Kindheit und Jugend unter Hartz IV
Die aktuell diskutierte Kinder- und Jugendarmut ist die direkte Folge von Hartz IV
Mehr als 2,5 Millionen der ca. 15 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland leben auf Sozialhilfe- bzw. Hartz-IV-Niveau. Das ist das Ergebnis der Arbeitsmarktstatistik der Bundesanstalt für Arbeit aus dem Jahr 2006. Dort wurden erstmals Kinder und Jugendlichen in Hartz IV-Bedarfsgemeinschaften gesondert aufgeführt.
Von alarmierenden Zahlen sprach der Präsident des Kinderschutzbundes Heinz Hilgers. Sie hätten selbst seine pessimistischen Erwartungen übertroffen. Dabei galt der Kinderschutzbund bisher immer als eine Organisation, die mit ihren stetigen Warnungen vor der Kinderarmut für schlechte Stimmung in Zeiten des Wirtschaftsaufschwungs sorgte. Wo die Wirtschaft boomt und wächst, will man von denen, die weiterhin in Armut leben, nicht gerne reden.
Jetzt stellt sich heraus, dass selbst die Zahlen des Kinderschutzbund noch zu positiv waren. Er ging nach Schätzungen von ca. 2,2 Millionen Menschen unter 18 Jahren aus, die in Deutschland unter Bedingungen von Hartz IV oder dem Asylbewerberleistungsgesetz leben müssen.
Keine neue Erkenntnis
Neu sind die Meldungen, die jetzt wieder Schlagzeilen machen, nun wahrlich nicht. Sozialhilfeeinrichtungen wie die Caritas oder die Arbeiterwohlfahrt berichteten immer wieder, dass Kinder und Jugendliche hungrig zur Schule gehen müssten oder nicht an Klassenfahrten teilnehmen könnten, weil ihnen das Geld für den Eigenbeitrag fehlt. Wenn solche Meldungen überhaupt zur Kenntnis genommen wurden, dann unter der Rubrik Nachrichten aus der Unterschicht. Da schwang immer die Vorstellung mit, dass die ja selber an ihrer Lage schuld sei.
Auch offizielle Organisationen haben immer wieder über die neue Armut berichtet. Als Beispiel sei nur an die im März 2005 veröffentlichte UNICEF-Studie erinnert, die in einem WDR-Beitrag und auch auf Telepolis (Arme Kinder in reichen Ländern) vorgestellt wurde. Dort wurde vor steigender Kinderarmut in den reichen Ländern gewarnt. Mit Blick auf Deutschland hieß es, dass hier die Zahl der Kinder- und Jugendarmut mit 2,7 Prozent sogar noch mehr gestiegen sei, als in den meisten anderen Industrieländern.
Allerdings ist auch diese Studie noch von wesentlich niedrigeren Zahlen ausgegangen, als sie jetzt durch die BA-Statistik bekannt geworden sind. So hieß es in der UNICEF-Studie, dass in Deutschland 1,5 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren in Familien aufwachsen, die mit weniger als der Hälfte des Durchschnittseinkommens auskommen müssen. In Westdeutschland habe sich die Kinderarmut seit 1989 mehr als verdoppelt und lag im Jahr 2001 bei 9,8 Prozent, in Ostdeutschland bei 12,6 Prozent. Die unterschiedlichen Zahlen sind zum Teil den unterschiedlichen Kriterien geschuldet, die den Untersuchungen zugrunde gelegt wurden. Anderseits hat sich die Situation für Kinder und Jugendliche unter Hartz IV in der letzten Zeit gravierend verschlechtert.
Leinenzwang für Jugendliche
Das war aber vom Gesetzgeber gewollt und wurde von vielen Erwerbsloseninitiativen bundesweit als Leinenzwang für Jugendliche heftig kritisiert. Damit waren Bestimmungen gemeint, die Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis zum 25. Lebensjahr, die Hartz-IV beziehen, eine eigene Wohnung verwehren. Die DGB-Jugend Brandenburg schrieb in einer im letzten Jahr erschienenen Broschüre über die Folgen von Hartz IV:
Jugendliche zwischen 15 und 25 Jahren werden ganz besonders ihren Willen zur Beendigung der Arbeitslosigkeit in Sachen Mobilität, Flexibilität und Anspruchslosigkeit bei Arbeitsniveau und Bezahlung unter Beweis zu stellen haben. Unter Androhung harter Sanktionen wird fortan gefördert, doch im Wesentlichen gefordert.
Aus Kreisen der CDU/CSU, aber auch der SPD wurden die besonderen Verschärfungen damit legitimiert, dass so dass Anspruchsdenken bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen überwunden werde und sie so veranlasst würden, jede Arbeit anzunehmen.
Wie diese Bestimmungen bundesweit umgesetzt wurden, kann man seit einigen Monaten in einer Publikation nachlesen, in der Mitarbeiter der Berliner Kampagne gegen Zwangsumzüge die Alltagspraxis eines Lebens unter Hartz IV untersuchen. Es werden Beispiele benannt, wo Jugendliche und junge Erwachsene mit juristischen Mitteln eine eigene Wohnung einzuklagen versuchen, um einem Elternhaus zu entkommen, wo es nur noch Streit gibt. Es werden Fälle von Jugendlichen aufgelistet, die schon eine eigene Wohnung hatten und durch Verweigerung der Mietkostenübernahme gezwungen wurden, zu ihren oft unter äußerst prekären Verhältnissen lebenden Eltern zurückzuziehen.
Auch die Leistungen für Kinder (Nur Junkfood für Hartz 4-Kinder?) wurden unter Hartz IV gesenkt, wie der Sozialwissenschaftler Rainer Roth betont:
2005 wurde der Regelsatz der 7- bis 14-Jährigen von 65 auf 60% des Eckregelsatzes gekürzt. Wäre er bei 65% geblieben, würde er heute 224 Euro betragen, nicht 207 Euro. Vor Hartz IV waren die Regelsätze von Schulkindern von 7 bis 14 Jahren 30% höher als die von Säuglingen, bei Alleinerziehenden 20%. Heute bekommen 7- bis 14-Jährige genau so viel wie Säuglinge. Wäre es beim alten Zustand geblieben, müsste der Regelsatz von Schulkindern unter 15 schon mindestens 269 Euro betragen statt 207 Euro.
Wenn der Eckregelsatz mit Einführung von Hartz IV mit bis dahin geltenden Prozentsätzen der regelsatzrelevanten Verbrauchsausgaben festgesetzt worden wäre, hätte er erheblich höher sein müssen. Das wiederum führte ebenfalls zu einer relativen Senkung der Kinderregelsätze, denn je höher der Eckregelsatz ist, desto höher sind auch die Kinderregelsätze.
Jahrestag der Erfindung der Angst
Deswegen hat die Kinder- und Jugendarmut sehr viel mit einem 5. Jahrestag zu tun, der von der Tageszeitung als Erfindung der Angst bezeichnet wurde. Am 16. August 2002 legte man im Berliner Dom feierlich die Grundlagen für die Hartz-Gesetze. Bei dem Festakt stellte man die Ergebnisse der Hartz-Kommission vor, die als Revolution auf dem Arbeitsmarkt gefeiert wurden.
Der Berliner Theaterregisseur und Publizist Antonin Dick hat das weniger beachtete Jubiläum der Einsetzung der Kommission im Februar 2002 zum Anlass genommen, sich unter dem Titel 13 Täuschungsmodule genauer mit der Zusammensetzung des Gremiums zu befassen.
Reicht es für ein Minireförmchen?
Pünktlich zum Jahrestag der Inauguration von Hartz IV stieg die Sensibilität für das Leben unter Hartz IV. So wurde die Absicht des Gubener Bürgermeisters Klaus-Dieter Hübner (FDP), Mietschuldnern ein ausrangiertes Asylbewerberheim, das aus Baracken mit Gemeinschaftsküche und Massentoiletten besteht, als Unterkunft anzubieten, skandalisiert. Unter den Betroffenen sind viele kinderreiche Hartz IV-Empfänger. Dass unter diesen Umständen bis vor fünf Jahren Asylbewerber, darunter auch viele Familien mit Kindern, leben mussten, regte allerdings kaum jemand auf.
Auch das Interesse an der Armut von Kindern und Jugendlichen unter Hartz IV wird bald wieder abklingen. Eine generelle Revision der Hartz IV-Gesetzgebung ist von den Parteien der großen Koalition weiterhin nicht vorgesehen. Vom Bundesfamilienministerium sind besondere Zuschläge für Geringverdiener mit Kindern ins Gespräch gebracht worden. Sie sollen so davor bewahrt werden, Hartz IV beantragen zu müssen. Nach den Vorstellungen des Ministeriums sollen davon ca. 530.000 Kinder profitieren. Das ist nur ein Bruchteil der 2,5 Millionen Kinder und Jugendlichen in Armut.
Doch selbst diese bescheidenen Pläne sind noch nicht spruchreif. Die genauen Details werden von den unterschiedlichen Ressorts noch debattiert und stehen unter dem Finanzierungsvorbehalt. Dass heißt, wenn der Finanzminister den Daumen senkt, wird die Reform storniert oder zurecht gestutzt. So ist es noch fraglich, ob die Debatte über Kinder- und Jugendarmut wenigstens diese Minireförmchen auf den Weg bringt.