Keine Orange Revolution
Nepals Demokratiebewegung hat den Rückzug des autokratisch regierenden Monarchen erzwungen und der Einflussnahme der EU und der USA getrotzt, die auf eine Verständigung mit dem Monarchen gedrängt hatten
Hunderttausende hatten trotz Ausgangssperre und Schießbefehl wochenlang in Kathmandu demonstriert (Der König klammert sich an den Thron). Ende April blieb König Gyanendra keine Wahl mehr, wollte er verhindern, dass ihn eine städtische Revolte im Verbund mit dem maoistischen Aufstand in den ländlichen Regionen aus dem Palast jagen würde. Er ließ das Parlament wieder einsetzen, das schon vor drei Jahren aufgelöst worden war. Die neue All-Parteien-Regierung schloss sofort einen unbefristeten Waffenstillstand mit den Maoisten und ist dabei, die königlichen Seilschaften in der Verwaltung zu entmachten. Gegen die Sicherheitskräfte, die für den Tod von 21 Demonstranten verantwortlich sind, werden in Kürze Verfahren eröffnet. Bald soll eine verfassungsgebende Versammlung die Forderungen der Aufständischen nach einer Abschaffung der Monarchie und der Verankerung sozialer Rechte diskutieren.
Für König Gyanendra, der als Oberbefehlshaber der Armee und Chef der gestürzten Regierung die Hauptverantwortung trägt, wird es eng. Nach dem Willen einflussreicher Geber soll er künftig als zeremonielles Staatsoberhaupt „Stabilität“ wahren, aber die meisten Nepalis wünschen Gyanendra derzeit lieber ins Exil.
Bis zuletzt hatten einzelne EU-Regierungen unter Führung Großbritanniens und der US-Botschafter in Kathmandu versucht, die bürgerliche Opposition zu Gesprächen mit Gyanendra zu drängen. Doch nicht nur der Monarch, der vor einem Jahr endgültig die Macht an sich gerissen hatte und seither mit Notverordnungen und einer strikten Zensur regierte (Nepal FM) und den Sicherheitskräften freie Hand ließ (in Nepal „verschwanden“ im vergangenen Jahr mehr Menschen als anderswo auf der Welt), zeigte sich stur. Auch die Sieben-Parteien-Allianz verweigerte sich dem Szenario eines Elitenwechsels, mit dem Protestbewegungen kanalisiert und prowestliche, vermeintlich demokratischere Regierungen unterstützt werden.
Die Studenten- und Jugendorganisationen waren es, die ihre Parteiführungen zum Dialog mit den Aufständischen gedrängt hatten und die republikanische Strömung bis weit in die gesellschaftliche Mitte hinein getragen haben. Auch nach dem Rückzug des Monarchen demonstrieren fast täglich mehrere tausend Studenten, um die Parteien zu warnen, die Demokratisierung nicht auf halbem Weg abzubrechen und die Macht im Land nicht erneut unter ihren Honoratioren aufzuteilen. Und sie erinnern daran, dass eine Rückkehr zum Status quo der Verfassung keine Lösung des Konfliktes bringen kann.
Denn nicht allein der seit zehn Jahren andauernde Aufstand der Maoisten und die Missachtung der Menschenrechte durch beide Konfliktparteien sind der Grund des nun immer öfter zitierten „drohenden Staatszerfalls“, sondern die Armut und die ungleiche Verteilung des Bodens, das Stadt-Land-Gefälle und die unzureichende Infrastruktur, der Ausschluss vieler nicht-nepali-sprachigen Bevölkerungsgruppen in dem Hindu-Staat und nicht zuletzt die Klientelwirtschaft der bürgerlichen Parteien in den 15 Jahren nach Ende der absoluten Monarchie 1990. All das sind Themen, die eine neue Verfassung nicht wird lösen können, die aber einer Verankerung im Grundgesetz bedürfen, um zukünftige Regierungen zu binden.
Mit der zunehmenden Macht des Königs verschob sich auch die Ausrichtung der Maoisten
Die gültige Verfassung, die 1990 ebenfalls in Massenprotesten erkämpft wurde, hat die Machtübernahme Gyanendras nicht verhindern können. Sie sichert dem Monarchen den Oberbefehl über das Militär und ein Vetorecht bei vielen Gesetzen. Und die Verfassungsartikel zur Auflösung des Parlaments nach einem Misstrauensvotum hatten den Weg zu schleichenden Machtübernahme des Königs bereitet. Als im Mai 2003 der damalige Premier im Parlament keine Mehrheit für die Verlängerung des Ausnahmezustands fand, bat er den König, der im Verbund mit der Militärführung ebenfalls eine Verlängerung befürwortete, um die Auflösung des Parlaments. Neuwahlen sah die Verfassung nach spätestens einem halben Jahr vor.
Nach Ablauf dieser Frist entließ Gyanendra den Premier, und bat eine monarchiefreundliche Partei, ein Übergangskabinett zu bilden, bis die Sicherheitslage allgemeine Wahlen zulasse. So wechselten sich, formal verfassungsgemäß, bis zum Februar 2005 „Übergangsregierungen“ ab, in denen mit jedem neuen Premier der Einfluss des Königs wuchs. Im vergangenen Jahr entließ Gyanendra schließlich die Regierung wegen Unfähigkeit, „den Terrorismus“ zu bekämpfen. Er setzte ein Kabinett ein, in dem die Palastzirkel der Sicherheitsberater, der Generalstab der königlichen Armee und Hardliner aus der Zeit vor der Demokratisierung 1990 das Sagen hatten. Mit Massenverhaftungen und Zensur, rigider Zentralisierung der Verwaltungshierarchien und militärischen Offensiven versuchten sie, das Land zu „befrieden“, das außerhalb der Großstädte und Distriktszentren nahezu vollständig von den Maoisten kontrolliert wird.
Die Mahnungen von US-Botschafter James Moriarty und der EU, eine Einigung mit dem König zu suchen, die eine schrittweise Rückgabe der Macht an die parlamentarischen Kräfte erlaubt, hätte letztlich nichts anderes bedeutet, als Kathmandus bürgerliche und feudale Eliten vereint den Krieg gegen die Aufständischen verantworten zu lassen. Diese Pläne sind vorerst gescheitert, die früheren Gegner nun geeint.
Dabei waren die Maoisten vor zehn Jahren in den Untergrund gegangen, um die bürgerliche Demokratie der heutigen Sieben-Parteien-Allianz zu bekämpfen. Aus Sicht ihrer Anhänger hatten sich die örtlichen Honoratioren, die in der Panchayat-Zeit ihre Pfründe durch gute Beziehungen zur königlichen Familie gesichert hatten, nach 1990 nur einer der parlamentarischen Parteien angeschlossen, und koordinierten ihre Klientelnetze nun im Parlament. In den ersten Jahren des Aufstands griffen die Aufständischen neben Grundbuchämtern und Kasernen deshalb viele Anhänger der sozialdemokratischen CPN-UML und des zentristischen Nepali Congress an, die als Großhändler und Landbesitzer des Wuchers beschuldigt und vertrieben, gelegentlich auch hingerichtet, wurden.
Doch mit der zunehmenden Macht des Monarchen verschoben auch die Maoisten ihre Koordinaten: Vom Kampf gegen den Imperialismus des Westens und den indischen „Expansionismus“ (indische Unternehmen kontrollieren große Teile der wenigen verarbeitenden Industrie) und deren „Handlanger“ in Nepal hat sich ihr ideologischer Fokus in den letzten Jahren zum „semi-feudalen“ Charakter des politischen Systems Nepals verschoben. Selbstverwaltung für die nicht hinduisierten Gemeinschaften mit eigenen Sprachen und Kulturen, Abschaffung der Unberührbarkeit und eine Neuverteilung der knappen Ackerflächen sind Forderungen, die in der – wie alle Parteien von Angehörigen der oberen Kasten dominierten – CPN-Maoist erst mit einer zunehmenden Anhängerschaft in den infrastrukturell schwächsten ländlichen Gebieten in den Vordergrund rückten.
Derzeit herrscht große Hoffnung im Land
Seit Ende vergangenen Jahres wird eine weitere, tiefere Neuausrichtung bekannt: In Interviews mit nepalischen und indischen Zeitungen sowie der BBC hatten die Parteiführer Prachanda und Bhattarai Anfang des Jahres versichert, sich dem Wettbewerb der Parteien stellen zu wollen. „Die Führungen der kommunistischen Bewegungen haben im vergangenen Jahrhundert zunehmend mechanisch agiert. Unsere Volksdemokratie soll demokratischer sein.“ Zwar werden parteiintern Abweichler noch immer im Duktus autoritär-kommunistischer Bewegungen gemaßregelt, doch nach außen geht die Öffnung voran. Seit Anfang des Jahres wurde Funktionären der bürgerlichen Parteien in maoistisch regierten Gebieten schrittweise der Zugang und politische Betätigung ermöglicht, jetzt kündigte die maoistische Führung an, konfisziertes Eigentum zurückzugeben.
Auch die neue Regierung, an der alle Oppositionsparteien beteiligt sind, geht auf die andere Seite zu. Das „Terrorismus“-Etikett wurde zurückgezogen und einige maoistische Inhaftierte bereits entlassen. Die Struktur und Führung der Sicherheitskräfte wird neu organisiert. Wenn man davon ausgeht, dass – anders als beispielsweise in Kolumbien - die Aufständischen eine vergleichsweise stark zentralisierte Guerilla sind, deren Mitglieder vor allem ideologisch motiviert handeln, geben diese Maßnahmen und die Äußerungen der Parteiführung Anlass zur Hoffnung, dass die ideologische Öffnung Bestand haben wird, sofern die CPN-M bei den Wahlen zu einer verfassungsgebenden Versammlung nicht zu schlecht abschneidet oder die Parteien erneut zur Klientelwirtschaft der 1990er Jahre zurückkehren.
Derzeit herrscht in Nepal soviel Hoffnung wie seit 1990 nicht mehr, das ganze Land diskutiert seine politische Zukunft. Nach zehn Jahren des bewaffneten Konflikts, der in nahezu jeder Familie Opfer gefordert hat, sind viele Nepalis heute überzeugt, dass der ersehnte Frieden und die Wiederbelebung der Wirtschaft von einer Neuverteilung der Reichtümer des Landes und einer geeinten, demokratisierten Armee abhängen.