Kinderarmut: "Die Leistungen kommen leider nicht bei allen Berechtigten an"

Peter Weiß. Bild: Claudia Thoma

Peter Weiß, Sprecher für Arbeitsmarkt und Soziales der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, über Kinderarmut, die prekäre Lage vieler Alleinerziehender und die Debatte um Hartz IV

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Herr Weiß, halten Sie das familienpolitische Kapitel im Koalitionsvertrag für das schwächste?
Peter Weiß: Nein, ich finde, das ist ein starkes Kapitel.
Sie sagten kürzlich im Bundestag: "Sozialpolitik, die diesen Namen auch verdient, muss zuallererst denjenigen zielgerichtet helfen, die der Hilfe bedürfen." Sie müsse das Gegenteil von "Gießkannenpolitik" sein...
Peter Weiß: ... So ist es!
Grüne, Linkspartei und Sozialverbände werfen der schwarz-roten Koalition ebendies vor. Das Geld komme nicht da an, wo es gebraucht werde.
Peter Weiß: Ich halte es nicht für klug, Familien gegeneinander auszuspielen. Fest steht: Das Gesamtpaket ist eine der größten Entlastungen, die Familien in Deutschland je erlebt haben. Wir erhöhen das Kindergeld und heben den Kinderfreibetrag an, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Davon profitieren auch einkommensstarke und vermögende Familien.
Peter Weiß: Das ist richtig. Es geht ja nicht darum, ausschließlich Familien zu helfen, die wenig Geld haben, sondern allen Eltern, die Kinder erziehen, eine finanzielle Entlastung zuteilwerden zu lassen.
Es sei kein Gesamtkonzept zur Bekämpfung von Kinderarmut erkennbar, so die Kritik.
Peter Weiß: Vielleicht sollten die Damen und Herren den Koalitionsvertrag noch einmal genauer lesen.

Die Bemessung der Regelsätze erfolgt nach einem präzisen Verfahren

An vielen Familien gehen die geplanten Freibetrags- und die Kindergelderhöhungen vorbei, denn sie müssen die Erhöhungen nach wie vor mit Hartz IV und dem Unterhaltsvorschuss verrechnen. Warum ist das auch Ihrer Sicht sinnvoll?
Peter Weiß: Wer von Erwerbsarbeit lebt, der bezieht ein Gehalt, dessen Höhe sich nicht ändert, wenn er Kinder hat. Ob ein, zwei oder drei Kinder - das Gehalt bleibt gleich. Kindergeld und Kinderfreibetrag spielen für Arbeitnehmer daher eine gewichtige Rolle. Wer dagegen Arbeitslosengeld ll bezieht, der erhält für jedes Kind einen zusätzlichen festen Regelsatz ausgezahlt, zudem gibt es Zuschüsse.
Für Kinder und Jugendliche zahlt der Staat je nach Alter zwischen 240 und 316 Euro. Sind die Regelsätze zu niedrig?
Peter Weiß: Die Bemessung der Regelsätze erfolgt nach einem präzisen Verfahren, bei dem mit der sogenannten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) genau ermittelt wird, wie viel Geld die Haushalte in Deutschland zur Verfügung haben - und wofür sie ihr Geld ausgeben. Ich will diese Berechnungsmethode nicht infrage stellen, sie ist präziser als alles, was wir vorher hatten. Man sollte im Übrigen nicht verschweigen, dass Alleinerziehende und behinderte Menschen, um nur zwei Gruppen zu nennen, zusätzlich monatliche Zulagen bekommen für den sogenannten "Mehrbedarf".
Anders gefragt: Bietet das System Kindern aus Hartz-IV-Familien ausreichend Chancen?
Peter Weiß: Nicht genug. Deshalb gehen wir da ja noch mal ran. Das Wichtigste ist allerdings, die Eltern in Erwerbsarbeit zu vermitteln. Das hilft den Kindern auf lange Sicht mehr als alles andere. Nur nebenbei: Wir erhöhen auch den Kinderzuschlag für einkommensschwache Familien.
Aber was haben Alleinerziehende von alledem, wenn der Unterhaltsvorschuss als zusätzliches Einkommen angerechnet wird?
Peter Weiß: Da sprechen Sie einen Punkt an, der mir sehr wichtig ist. Ich will da nicht herumreden: Gerade für Alleinerziehende wollen und müssen wir mehr tun. Da sind wir nach wie vor nicht gut aufgestellt in Deutschland.
Was heißt das konkret?
Peter Weiß: Es gibt Alleinerziehende, die nur deshalb arbeitslos sind, weil sie keine Betreuung für ihre Kinder finden. Das ist ein Riesenproblem. Ein Vormittagsjob im Supermarkt: das geht gerade noch. Aber was machen diejenigen, die in der Zeit von 16 bis 22 Uhr arbeiten sollen? Da muss auch die Zusammenarbeit zwischen den Jobcentern und der Jugendhilfe verbessert werden.

"Die großen familienpolitischen Reformen sind immer unter CDU-Ministerinnen oder -Ministern eingeführt worden"

Hat die CDU das Thema Kinderarmut in den vergangenen Jahren vernachlässigt?
Peter Weiß: Ich würde das Gegenteil behaupten. Die großen familienpolitischen Reformen sind immer unter CDU-Ministerinnen oder -Ministern eingeführt worden. Denken Sie an das unter der damaligen Familienministerin Ursula von der Leyen auf den Weg gebrachte Elterngeld. Oder den Anspruch auf einen Kitaplatz. Oder auch das Bildungs- und Teilhabepaket. All das hat dazu beigetragen, dass es Eltern und Kindern in Deutschland besser geht.
Die Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets, wie Zuschüsse für Schulessen, Nachhilfe, Musikunterricht oder Vereinssport, werden nur von gut einem Viertel der Berechtigten genutzt.
Peter Weiß: Ich gebe zu, das ist ein kompliziertes Konstrukt. Da läuft nicht alles rund, die bürokratischen Hürden sind offensichtlich zu hoch. Deswegen ziehen wir ja auch Konsequenzen, wir wollen es vereinfachen, kurz: weniger Bürokratie, mehr Information. Zudem werden die Leistungen erhöht. Nur zwei Beispiele: Die Eigenbeteiligung beim Schulmittagessen wird ebenso wegfallen wie der Eigenbetrag bei der Schülerbeförderung. Ich könnte ihnen noch viele weitere Punkte aufzählen.
Sie sagen, Ihre Partei nehme das Thema Kinderarmut seit jeher sehr ernst und habe da zuletzt vieles auf den Weg gebracht. Andererseits sprechen Sie von großen Mängeln, die Sie beseitigen wollen. Wie passt das zusammen?
Peter Weiß: Noch mal: Das Bildungs- und Teilhabepaket war ein erster Schritt, der die Situation vieler Kinder aus einkommensschwachen Familien verbessert hat. Nun stellen wir fest, dass es sinnvoll ist, in bestimmten Punkten nachzujustieren. Ich sehe da keinen Widerspruch.
Die Union regiert seit 2005, das Wort Kinderarmut kam im letzten Koalitionsvertrag kein einziges Mal vor. Nun sagt die Kanzlerin, Familien zu stärken und zu entlasten habe höchste Priorität - Kinderarmut dürfe es in einem so reichen Land wie Deutschland nicht geben. Herr Weiß, wäre da nicht auch Selbstkritik angebracht?
Peter Weiß: Das stimmt nicht ganz. Im Koalitionsvertrag der 18. Wahlperiode findet sich folgender Satz: "Junge Menschen, deren Eltern seit Jahren von Grundsicherung leben, sollen gezielt Unterstützung bekommen." Wir haben das auch mit dem Programm "Respekt" und einer gesetzlichen Regelung, die dieses Programm verstetigt, umgesetzt.
Aber?
Peter Weiß: Gleichwohl sagte ich ja bereits, wir haben erkannt, dass die Leistungen leider nicht bei allen Berechtigten ankommen. Deshalb bin ich dafür, dass wir das weiter ausbauen, also noch mehr investieren in Sachleistungen. Ebenfalls wichtig: Nachdem wir bereits einen Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz eingeführt haben, führen wir nun einen auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter ein. Das ist ein ehrgeiziges Ziel, das eine Menge Geld kostet.
Der Deutsche Städte- und Gemeindebund hält die Pläne für unrealistisch. Die Kommunen könnten dies inhaltlich, organisatorisch, personell und finanziell nicht leisten, heißt es. Es gebe zum Beispiel nicht genug Bewerber, um eine Ganztagsbetreuung in Grundschulen und Kitas zu gewährleisten. Redet die Bundesregierung sich die Lage schön?
Peter Weiß: Der Deutsche Städte- und Gemeindebund war auch bei der Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Kitaplatz skeptisch. Natürlich verlangt dieses ehrgeizige Ziel große Anstrengungen. Und ohne einen Rechtsanspruch wird sich gar nichts ändern.

"Das Versprechen, dass Aufstieg durch Bildung und Arbeit möglich ist, kann nicht immer gehalten werden"

Was spricht aus Ihrer Sicht gegen die Einführung einer sogenannten Kindergrundsicherung?
Peter Weiß: Man kann überlegen, für Kinder ein eigenes Sicherungssystem einzuführen.
Die Mehrheit Ihrer Fraktion sieht das anders, richtig?
Peter Weiß: Soweit sind wir nicht. Mir sind bisher keine konkreten Überlegungen bekannt.
Teile der SPD sind für die Einführung einer Kindergrundsicherung, ebenso die Grünen und die Linkspartei ...
Peter Weiß: ... Ich halte es lediglich für überlegenswert, mehr habe ich nicht gesagt. Eins gebe ich zu bedenken: Derjenige, der in einem Drei-Personen-Haushalt lebt, hat pro Person geringere Kosten als derjenige, der alleine lebt: Stichworte Miete, Nebenkosten, Lebensmittel. Derlei unterschiedliche Lebenssituationen sollten bei der Auszahlung einer steuerfinanzierten Leistung stets berücksichtig werden.
Nach Statistiken der Bundesagentur für Arbeit ist im vergangenen Jahr jeder Siebte unter 18 Jahren auf die Unterstützung der Jobcenter angewiesen gewesen. Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
Peter Weiß: Das Versprechen unserer Gesellschaft, dass Aufstieg durch Bildung und Arbeit möglich ist, kann nicht immer gehalten werden. Deshalb haben wir entschieden: Wir brauchen für die Jugendlichen, die es besonders schwer haben, spezielle Hilfen.
Was meinen Sie konkret?
Peter Weiß: Unser Programm "Respekt" aus der letzten Wahlperiode habe ich bereits angesprochen. Wir Koalitionspartner haben uns darauf verständigt, für eine bundesweite Ermöglichung solcher Hilfen ab 2019 pro Jahr 50 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen. Dabei geht es aber nicht nur um Geld, sondern darum, die Rückkehr in die Schule, beziehungsweise den Übergang von der Schule in die Berufsausbildung, zu begleiten. Die Jugendlichen müssen eine echte Chance sehen, aus ihrer schwierigen Situation rauszukommen und ein selbstbewusster Teil unserer Gesellschaft zu werden.
Noch einmal: Wie genau stellen Sie sich das vor?
Peter Weiß: Die Jugendlichen werden ja nicht zu ALG 2-Beziehern, weil es keine Jobangebote oder keine Arbeit gibt, nein, die Probleme liegen da oft im persönlichen Bereich, zum Beispiel in der Familie. Klar ist: Wir wollen und dürfen diese Menschen nicht aufgeben.
Wir brauchen deshalb Menschen, die zu ihnen ein Vertrauensverhältnis aufbauen und sie dann dabei unterstützen, bestehende Schwierigkeiten in ihrer aktuellen Lebenssituation zu überwinden. Die Unterstützung erstreckt sich von sozialpädagogischen Hilfen über die Vermittlung in therapeutische Behandlungen bis zur Klärung der Wohnsituation und der finanziellen Situation. Kurz: Wir sollten nicht nur die Einkommensarmut der Eltern im Blick haben, sondern zur Kenntnis nehmen, dass wir es immer häufiger mit sogenannten "Sozialhilfekarrieren" zu tun haben.

"Es gibt zurzeit einen regelrechten Krieg um Begriffe in der SPD"

Ist die aktuelle Debatte um Hartz IV da hilfreich?
Peter Weiß: Ich halte sie für wenig hilfreich, weil da so einige Begriffe durcheinandergeworfen und neue erfunden werden, hinter denen in Wahrheit nichts Neues steckt.
Sie meinen das "solidarische Grundeinkommen", das der Berliner Bürgermeister Michael Müller in die Debatte warf?
Peter Weiß: Zum Beispiel, ja.
Was genau stört Sie daran?
Peter Weiß: Es wäre nichts anderes als die Zusammensetzung aus Arbeitslosengeld II und Hinzuverdienst. Also etwas, das wir bereits hatten und zum Teil heute noch haben. Da wird eine angebliche Neuigkeit in die Welt geblasen - und ganz Deutschland diskutiert. Ich kann mir gut vorstellen, dass der eine oder andere Betroffene dieses ganze Gerede als zynisch empfindet.
Wie erklären Sie sich den Vorstoß Müllers, zwei Monate nach Vorstellung des Koalitionsvertrages?
Peter Weiß: In der SPD ist nach der Bundestagswahl einiges durcheinander geraten. Einige Damen und Herren wollen die derzeitige Lage nutzen, um sich zu profilieren. Es gibt zurzeit einen regelrechten Krieg um Begriffe. Das solidarische Grundeinkommen, das Herr Müller nennt, riecht doch sehr stark nach dem bedingungslosen Grundeinkommen, das von bestimmten Gruppen in Deutschland präferiert wird. Schaut man genauer hin, sieht man, dass beide Konzepte sich stark voneinander unterscheiden.
Aber?
Peter Weiß: Die Unterschiede spielen zunächst einmal keine Rolle. Es wird offenbar versucht, die Leute, die das bedingungslose Grundeinkommen toll finden, mit schillernden Begriffen auf die eigene Seite zu ziehen. Bündnisstrategien spielen da eine große Rolle. Verbündete zu finden, auch in der Partei, darum geht es.
Die stellvertretenden Parteivorsitzenden Malu Dreyer und Ralf Stegner lobten Müllers Vorstoß, Vizekanzler Olaf Scholz dagegen lehnt die Abschaffung von Hartz IV ab.
Peter Weiß: Jeder sieht, bei den Sozialdemokraten herrscht eine große Verwirrung um den künftigen Kurs. Dass einige Spitzenpolitiker jetzt versuchen, sich mit neuen und sympathisch klingenden Vorschlägen in Stellung zu bringen, spricht doch nur dafür, dass in der SPD - mal wieder - Machtkämpfe ausgetragen werden. Aber solange sich alle an die gemeinsamen Vereinbarungen halten, können wir als Union damit leben. Die Sozialdemokraten müssen für sich klären, ob es sinnvoll ist, zu Beginn einer Legislaturperiode einen derartigen Schlingerkurs zu fahren.
Halten Sie die Vorschläge für kompletten Unfug?
Peter Weiß: Nein. In gewisser Weise habe ich Sympathien für den Vorschlag. Es war ein Fehler der Regierung Schröder, das Arbeitslosengeld II, was ja laut Gesetzestext eine Grundsicherung für Arbeitssuchende sein soll, so zu konstruieren, dass viele Kinder auch in dieses System fallen. Diese gehören da schon qua Definition nicht hin, denn sie sind nicht arbeitssuchend.

"Der Eindruck, es lohne sich nicht zu arbeiten, ist fatal"

Laut Ihrem Parteikollegen Kai Whittaker wäre das "solidarische Grundeinkommen" Lohndumping auf Kosten der Schwächsten. Er nennt es "unsozial".
Peter Weiß: Je nachdem, welcher aktuellen Äußerung man folgt, besteht diese Gefahr durchaus. Auf jeden Fall aber müssen wir klug überlegen, mit welchen Maßnahmen wir den wirklich Hilfsbedürftigen auch tatsächlich helfen, ihren Weg zurück auf den Arbeitsmarkt zu schaffen.
Herr Weiß, wird in diesen Tagen zu wenig über diejenigen gesprochen, die den Sozialstaat finanzieren?
Peter Weiß: Das ist in der Tat ein Problem. Auch diejenigen mit einem geringen Einkommen tragen mit ihren Steuerabgaben das Gesamtsystem. Die Bereitschaft, ein solches System mitzutragen, also solidarisch zu sein, hängt auch davon ab, ob sich Leistung tatsächlich lohnt. Der Eindruck, es lohne sich nicht zu arbeiten, ist fatal. Wenn das Lohnabstandsgebot nicht mehr eingehalten wird, besteht dringender Handlungsbedarf, dann bricht nämlich die Akzeptanz zusammen. Dieser Aspekt wird in der aktuellen Diskussion viel zu wenig beachtet. Ich weiß aus Gesprächen mit Bürgern, dass es genau das ist, was viele umtreibt.
Wie ist Ihre Einschätzung, wird es Hartz IV in fünf Jahren noch geben?
Peter Weiß: Das Sozialgesetzbuch Zwei wird es, allerdings in weiter verbesserter Form, auch in fünf Jahren noch geben.