Keine Panik!
Der Personen- und Güterverkehr auf Deutschlands Straßen nimmt zu. Umwelt und Lebensqualität werden zerstört. Der Verkehrsminister reist lieber mit dem Flugzeug als mit der Bahn
Der Radfahrer und der Nutzer eines E-Scooters rollen aufeinander zu. Was nicht so einfach ist, da in der Mitte des Gehweges ein Vater den Buggy mit seinem Kind schiebt. Es wird geklingelt, es fallen Schimpfwörter, wobei untergeht, wer eigentlich wen beschimpft. Ein weiterer Fußgänger kommt aus einem Haus und tritt in einen Hundehaufen. Chaos? Nein, nur ein ganz normaler Tag im Straßenverkehr von Berlin-Mitte.
In Berlin fahren viele Fahrradfahrer auf dem Gehweg. Das ist auch aus der Perspektive eines Fußgängers nachvollziehbar, denn die Angst vor den Autos ist groß. Deren Fahrer verfallen aufgrund von Stau, Parkplatzsuche und Verkehrsstress in eine aggressive Fahrweise. Diese führt zu Unkonzentriertheiten und endet insbesondere durch leichtfertiges Abbiegen in Unfällen. 2018 wurden von der Polizei in Berlin 45 Unfalltote erfasst: 19 Fußgänger, 11 Radfahrer, 9 Motorradfahrer, 3 Autofahrer, 3 fallen in keine dieser Rubriken.
Auf die Gehwege gesellen sich nun auch die E-Scooter und Elektrofahrräder. Auf ihnen können Touristen auf unbekannten Wegen das Verkehrsrisiko der Großstadt bis zum Exzess ausreizen. Survival-Urlaub in der City!
Das Improvisationstalent der Bürger von Berlin lässt sich in vielen Bereichen der Stadt erkennen. Doch im Straßenverkehr gilt oft das Recht des Stärkeren, zum Leidwesen der Schwächeren. Nicht nur die Lebensqualität im Alltag leidet darunter. Frustration und Aggression auf allen Seiten führen auch zu mehr Unfällen.
Reduzierung der Emissionen
Es ist der 18. August 2019 und das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur öffnet der Bevölkerung seine Stahltore. Nur einen Steinwurf entfernt liegt der Invalidenpark mit dem plätschernden Mauerbrunnen. Der Platz, auf dem die Friday for Future-Demonstranten ihre Kritik auf die Klimapolitik der Regierung demokratisieren.
"Es gibt kein Recht auf einen SUV!", ist einer ihrer Schlachtrufe. Ein Seitenhieb auf Verkehrsminister Andreas Scheuer, der sich gegen ein Fahrverbot von Benzin- und Dieselfahrzeugen in den Städten ausgesprochen hatte. In einer Stunde kann sich der Verkehrsminister den Fragen des Volkes stellen. Dazu wird er extra aus Bayern eingeflogen.
Auf dem Gelände des Ministeriums gibt die Polizei Tipps zur Vorbeugung von Fahrraddiebstahl. Sämtliche Bereiche des Personen- und Gütertransports werden von Informationsständen vertreten: der Straßen-, der Schienen-, der Schiffs- und der Luftverkehr.
Die Regierung hat nun ein Konzept zur Erreichung der Klimaziele entwickelt. Mit Hilfe der Mobilitäts- und Kraftstoffstrategie (MKS) sollen im Verkehr erdölbasierte Kraftstoffe durch klimafreundliche Alternativen ersetzt werden. Lösungen bieten Oberleitungen, batterieelektrische Fahrzeuge, Wasserstoff und Methan.
Das Problem ist längst erkannt: 2017 haben mehr als 60 Kommunen den zulässigen Jahresmittelwert für Stickstoffdioxid überschritten. Schadstoffe in der Luft erhöhen nachweislich das Risiko für Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Obwohl sich die Politik sonst immer so rührend um die Gesundheit ihrer Bevölkerung sorgt, wenn es um die Gefahren von Tabak oder die Anschnallpflicht geht, hält sie sich in diesem Fall heraus.
Anders in Madrid, wo ein Fahrverbot in der Innenstadt für eine Reduzierung der Luftverschmutzung gesorgt hat.
Lösungen im Schienenverkehr?
Es ist 15 Uhr, die Besucher warten gespannt auf den Star des Tages. "Hast du ihn schon gesehen?", "Ist er überhaupt da?", flüstert es von allen Seiten. Da kommt er schließlich. In einem blauen Hemd tritt er auf. Entspannt. Noch.
Sicherheit im städtischen Straßenverkehr steht für viele Berliner im Vordergrund ihres Interesses. Auch, weil sie selbst als Fahrradfahrer tagtäglich unterwegs sind. Der Verkehrsminister teilt ihre Sicherheitsbedenken und verweist auf das Gesetz, bei dem Pkw-Nutzer während des Überholvorgangs auf Fahrradfahrer einen Abstand von 1,50 Meter halten müssten. Lösungen zu fehlenden Fahrradwegen hat er gerade nicht parat.
Auf den Vorwurf, der Verkehrsminister sei ein Lobbyist der Autoindustrie, reagiert dieser mit großer Euphorie und Leidenschaft: Für ihn stehe der Schienenverkehr an erster Stelle. Dieser solle ausgebaut und im Sinne der Elektrifizierung modernisiert werden.
Eine zeitnaher Wechsel des Personen- und Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene würde Sinn ergeben. Besonders, wenn sich dadurch die Anzahl der Lkw und Pkw auf den Autobahnen verringern würde.
Diese schädigen die Umwelt zwar nicht mehr in den Maßen, wie es in den 1990ern der Fall war. Allerdings heben der wachsende Verkehrsaufwand im Straßengüterverkehr und die steigende Anzahl der Pkw-Nutzer die technologischen Fortschritte wieder auf.
Die mit Benzin und Diesel betriebenen Pkw, Lkw und Busse waren 2015 verantwortlich für 155,7 Millionen Tonnen CO2-Ausstoß. Bei der Bahn, den Binnenschiffen, Luftverkehr und Hochseebunkerungen waren es dagegen "nur" 41,6 Millionen Tonnen.
Die Frage ist, ob die Deutsche Bahn AG ein Interesse an einem Ausbau des Schienennetzes und damit einhergehenden Kosten hat. Denn den größten Teil seines Umsatzes erwirtschaftet sie nicht auf den Schienen, sondern im logistischen Bereich der Luftfracht, dem Schiffsverkehr und auf den Straßen.
Bereits 2009 schienen der damalige Verkehrsminister Ramsauer und Bahnchef Grube die Weichen Richtung Zukunft stellen zu wollen. Doch statt das Schienennetz in Deutschland auszubauen, konzentrierten sie sich auf "lukrative" Projekte in anderen Ländern.
Als Mann mit Weitblick stellte Ramsauer zudem klar, dass in zehn Jahren rund eine Million Elektroautos auf den deutschen Straßen fahren sollten. Im November 2019 kann die Bevölkerung prüfen, ob die Prophezeiung des Regierungspolitikers in Erfüllung gegangen ist.
Wer nicht aus der Geschichte lernt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen. Diese Endlosschleifen scheint es auch in der Politik zu geben.
Digitalisierung des Verkehrs
Die Sonne scheint, alle blicken auf Verkehrsminister Andreas Scheuer, der sich vor der Bühne für die Förderung von Start-ups ausspricht. Diese sollen die Digitalisierung des Verkehrs weiterentwickeln. Nicht nur das Elektroauto spielt dabei eine zentrale Rolle, sondern auch synthetische und regenerierbare Kraftstoffe.
Immer wieder erzählen die Experten an den Informationsständen, dass auf den Straßen der Zukunft nur noch Elektroautos fahren würden. Müssten. Doch nicht nur das: Von autonomen Elektroautos und -bussen ist die Rede. Aber wann? Zunächst müssten zehn Prozent aller Pkw auf den Straßen elektrisch sein, erst dann würde sich das Wirtschaftliche durchsetzen und kommerzialisiert.
Wie viele Jahre dauert diese Umstellung? Ob sie fünf, zehn oder zwanzig Jahre dauert, ist nicht bekannt. Im Zuge der Privatisierungen sind solche Entscheidungen dem Markt überlassen. Deren Regulierungen scheint die Handlungskraft der Politik unterlegen zu sein.
Aber sind auf diese Weise die erklärten Klimaziele rechtzeitig zu erreichen? Sollte die zeitliche Planung der Regierung so zuverlässig sein wie die des ehemaligen Verkehrsministers Ramsauer, wäre es sinnvoller, sich die Zukunft von einer Glaskugel zeigen zu lassen.
Auf viele Fragen gibt es keine Antworten. Die Politik und die Wirtschaft scheinen keinen zeitlichen Druck zu verspüren. Es wird gefördert, was das Zeug hält, aber Förderungen allein verhalten sich zur klimatischen Dringlichkeit wie die Bewässerung der Wüste mit einer Gießkanne.