Keine freie Wahlen in Afghanistan
Eine Demokratie im westlichen Sinne wird Afghanistan durch die Präsidentschaftswahl noch lange nicht
Am Tag nach der afghanischen Wahl scheinen alle zufrieden gewesen zu sein. In der UN-Vollversammlung und der Nato war die Rede von einem guten Tag für Afghanistan. Auch Bundeskanzlerin Merkel schloss sich der positiven Einschätzung an. Die Verlautbarungen waren sicherlich vorbereitet und vorhersehbar. Unter der Flut von Stellungnahmen kam sicherlich die Äußerung des CDU-Politikers Ruprecht Polenz der Realität am nächsten. Er kommentierte im Interview mit dem Deutschlandfunk die Wahlen: "Es ist natürlich etwas, was mit unseren Vorstellungen von Demokratie und Eigenentscheidung nicht vergleichbar ist, aber für Afghanistan trägt es dazu bei, Herrschaft zu legitimieren."
Auf die in der deutschen Bevölkerung populäre Forderung seines Parteifreundes Volker Rühe nach einem Abzugsplan für die Bundeswehr aus Afghanistan angesprochen (Zweifel an bewaffneter Wahlhilfe), antwortete Polenz:
Das mag sein, aber viele Menschen sagen im Unterschied sogar zu Volker Rühe, wir sollen die Soldaten jetzt sofort aus Afghanistan zurückholen. Das muss deshalb nicht der richtige Rat sein oder die richtige Forderung an die Politik, nur weil es viele sagen.
Ruprecht Polenz
Fragen von Krieg und Frieden unterlagen nie der Meinung des Demos und das soll nach Meinung von Polenz wohl auch so bleiben. Damit war er genau so ehrlich, wie mit seiner Charakterisierung der afghanischen Wahlen als Herrschaftslegitimierung. Trotzdem wäre es verfehlt, die Wahlen in Afghanistan als Farce oder Theater abzuqualifizieren. Denn die Legitimierung von Herrschaft gehört nun mal zum Wahlprozedere nicht nur Afghanistan.
Allgemeine statt freie Wahlen
Bei der Wahl am Hindukusch ging es darum, die Herrschaft der „guten“ Warlords zu legitimieren. Das sind nach der offiziellen Lesart diejenigen, die mit den internationalen Organisationen und dem Westen kooperieren. Die Kooperationsunwilligen werden mit dem Sammelbegriff Taliban klassifiziert, obwohl sie längst nicht alle dieser islamischen Gruppierung angehören.
Dass beide Fraktionen wenig mit Menschenrechten im Sinn haben, wird von der internationalen Gemeinschaft weitgehend akzeptiert. Diese spricht deshalb auch nicht von fairen und freien, sondern von allgemeinen Wahlen. Tatsächlich würde eine Wahl, wie sie in Afghanistan abgehalten wurde, in fast allen anderen Ländern zu Recht als undemokratisch gerügt. Das fängt schon damit an, dass auch im Lager der "guten Warlords", für die sowohl der amtierende Präsident Hamid Karsai als auch sein aussichtsreichster Herausforderer Abdullah Abdullah gehören, genügend Kandidaten für ein Kriegsverbrechertribunal versammelt waren.
Der bekannteste ist Raschid Dostum, der kurz vor den Wahlen im Triumph aus seinem kurzen türkischen Exil nach Afghanistan zurückkehrte und von Karsai hofiert wurde, weil er die Stimmen der usbekischen Ethnie mit bringt. Dafür sorgt Dostum mit eiserner Faust. Gegner im eigenen Lager werden ausgeschaltet, und wie er mit Feinden umgeht, machte er im Jahr 2001 deutlich, als er ca. 1500 tatsächliche oder vermeintliche Taliban in der afghanischen Wüste ermorden ließ (Die vergessenen Kriegsgefangenen, Das Massaker, das nicht sein darf). Jahre später hat das Massaker durch den preisgekrönten Film Road to Guantanamo international für Empörung gesorgt. Der Karriere von Dostum hat es nur kurzzeitig geschadet.
Er ist nicht der einzige Kriegsverbrecher im Lager Karsais. Mit Marschall Mohammed Fahim sorgte ein berüchtigter Kriegsherr der Nordallianz, wie die Islamisten und Warlords genannt wurden, die mit dem Westen zusammenarbeiten, für die Stimmen der tadschikischen Ethnie.
Neben der blutigen Vergangenheit der Figuren ist auch der Rückgriff auf das Stammesprinzip ein klarer Widerspruch zu demokratischen Wahlen. Jeder Verweis auf angebliche afghanische Traditionen ist falsch. Denn schon Ende der 70er Jahre hatte sich in Afghanistan eine politische Linke entwickelt, die genau mit diesen Traditionen brechen wollte. Nach ihrer Regierungsübernahme im Jahr 1978 geriet sie schnell in radikale Gegnerschaft mit den alten Clanstrukturen. Das Ergebnis ist bekannt. Während sich die Regierung mit der Sowjetunion verbündete, wurden die alten Mächte immer offener von den USA unterstützt. Nach dem sowjetischen Einmarsch wurde diese Unterstützung verstärkt. Im Kampf gegen die afghanische Regierung und die sie unterstützende Rote Armee gehörte für diese Aufständischen das Abbrennen von Schulen und Krankenstationen und die Ermordung Bauern, die sich an der Landreform beteiligten und von unverschleierten Frauen zu ihren wichtigsten Aktionen. Die westlichen Unterstützer schwiegen dazu, wie heute das Auftreten von berüchtigten Warlords als Stimmenfang akzeptiert wird.
Keine demokratischen Strukturen
Die Afghanistan-Korrespondentin Britta Petersen brachte die Fehlkonstruktion der westlichen Afghanistan-Politik auf den Punkt:
„Als Karsai von den USA 2001 rechtzeitig nach Afghanistan zurückgebracht wurde, um als siegreicher Kämpfer gegen die Taliban zum Übergangspräsidenten ernannt zu werden, hatte er wenig mehr zu bieten als seine Herkunft. Aus dem Stamm der Durrani-Paschtunen, zu dem auch die Königsfamilie gehört, rekrutiert Afghanistan seit Jahrhunderten seine Herrscher… Dabei hat auch der Westen es sich zu leicht gemacht. Während Karsai in der traditionellen Stammespolitik verhaftet bleibt, wurde nie ernsthaft versucht, moderne politische Strukturen in Afghanistan zu etablieren. Der Versuch, die Rolle der Parteien in der Verfassung zu verankern, scheiterte am Widerstand Karsais und Washingtons.“
Noch weniger sollten zivilgesellschaftliche Kräfte in der afghanischen Innenpolitik eine Rolle spielen. Politiker, wie die parteilose Abgeordnete Malalai Joya, die ihr Mandat verlor, weil sie die Kriegsherren und Menschenrechtsverletzter auch auf Seiten der Regierung kritisiert hatten, bekamen von der offiziellen Politik keine Unterstützung. Deswegen fordern afghanische Frauenrechtlerinnen auch den Abzug der internationalen Truppen. Sie erinnern daran, dass Karsai mit dem schiitischen Personenstandsgesetz die Rechte der Frauen massiv eingeschränkt hat. Doch da die afghanischen Wahlen der Herrschaftslegitimierung und nicht den Menschenrechten dienten, spielten auch die Frauenrechte keine Rolle.
Droht ein iranisches Szenario?
Trotzdem könnten die positiven Kommentare der internationalen Gemeinschaft verfrüht sein. Denn das Wahlprojekt im Sinne der Herrschaftslegitimierung ist durchaus noch bedroht. Nicht wegen verschwundener Stimmzettel, geschlossener Wahllokale etc., sondern, weil sich die beide Hauptkonkurrenten Karsai und Abdullah zum Sieger der Wahl erklärten, obwohl die offiziellen Ergebnisse erst für das Wochenende erwartet werden.
Nun besteht gerade der herrschaftslegitimatorische Effekt von Wahlen darin, dass ein Part seine Niederlage akzeptiert und sich in die Oppositionsrolle schickt. Wenn das nicht geschieht, droht ein Szenario wie in den letzten Wochen im Iran, wo sich die Elite nicht mehr auf das Prozedere der Herrschaftslegitimation verständigen konnte.
Tatsächlich gibt es zwischen den Präsidentschaftswahlen im Iran und in Afghanistan einige Parallelen. Dass sich zwei Kandidaten zu Sieger erklären, bevor die Stimmen überhaupt ausgezählt sein können, gehört ebenso dazu wie die Diskrepanz zwischen den Prognosen und den Siegesmeldungen. Karsai war tatsächlich in Führung gelegen, ohne dass er die absolute Mehrheit der Stimmen bekommen hätte. Eine dann notwendige Stichwahl wollte er auf alle Fälle vermeiden, weil sich dann neue Konstellationen ergeben und er doch noch der Wahlverlierer sein könnte. Zumal Karsai in den USA nicht mehr das volle Vertrauen genießt und dort manche einen Präsidenten Abdullah favorisieren. Spätestens nach Verkündigung des offiziellen Wahlergebnisses, der Wahlbeteiligung und der Reaktion des Unterlegenen wird sich zeigen, ob die Wahlen die Herrschaft legitimieren. Da gibt es auch noch genügend Druckmittel.
Was mit renitenten „Wahlverlierern“ passieren kann, zeigte sich bei der ebenfalls von internationalen Truppen bewachten Wahlen im Kongo. Der offiziell unterlegene Jean-Pierre Bemba wollte das Ergebnis nicht anerkennen, musste schließlich das Land verlassen und wurde mittlerweile vor den UN-Menschenrechtstribunal in Den Haag wegen Kriegsverbrechen seiner Milizen angeklagt. Sein Konkurrent Kabila, gegen den es auch gute Anklagegründe gäbe, ist weiterhin kongolesischer Präsident. Das sagt nichts darüber aus, wer die Wahlen gewonnen hat, sondern nur, wer aus Sicht der sogenannten internationalen Gemeinschaft für die Herrschaftslegitimation besser geeignet ist. Das dürfte in Afghanistan noch die Frage sein.