Keine Neuauflage der Kronzeugenregelung
RAF-Geschichte zeigt, wie ein falscher Kronzeuge geschaffen wurde
Der Deutsche Anwaltverein (DAV) begrüßt die Entscheidung der Bundesregierung, auf eine Neuauflage der Kronzeugenregelung zu verzichten. Damit werde eine alte Forderung erfüllt. "Mit einer Kronzeugenregelung wären die Risiken für die Richtigkeit und Gerechtigkeit der Entscheidungen der Justiz, insbesondere die Gefahr von Falschbelastungen, erheblich gewesen", heißt es in seiner Erklärung.
Insbesondere die CDU/CSU forderte nach dem 11. September 2001 vehement die Wiedereinführung der Kronzeugenregelung, die bis Ende 1999 für Terrorismusprozesse bestanden hatte. Zu welchen rechtsstaatlich fragwürdigen Exzessen von Polizei und Geheimdiensten die Kronzeugenregelung damals führte, verdeutlichte der Fall des vermeintlichen "Kronzeugen Nonne" im Zusammenhang mit dem bis heute unaufgeklärten Mordfall Herrhausen.
Erinnern wir uns: Obwohl er zu den bestgeschützten, weil stark gefährdeten Personen dieses Landes gehörte, wurde Alfred Herrhausen, damals Sprecher der Deutschen Bank, unweit seines Wohnhauses in Bad Homburg durch einen Sprengstoffanschlag auf seinen gepanzerten Dienstwagen am 30. November 1989, morgens um 8.34 Uhr, brutal ermordet. Die Hintergründe dieses Mordanschlags sind bis heute nicht aufgeklärt.
Die Täter, so ergaben die Rekonstruktionen der Ermittlungsbehörden, hatten zweimal die streng gesicherte Zufahrtsstraße zum Anwesen Herrhausen mit einer "Baustelle" versehen, um in aller Ruhe Zündkabel verlegen zu können. Beim ersten Mal waren sie von Passanten gestört worden
Merkwürdig, denn Herrhausen wurde nach dem "Fahndungskonzept 106" bewacht, in dem die Aufmerksamkeit der Fahnder ausdrücklich auf Baustellen an der jeweiligen Wegstrecke der gefährdeten Person gelenkt wird. Recherchen der WDR-Journalisten Wolfgang Landgraeber, Ekkehard Sieker und ihrer damaligen HR-Kollegin Monika Wagener ergaben: das Attentat muss in zeitlichem Zusammenhang mit der Routinekontrolle der Sicherheitsbeamten stattgefunden haben. Dies ergab ein Abgleich der Dienstpläne der Beamten mit dem zeitlichen Verlauf des Mordanschlags. Obwohl bis heute keinerlei Hintergründe dieses Mordanschlags geklärt sind, geben sich die Behörden nur in einem scheinbar sicher: "Die Ermittlungen bieten keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass neben der 'RAF' andere mögliche Täter für die Tat in Frage kommen", so die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Bundestagsanfrage des Abgeordneten Manfred Such und seiner Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom März 1995.
Die Hinweise auf die RAF als Täter sind jedoch alles andere als schlüssig. Das obligatorische "Bekennerschreiben" könnte von jeder fachkundigen Person verfasst worden sein.
Vielleicht, weil dieser Bekennerbrief auch der Bundesanwaltschaft allein nicht ausreichte, präsentierten die Behörden recht bald einen "Kronzeugen". Die BKA-Pressestelle verbreitete am 21. Januar 1992 die Meldung, Siegfried Nonne, Gelegenheitsspitzel des Hessischen Verfassungsschutzes in der Szene der Frankfurter Startbahngegner, kenne nicht nur die Täter, sondern habe diese sogar in seiner Wohnung beherbergt und ihnen bei der Vorbereitung des Anschlags tatkräftig geholfen.
Daraufhin verschickte die Bundespolizei massenhaft Fahndungsaufrufe, mit denen die angeblichen "RAF"-Mitglieder Andrea Klump und Christoph Seidler sowie zwei weitere Personen mit den Vornamen "Stefan" und "Peter" gesucht wurden. Siegfried Nonne, so die Version der Behörden, habe gestanden, diese vier Personen in seiner Drei-Zimmer-Wohnung in Bad Homburg, Am Hessenring 116, zwecks Vorbereitung des Herrhausen-Mordes beherbergt zu haben. Im Keller des - überwiegend von älteren Menschen mit großem Interesse an der Nachbarschaft - bewohnten Mehrfamilienhauses wurde angeblich Sprengstoff gelagert. Der damalige Bundesanwalt Alexander von Stahl frohlockte am 21. Januar 1992 in einem ARD-Interview:
"Nach meiner Einschätzung sind das die wichtigsten Aussagen und Hinweise , die wir seit Beginn der achtziger Jahre erhalten haben bei der Bekämpfung des deutschen Terrorismus."
Doch die Freude der Terroristenjäger währte nicht lange: Siegfried Nonne widerrief im Interview mit Monika Wagener und Ekkehard Sieker seine "Kronzeugen-Aussage" komplett. Alles, so Nonnes neue Aussage, sei von Beamten des Hessischen Verfassungsschutzes in enger Zusammenarbeit mit dem BKA sowie der Bundesanwaltschaft konstruiert, fingiert und zusammengedichtet worden. Ein einziges Lügengebilde zur Beruhigung erfolgshungriger Politiker und ihrer Bürokratie. Nonne zufolge waren zwei Beamte des eigentlich für die Verteidigung des Rechtsstaates und der Demokratie geschaffenen Verfassungsschutzes beim Aufbau ihres "Kronzeugen" nicht einmal vor indirekten Morddrohungen gegenüber seiner Person zurückgeschreckt. Nonne, psychisch labil, alkohol- und drogenabhängig, wurde seinen Angaben zufolge massiv unter Druck gesetzt. Etwa mit dem Hinweis, man wisse ja, dass er in psychiatrischer Behandlung war und selbstmordgefährdet sei, da könne man ja nachhelfen...
Die journalistischen Recherche erbrachte keinerlei Hinweise auf die frühere Anwesenheit fremder Personen in der Wohnung Nonnes. In der fraglichen Zeit lebte jedoch ein anderer bei Nonne: sein Halbbruder Hugo Föller. Föller, der am 23. Januar 1992 verstarb, hatte zuvor noch gegenüber Freunden und gegenüber Beamten des BKA erklärt, dass er am Tag vor dem Attentat auf Alfred Herrhausen mit Siegfried Nonne gemeinsam in der Wohnung Am Hessenring 116 war und sich dort ansonsten niemand aufhielt. In der "Monitor"-Sendung der ARD vom 17. Februar 1992 bestätigten auch andere Mieter des Hauses Am Hessenring 116, dass sie keine Fremden bei Nonne/Föller bemerkt hätten. Zitat: "Dass vier Terroristen da gelebt haben sollen, ist ein Ding der Unmöglichkeit." In einer Brennpunktsendung verbreitete die ARD am 1. Juli 1992 das vollständige Dementi des vermeintlichen Kronzeugen.
Nonne erläuterte detailliert, wie er vom Hessischen Verfassungsschutz zum Kronzeugen aufgebaut und zu seinen entsprechenden Aussagen genötigt worden sei. Das Medienecho auf diese Enthüllung blieb zwiespältig. Insbesondere jene Redaktionen, die zuvor bereitwillig dem BKA folgten und Jubelartikel und -sendungen verbreiteten, hatten nun ein Problem mit der Realität. Siegfried Nonne, als ein in der Szenerie der Frankfurter Startbahngegner bekannter Spitzel und labiler Mensch, konnte ja schließlich alles erzählen. Warum sollte die neue Geschichte wahr sein?
Beim WDR meldeten sich neue Zeugen, darunter einer, der es wissen musste: ein hoher Beamter des BKA. Der bestätigte nicht nur die neue Version des "Nichtmehr-Kronzeugen" Nonne, sondern gewährte darüber hinaus einem der WDR-Journalisten Einblick in geheime Akten des Hessischen Verfassungsschutzes bzw. des Bundeskriminalamtes. Die Aktenlage bestätigte nochmals die Aussagen Nonnes in den ARD-Filmen, also die behördliche Erschaffung eines vermeintlichen Kronzeugen. Diese Bestätigung ihrer vorherigen Rechercheergebnisse veröffentlichten Ekkehard Sieker, Wolfgang Landgraeber und Gerhard Wisnewski als Schwerpunkt in ihrem Buch Das RAF-Phantom.
Die Antwort der Staatsmacht blieb nicht lange aus. In unguter deutscher Tradition erhielten die Autoren Besuch im Morgengrauen des 1. März 1994. Wohnungen und Büros der Buchschreiber wurden durchsucht. Da es der Staatsanwaltschaft jedoch nicht gelang, die undichte Stelle im BKA ausfindig zu machen, ermittelte sie gegen den damaligen Anwalt Nonnes und in diesem Zusammenhang auch gegen die Journalisten. In diesem - erst am 2. September 1996 eingestellten - Verfahren ging es um die Aufrechterhaltung einer Legende: Die RAF als die Mörder Alfred Herrhausens.