählt wird, ist klar: Die vergangenen Niederlagen der russischen Armee erlitt diese dann nicht etwa gegen ein kleineres Land, sondern nur die Fingerpuppe des übermächtigen Westens, die unpopuläre Mobilmachung in Russland lässt sich so sehr einfach mit einem übermächtigen Feind erklären, mit dem das offizielle Moskau zumindest verbal bereits im Krieg ist.
Die Ukraine tut nicht immer, was die USA vorgeben
Dass die Dinge nicht immer so einfach sind, ist auch Russlands Geopolitik-Experten bekannt. Tatsächlich überlebt die Ukraine den harten Kampf gegen die russischen Invasoren vor allem wegen der westlichen Waffenhilfe, aber auch wegen der aktuellen Geschlossenheit des eigenen Volkes und seiner Armee im Abwehrkampf. Die Kiewer Regierung als Akteur an der Front und Nichtmitglied westlicher Bündnisse hat auch immer noch die Macht, entgegen dem Wunsch westlicher Ausrüster zu handeln.
Ein gutes Beispiel sind die jüngsten Drohnenangriffe gegen drei russische Flugplätze im tiefen Hinterland - bis zu 700 Kilometer entfernt von der ukrainischen Grenze an der Wolga. Es ist offensichtlich, dass die USA keine Attacken ins tiefe russische Hinterland wünschen und sogar die an die Ukraine gelieferten HIMARS-Raketensysteme so manipuliert haben, dass sie keine dafür geeigneten Langstreckensysteme verschießen können.
Dennoch hat Kiew derartige Angriffe gestartet, da die propagandistische Wirkung auf die eigene Bevölkerung hier höher bewertet wurde, als die Verärgerung durch den größten Waffenunterstützer. Die nötigen Waffensysteme konnte man auch ohne diesen herstellen - durch einen Umbau alter Sowjetsysteme.
Russische Experten halten die US-Unterstützung für aktuell stabil
Eine beliebte Geschichte der offiziellen Politik Russlands ist auch, dass die Unterstützung der USA für die Ukraine in allernächster Zeit abbrechen wird. Hier warnt beispielsweise der Generaldirektor des Russischen Rates für Auswärtige Beziehungen, Andrej Kortunow, in der Zeitung Wetschernjaja Moskwa vor Illusionen.
Er sieht weiterhin einen parteiübergreifenden Konsens in den Vereinigten Staaten, die Ukraine unterstützen zu wollen. Weiterhin wird nach seiner Einschätzung das Ruder in solch einer Frage nicht plötzlich herumgerissen. Aktuelle Unterstützungsprogramme seien langfristig angelegt und würden auch bei einem Kurswechsel noch ein Jahr weiterhin massiv wirken.
Bisher hätten die USA laut Kortunow auch vom Ukraine-Krieg profitiert - eine Meinung, die auch nichtrussische Experten teilen. Die Europäer befinden sich wegen der Konfrontation mit Moskau aktuell treu an der us-amerikanischen Seite, die US-dominierte Nato gewinnt neue Mitglieder, Russlands Schwäche zeigt sich an vielen Fronten vom Karabach-Konflikt bis Syrien und spielt den Amerikanern in die Karten.
Dennoch glaubt Kortunow, dass es Washington schwerfällt, die Aufmerksamkeit der US-Gesellschaft dauerhaft auf diesen Konflikt zu lenken, wenn man nicht bald ein Ergebnis präsentieren könne, das man als Sieg bezeichnen kann. Die längerfristig gebundene US-Energie sei weiterhin auch nicht für die Konfrontation mit dem anderen geopolitischen Gegner der Vereinigten Staaten, nämlich China frei.
In Russland ist auch bekannt, dass die Positionen im Westen zum Ukraine-Krieg keinen Einheitsblock darstellen. Waldaj-Club-Fachmann Dmitry Suslow betont gegenüber der Nachrichtenagentur Tass, dass es zwar Konsens im Westen sei, die Ukraine zu unterstützen.
Dennoch sieht er eine deutliche Spaltung zwischen einem Block, der kompromissbereit sei und zu dem er den US-General Mark Milley und den französischen Präsidenten Macron zählt. Und einem anderen, der unbedingt einen militärischen Gesamtsieg der Ukraine anstrebe und deren Symbolfiguren für Suslow die US-Spitzenbeamtin Viktoria Nuland und Staaten wie Polen, Großbritannien und das Baltikum stehen.
Hört die russische Politik auf ihre Fachleute?
Insgesamt müssen sich diese verständigen russischen Experten aber auch nach ihrem eigenen Einfluss auf die Politik fragen lassen, die nach außen und in der eigenen Innenpolitik seit Kriegsbeginn immer nur mit neuer Härte glänzt. Immerhin haben mehrere von ihnen auch zum Jahreswechsel in ihren Analysen von einem militärischen Angriff auf die Ukraine abgeraten, etwa Kortunows Programmdirektor Iwan Timofejew.
Er schrieb im November 2021 über einen echten Ukraine-Krieg, dass dessen Kosten für alle Seiten die Vorteile bei weitem überwiegen. Das gelte auch für Russland, dem in einem solchen eine Destabilisierung drohe, russische Streitkräfte ebenfalls hohe Verluste haben könnten und eine Wirtschaftskrise für Russland die Folge sei.
Im Nachhinein sind das drei korrekte Vorhersagen, die dennoch die von ihm beratene Regierung nicht von ihrem Überfall auf ein Nachbarland abhielt, der viele Menschen Elend und Tod brachten.
Aber dennoch ist es ein Zeichen der Hoffnung, dass im aktuell sehr restriktiven Klima in Russland Experten ihren Sachverstand nicht verloren haben und im Gegensatz zu Journalisten immerhin noch die Möglichkeit haben und nutzen, ihre Kenntnisse zumindest durch die Blume weiterzugeben.
Dabei darf allerdings nicht verschwiegen werden, dass diese Möglichkeit nur für die unangreifbaren Spitzen der Expertengemeinde besteht, während sich die zweite Reihe der Fachwelt teilweise notgedrungen an den Kriegskurs angepasst hat, sofern sie sich nicht nach dessen Beginn ins Ausland begab.
Noch eine Anmerkung: Die TV-"Experten", die sich im russischen Staats-TV aktuell mit roten Köpfen die Stimmbänder heiß diskutieren und immer neue Hasstiraden in Richtung Ukraine und Westen absetzen, werden von der vorab zitierten Riege echter Fachleute nicht als solche angesehen. Sondern eher als das, was sie sind: Sprachrohre der Propaganda.
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