Kleine Frau mit großer Wirkung: Baruch dayan ha'emet, Esther Bejarano!
Seite 3: Das Hitler-Bild brannte lichterloh
Etwa ein halbes Jahr später wurde Esther im Rahmen eines Programms des Internationalen Roten Kreuzes in das Frauen-KZ Ravensbrück verlegt. Doch bevor sie ihre Reise antreten konnte, musste sie eine ärztliche Untersuchung über sich ergehen lassen - bei Dr. Mengele. In Ravensbrück wurde sie als Zwangsarbeiterin in einem Siemens-Werk eingesetzt und kurz vor Kriegsende auf den Todesmarsch geschickt. Gemeinsam mit einigen anderen Frauen gelang ihr die Flucht und sie hatten Glück und trafen auf sowjetische Soldaten, die die Tätowierungen auf ihren Armen erkannten. Diese brachten die jungen Frauen in einem kleinen Ort in einem Gasthaus unter und nach einer Ruhepause trafen sie sich im Saal und plötzlich war das Martyrium vorbei, wie Esther Bejarano beschrieb:
Während wir so gemütlich zusammen saßen hörten wir auf der Straße plötzlich großen Jubel. Wir liefen alle auf die Straße und sahen, wie die Rote Armee einmarschierte. Die amerikanischen und russischen Soldaten begrüßten sich und lagen sich lachend in den Armen. Die russischen Soldaten berichteten, dass der Krieg vorbei und Hitler tot sei, da waren wir alle glücklich. Ein russischer Soldat holte aus einem Haus ein riesig großes Bild von Adolf Hitler und stellte es mitten auf den Marktplatz. Alle stellten sich rings um das Bild. Ein amerikanischer und ein russischer Soldat zündeten es gemeinsam an. Das Hitler-Bild brannte lichterloh, die Soldaten und wir Mädchen tanzten drum herum und ich spielte Akkordeon dazu. Auch dieses Bild werde ich nie vergessen.
Der 8. Mai 1945 blieb ihr Leben lang ein wichtiges Datum für Esther Bejarano:
Für mich bedeutet dieser Tag die Befreiung der Menschheit von der Geißel des deutschen Faschismus. Ich sage deshalb des "deutschen Faschismus", weil er das grausamste System war, das die menschliche Gesellschaft je hervor gebracht hat - geprägt durch den extremen Antisemitismus. Kein anderer Faschismus hat "Rassentheorien" entwickelt und "Rassengesetze" erlassen.
Deshalb kämpfte sie lange für den 8. Mai als Gedenktag:
Wir Überlebenden fordern, den 8. Mai zum nationalen Feiertag zu ernennen. Das beinhaltet gleichzeitig, sich endlich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das ist unser Beitrag zu der notwendigen gesellschaftlichen Diskussion über den deutschen Faschismus, den von damals genauso wie den von heute.
Auf ins gelobte Land
Ihre Wege führten sie über Bergen-Belsen, damals ein Deplaced-Persons-Camp, zum Gehringshof in die Nähe von Fulda, ebenfalls ein Deplaced-Persons-Camp, mit einer Zwischenstation im Hauptquartier der US-Streitkräfte in Frankfurt. Den größten Teil der Strecke legte sie zu Fuß zurück. In Frankfurt hoffte sie Hinweise auf den Verbleib ihres Bruders Gerd zu bekommen, der vor dem Krieg in die USA geschickt worden war. Tatsächlich hatte er sich den US-Streitkräften angeschlossen und Esther konnte ihm einen Brief schicken. Ebenso ihrer Schwester Tosca in Palästina. Beide luden sie ein, zu ihnen zu kommen. Esther entschied sich, die Reise nach Palästina anzutreten. Von Fulda aus ging es zunächst nach Frankfurt, dann mit dem Zug nach Marseille und von dort aus nach Palästina.
Auf dem Schiff erhielt Esthers Freude auf das gelobte Land einen ersten Dämpfer: Die Shoa-Überlebenden, die nach Palästina auswandern wollten, waren Reisende zweiter Klasse, die besten Plätze wurden den zahlenden Passagieren zugeteilt. Die Schlafplätze der Flüchtlinge waren im Unterdeck, dort war eine schreckliche Hitze und eine furchtbar stickige Luft, die Esthers Kopfschmerzen, die sie damals sowieso ständig hatte, noch verstärkte. Esther setzte sich einfach über die Regeln hinweg und platzierte sich mit einem Schlafsack, den sie geschenkt bekommen hatte, auf ein leeres Plätzchen im Oberdeck. So waren auch die Nächte zu überstehen.
Am 15. September 1945 legte das Schiff in Haifa an. Voller Erwartung auf ein neues Leben gingen die Menschen von Bord, doch dann kam der große Schock: Die Flüchtlinge wurden in Athlit, ein mit Draht umzäuntes Auffanglager, eingewiesen. Esther erinnerte sich:
Wir hatten uns natürlich vorgestellt, dass wir gebührend empfangen würden. Schließlich hatten nicht viele Auschwitz überlebt. Wir erwarteten, dass uns alle wohl gesonnen waren. Außerdem dachten wir, dass unsere Verwandten im Hafen auf uns warten würden.
Doch daraus sollte nichts werden. Statt des roten Teppichs gab es einen Drahtzaun:
Wir wurden gar nicht richtig empfangen, sondern kamen in ein Lager. Dort waren wir erst einmal ein paar Tage in Quarantäne. Die Begrüßung unserer Glaubensschwestern und -brüder in Palästina war nicht eben überwältigend. Sie haben uns nicht eben das Gefühl vermittelt, willkommen zu sein. Wir wurden von einer Ärztin untersucht, die mir gleich eröffnete, ich sei eine Missgeburt, denn ich hätte ein gekrümmtes Rückgrat. Das hatte mir ja noch nie jemand gesagt. Offen gestanden fühlte ich mich auch nicht als Missgeburt.
Nachdem Zwangsuntersuchung und Quarantäne überstanden waren, begann der Lageralltag, von dem niemand wusste, wie lange dieser Zustand dauern sollte. Die ersten Flüchtlinge bekamen Besuch von Verwandten, doch statt Umarmungen in der angenehmen Atmosphäre einer Empfangshalle mussten alle mit Händeschütteln durch den Stacheldrahtzaun vorlieb nehmen. Hinzu kam, dass die Verwandten sich jahrelang nicht gesehen und sehr verändert hatten. Vor jeder Begrüßung stand das Begutachten der Außenstehenden der Menge innerhalb des Lagers. "Wir kamen uns vor wie Affen im Käfig, die besichtigt werden."
Endlich kam er der ersehnte Tag - und nach acht Jahren Trennung konnten ihre Schwester Tosca und ihr Schwager Hans Lebrecht sie abholen:
"Zwanzig Jahre war ich nun, vor mir lag ein neues Leben...
Das Klima bekam ihr nicht
Dieses Leben brachte tatsächlich viel Neues: Eine Ausbildung zur Sopranistin und neue Bekanntschaften - unter anderem die eines jungen Mannes namens Nissim, der der Vater ihrer Tochter Edna und ihres Sohnes Joram werden sollte. Ganz so romantisch, wie sie sich das immer ausgemalt hatte, war das Leben in Palästina, später in Israel allerdings nicht. Das Klima bekam ihr nicht - weder das meteorologische noch das politische. Vor allem Nissim, überzeugter Kriegsgegner, litt unter der Situation in Israel. Kriegsdienstverweigerung gab es nicht, an die Front wollte er nicht nach mehrfachen Einsätzen als Soldat. Also blieb nur die Auswanderung. Die Möglichkeiten waren indes begrenzt, denn Nissim war in Palästina geboren.
Als Bekannte, die diesen Schritt gewagt hatten, positiv aus "dem Land, in dem alles ganz anders war als vor dem Krieg" berichteten, willigte Esther schließlich ein, nach Deutschland überzusiedeln. Aber sie wollte auf gar keinen Fall nach Saarbrücken oder Ulm, dort würde sie alles an ihre Eltern und ihre Schwester Ruth erinnern, die alle von den Nazis ermordet worden waren. Die Wahl fiel schließlich auf Hamburg, wo die kleine Familie am 1. Juni 1960 ankam.
Israel blieb jedoch immer ihre große Liebe - und ihre große Sorge. Als Mitbegründerin des jüdischen Staates kritisierte sie Zeit ihres Lebens die dortige Regierungspolitik, setzte sich für die Rechte der Palästinenser ein, unterstütze die Free-Gaza-Flotille, die "Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden" sowie die Kampagne "Boykott, Investitionsentzug, Sanktionen" (BDS). Viele Jahre lebte Esther jedoch zunächst einfach ihr Leben, organisierte den Familienalltag, führte mit Nissim eine Reinigung und schließlich eröffnete ihr Mann mit einem Bekannten aus der jüdischen Gemeinde im Umland eine Diskothek namens Blackbird, die anfangs richtig gut lief.
Mitte bis Ende der 1960er-Jahre war die Zeit, in der Berühmtheiten noch in kleinen Clubs auftraten. Gigantische Musikshows, wie wir sie heute von den Rolling Stones oder Pink Floyd kennen, gab es damals noch nicht. Nissim und seinem Partner gelang es, namhafte Künstler für einen Auftritt im Blackbird zu gewinnen. Das kam natürlich bei der einheimischen Landjugend gut an. Doch irgendwie muss sich herumgesprochen haben, dass die Disco von zwei Juden betrieben wurde. Das veranlasste alte und neue Faschisten, das Blackbird zu ihrer Zielscheibe zu machen, erinnerte sich Esther:
Ganze Nazitruppen kamen da rein und haben Schlägereien angefangen. Naja, es dauerte natürlich nicht lange, und die anderen Gäste bleiben weg. Schließlich bat mich der Polizeichef von Uetersen zu sich und legte mir nahe, die Diskothek zu verkaufen. Er sagte: "Das hat keinen Sinn, es gibt so viele Nazis hier. So leid es mir tut, aber das Beste ist, sie machen das Ding wieder zu". Ich habe dann zu Nissim gesagt: "Sieh zu, dass Du den Laden los wirst, egal wie, auch wenn wir draufzahlen müssen". Das hat er dann auch getan und dabei haben wir viel Geld verloren, auch einen Teil meiner Wiedergutmachung.