"Keynesianismus für die Reichen"

Werner Seppmann über Hartz IV und die politisch gewollte Armut in Deutschland - Teil 3

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Vor der Bundestagswahl im April 2002 war im Wahlprogramm der SPD zu lesen: "Wir bekennen uns zur besonderen Verantwortung gegenüber den Schwächeren in unserer Gesellschaft. Deswegen wollen wir im Rahmen der Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe keine Absenkung der zukünftigen Leistungen auf Sozialhilfeniveau." Nach der Wahl wurde im Dezember des gleichen Jahres mit Hartz IV genau das Gegenteil beschlossen. Begründet wurde dieser jähe Umschwenk der Sozialdemokratie seinerzeit mit wegbrechenden Steuereinnahmen. Nicht abgerückt wurde hingegen von dem Vorhaben, den Spitzensteuersatz von 53 auf 42 Prozent zu senken. Hierfür war im Haushalt offenbar genug Spielraum vorhanden. Was also auf der einen Seite weggenommen wird, wächst auf der anderen Seite hinzu.

Zu Teil 1: "Bettler und Obdachlose wurden wieder zu einem gewohnten Bild in den städtischen Zentren"

Zu Teil 2: "Auf Basis der Steuergesetze von 1998 wären über 50 Milliarden mehr in den Staatskassen gelandet"

Herr Seppmann, warum formiert sich gegen diese Politik kein nennenswerter Widerstand?

Werner Seppmann: Keine Frage, die soziale Widerspruchsentwicklung ist unübersehbar geworden und eigentlich müsste es Widerstand geben. Sollte man zumindest meinen. Eine Perspektive der Gegenwehr drängt sich ja geradezu auf. Faktisch herrscht jedoch politische Friedhofsruhe, weil gerade die am ärgsten Betroffenen sich resigniert zurückhalten. Es fehlt einer Bevölkerungsmehrheit nicht nur das profilierte Wissen über die Ursachen der sozialen Rückstufungs- und der alltagskulturellen Regressionstendenzen, sondern auch eine handlungsmotivierende Zuversicht, dass daran etwas zu ändern wäre. Es gehört zum Kennzeichen der gegenwärtigen Krise, dass, obwohl sie einen fundamentalen Charakter besitzt und ihre Konsequenzen weit über die rein ökonomischen Verwerfungen hinausweisen, sie von einer überwiegenden Mehrheit (besonders auch von den unmittelbar Betroffenen) als ein schicksalhaftes Ereignis begriffen wird.

Zwar existiert eine latente Kapitalismusskepsis und es artikuliert sich auch ein diffuses Unbehagen an den gegenwärtigen Zuständen. Aber vorläufig werden die eklatanten Probleme im Modus der politisch-manipulativen Sprachmuster als "Arbeitsplatzunsicherheit", "Globalisierung der Konkurrenzverhältnisse", "Altersarmut", "perspektivische Unsicherheiten" oder "Einkommensstagnation" rationalisiert und letztlich verharmlost.

Problem Gewerkschaften

Warum haben die Gewerkschaften nicht stärker gegen diese Entwicklung aufbegehrt?

Werner Seppmann: Die Gewerkschaften reagieren auch nicht viel anders als die Bevölkerungsmehrheit. Ihre Funktionäre bewegen sich bei ihrem Problemverständnis innerhalb eines abwiegelnden, die tatsächlichen Ursachenkomplexe verschleiernden Bewertungsraster. Von den ökonomischen Grundtendenzen, die diesen Problemfeldern zugrunde liegen, ist eben so selten die Rede, wie von den zu ihnen vermittelten Klasseninteressen.

Auch auf die Spaltungslinien, die mitten durch die Belegschaften verlaufen (den Kernbeschäftigten mit Festanstellungsstatus stehen Randbelegschaften gegenüber, die sich aus den verschiedenen Formen von temporär und prekär Beschäftigten zusammensetzen), haben sie noch keine wirksamen Antworten gefunden, so dass das Kapital die verschiedenen Gruppen von Arbeitnehmern gegeneinander ausspielen kann. Durch die krisenhaften Entwicklungen wird also die Kapitalmacht (zumindest vorübergehend) stabilisiert.

Aber warum? Macht man sich über den Grad der Gesellschaftskrise zu viele Illusionen?

Werner Seppmann: Wahrscheinlich. Bei den fragmentarisierten Formen des Problemverständnisses schwingt in der Regel die Vorstellung mit, dass die Krise einen vorläufigen Charakter habe. Das dürfte eine Illusion sein. In sozialer und zivilisatorischer Perspektive ist eine Abwärtsbewegung, ein Sog nach unten zu erkennen, deren Endpunkt noch nicht in Sicht ist - und auch deshalb reagieren die von der Krisen gebeutelten Menschen in der schon angedeuteten Weise fatalistisch.

Weil eine Perspektive progressiver Veränderung fehlt, fallen sie meist in eine Art Schockstarre. Wer arbeitslos wird, fühlt sich ebenso schuldig wie gedemütigt, sozial ausgegrenzt und überflüssig. Die psychische Belastung steigt mit dem Dauer der Arbeitslosigkeit. Es existiert die Tendenz, dass die Krisenopfer sich zurückziehen: ihre sozialen Kontakte nehmen ab, auch innerhalb der Verwandtschaft.

"Es verflüchtet sich die Fähigkeit, planend in die Zukunft zu blicken"

Weshalb?

Werner Seppmann: Bei Langzeitarbeitslosen, zerfallen viele Dinge, die für das bisherige Leben prägend und strukturierend waren. Es verflüchtet sich die Fähigkeit, planend in die Zukunft zu blicken oder auch nur den Alltag zu strukturieren. Es leidet das Selbstbewusstsein und die Selbstachtung - auch wenn noch Arbeitslosengeld bezogen wird und keine materielle Bedürftigkeit herrscht.

Die selbstunterdrückende Krisenverarbeitung ist auch eine der Ursachen dafür, dass die Betroffenen keinen politischen Faktor darstellen. Trotz der kollektiven Lage leben sie vereinzelt. Es gibt Ausnahmen, aber eine Vielzahl von Studien über die Sozialpsychologie der Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung belegt, dass die Hinnahme der häufigste Reaktionsmodus ist. Alle relevanten Untersuchungen belegen, dass die sozialen Auschlussprozesse psychische Deformationen und soziale Desintegrationstendenzen - und eben auch Anpassung hervorbringen.

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