Kleine Frau mit großer Wirkung: Baruch dayan ha'emet, Esther Bejarano!

Seite 4: Die Geburtsstunde der Politikerin Esther Bejarano

Schließlich eröffnete sie eine Boutique. Dann sprach sich schnell rum, wer Esther war und was sie erlebt hatte:

Irgendjemand hatte mich mal gefragt, woher ich komme. Daraufhin habe ich dann gesagt: "Aus Israel". Und irgendwie bin ich nach und nach angefangen, ein bisschen mehr über mich zu erzählen. Ich war so glücklich, Leute zu treffen, die über die Verbrechen der Faschisten Bescheid wussten, so fasste ich Vertrauen. Als dann raus war, dass ich in Auschwitz gewesen bin, wurde ich bekniet, doch in die VVN zu gehen, die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gab, denn ich hatte mich um solche Sachen gar nicht gekümmert. Die Politik war völlig an uns vorbei gegangen.

Doch das sollte sich ziemlich bald ändern. Eines Tages beobachtete Esther, dass vor ihrer Boutique ein Infostand aufgebaut wurde. Neugierig sah sie nach, welche Gruppe das denn wohl sei. Zu ihrem Entsetzen musste sie feststellen, dass ausgerechnet die NPD da Werbung machen wollte. Dann sah sie, dass eine Gruppe mit Transparenten kam, um dagegen zu protestieren. Kurze Zeit später kam die Polizei und fing an, die Gegendemonstranten zu drangsalieren. Esther stand am Fenster ihres Ladens, beobachtete das Geschehen und traute ihren Augen nicht.

Im Eilschritt verließ sie ihre Boutique und stellte sich auf die Seite der Protestierenden und fing an, mit der Polizei zu debattieren, warum die Nazis schützen. Ein Beamter sagte ihr, sie solle sich da nicht einmischen, sie solle machen, dass sie wieder in ihre Boutique käme. Das war zuviel für Esther. Völlig außer sich packte sie den Beamten am Revers und schrie ihn an: "Wissen Sie überhaupt, was Sie da tun? Wissen Sie, wer diese Leute sind?"

Der Beamte sagte, sie solle ihn loslassen, ansonsten würde er sie festnehmen. "Damit machen Sie mir keine Angst", schrie sie ihn an. "Ich war in Auschwitz und das war schlimmer." Esther hörte noch wie irgendjemand von der NPD zu dem Beamten sagte: "Die war in Auschwitz, das ist eine Verbrecherin. Was wollen Sie von der erwarten?" Esther war völlig schockiert. Diese Konfrontation war die Geburtsstunde der Politikerin Esther Bejarano: "Am nächsten Tag bin ich dann in die VVN eingetreten".

Sie fing an, ihre Geschichte zu erzählen, zunächst im kleineren Kreis, schließlich als Zeitzeugin in Schulen und auf Veranstaltungen. Mit ihrer Tochter Edna, die zwischenzeitig als Sängerin der Band "Rattles" eine Weltkarriere hingelegt hatte, setzte sie mit deren damals aktueller Band "Coincidence" ihre musikalische Karriere fort. Das war eigentlich eine reine Frauenband, doch als eine der Frauen die Band verließ, stieg Joram Bejarano ein und nach und nach änderten sich die Besetzung sowie das Repertoire.

Dieses wurde auf Esther zugeschnitten und im Rahmen des Programms "Lieder für das Leben" präsentierten sie Lieder aus den Ghettos und dem jüdischen Widerstand. Das Lied "Mir lebn ejbig", das häufig mit "wir leben ewig" übersetzt wird, in Wahrheit aber "wir leben trotzdem" heißt, wurde ihr Lebensmotto. Sie engagierte sich für die Friedensbewegung, trat bei Veranstaltungen des Krefelder Appells als eine der "Künstlerinnen für den Frieden" auf und agierte unermüdlich als Zeitzeugin gegen Krieg und Faschismus. Sie wurde Vorsitzende, später Ehrenpräsidentin der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA), gründete mit anderen zusammen das "Auschwitz Komitee in der Bundesrepublik", dessen Vorsitzende sie ebenfalls war.

Im Oktober 2008 wurde sie ausdrücklich für ihr Engagement in der VVN-BdA und dem Auschwitz-Komitee mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Einer von vielen Preisen, den sie für ihr unermüdliches Engagement gegen das Vergessen entgegennehmen konnte.

Eine Einladung, der niemand widerstehen kann

Bis eines Tages ein Unbekannter bei ihr anrief und sagte, er sei von der Mafia. "Wer ist da bitte?" Esther Bejarano traute ihren Ohren nicht, als die Mafia bei ihr zu Hause anrief. "Was will denn die Mafia von mir?" Genau genommen war es die Microphone Mafia, aber das hatte die damals 83-Jährige nicht verstanden. "Ich bin Kutlu Yurtseven von der Microphone Mafia, stellte der Anrufer sich ihr daraufhin noch einmal vor. "Wir sind eine Rap-Gruppe aus Köln." "Aha. Aber: Was wollt ihr von mir?" fragte Esther einigermaßen erstaunt.

Kutlus Anliegen war es, die Hamburger Künstlerin für ein gemeinsames Musikprojekt zu gewinnen. Esther schien es zwar etwas abwegig, mit Rappern zu musizieren, sie lud Kutlu aber trotzdem ein, sie zu besuchen. Sie ließ sich auf ein Treffen ein und war anschließend sichtlich angetan von den "wohlerzogenen jungen Männern". Die rappenden "Mafiosi" hatten sich als zwei nette junge Männer entpuppt, Sohn türkischer Arbeitsmigranten der eine, und Sohn italienischer Arbeitsmigranten der andere.

Weitere Treffen folgten, Edna und Joram sowie die beiden anderen Micophone-Mafia-Rapper Rossi - Rosario Pennino - und DJ Önder Bordakei wurden hinzugezogen. Eine gewagte Idee nahm langsam aber sicher Gestalt an. Texte wurden geschrieben und hin und her geschickt, "Beats" wurden kreiert, es wurde diskutiert, kritisiert, viel gelobt und viel gelacht. So wurde allmählich zusammengefügt, was eigentlich überhaupt nicht zusammen passt: Die eher gesetzteren Klänge der traditionellen antifaschistischen Folklore von Coincidence mit den mitreißenden Rhytmen des Microphone-Mafia-Rap. Dabei legten die einen einen Zahn zu und die anderen nahmen sich etwas zurück.

Das Ergebnis war eine CD mit elf Songs, deren Texte und Musik in den jüdischen Ghettos und Konzentrationslagern entstanden waren oder aus der Feder von Nazim Hikmet, Mikis Theodorakis und Bertold Brecht stammten sowie weltbekannte antifaschistische Songs wie "Avanti Popolo" und "Bella Ciao". Die Originaltexte wurden von Esther und Edna Bejarano gesungen und mit Raps von Kutlu und Rossi angereichert. Dabei spielen die eigenen Erfahrungen, aber auch aktuelle Themen wie Krieg und Finanzkrise eine Rolle.

Die unterschiedlichen Lebenswelten der Beteiligten wurden in einem musikalischen Projekt vereint: Orient traf Okzident, die Jüdin den Moslem, die Atheistin den Christen, Süd traf Nord, alt traf jung, Frau traf Mann, Tradition traf Moderne, Folklore traf Rap, Hamburg trifft Köln, ausdrucksstarke Stimmen trafen auf geniale Musiker, Spannung traf auf Harmonie, Herz traf Verstand, die Familie Bejarano traf die Microphone Mafia - und alle arbeiteten gleichberechtigt nebeneinander. Ihre unterschiedlichen Erfahrungen aus der Vergangenheit brachten die Bejaranos und die Microphone Mafia in der Gegenwart zusammen, um sie mit anderen zu teilen, aus ihnen zu lernen und gemeinsam für eine bessere Zukunft einzutreten.

"Bei dem Projekt prallen Welten aufeinander. Und dieser Aufprall soll die Menschen wachrütteln", kommentierte Kutlu Yurtseven "Per la Vita". Dieser musikalische Urknall ist ein ungewöhnliches künstlerisches Projekt, in dem musikalische Widersprüche harmonisch in Einklang gebracht werden. "Ich bin jetzt unter die Rapper gegangen", verkündete Esther später verschmitzt lächelnd.

Ihr hatte die Idee gefallen, weil Kutlu Yurtseven und Rossi Pennino mit ihrer Musik Jugendliche erreichten. Das war auch ihr Anliegen. Ihre zentrale Botschaft:

Ihr seid nicht Schuld an dem, was damals geschah. Aber Ihr macht Euch schuldig, wenn Ihr nichts über diese Geschichte wissen wollt.

Die ungewöhnliche Mischung, Bejarano - Microphone Mafia traf dann auch einen Nerv und kam gut an - weit über die Grenzen Hamburgs, ja, weit über die Grenzen Deutschlands hinaus. Bis nach Kuba hatte sich das musikalische Crossover aus Folk und Rap herumgesprochen und prompt erfolgte eine Einladung in den Karibikstaat, der die Truppe 2017 folgte. Noch 2021 war Esther als Künstlerin und Zeitzeugin aktiv, aus gesundheitlichen Gründen mussten zuletzt jedoch Termine abgesagt werden.

In Hamburg sagt frau Tschüss

Der Wildfang aus Saarbrücken hatte sich zu einer ernsten und wichtigen Stimme gegen Faschismus und Krieg entwickelt. Die "Frau, so klein mit Hut", wie ein anderer Rapper in Anspielung auf ihre Körpergröße einmal textete, bewies immer wieder Größe. Denn sie redete nicht nur, sondern sie war präsent, beispielsweise wenn wieder mal Nazis aufmarschierten, in Hamburg oder anderswo. Selbst Bombendrohungen hielten sie von Auftritten nicht ab. "Dann haben die Nazis gewonnen", pflegte sie zu sagen. Und genau das wollte sie nicht. Schon als junges Mädchen im KZ hat sie sich geschworen, den Nazis den Triumph nicht zu gönnen, sie umgebracht zu haben. Sie wollte den Neonazis auch nicht den Triumph gönnen, ihre Stimme zum Schweigen zu bringen.

Nun ist diese Stimme für immer verstummt. Die kleine große Kämpferin hat ihren letzten Kampf verloren. Nun ist es an uns, ihre Geschichte weiterzuerzählen und die Erinnerung an sie lebendig zu halten - getreu ihres Lebensmottos "mir lebn ejbig".

Baruch dayan ha'emet - ruhe in Frieden, Esther Bejarano! In Hamburg sagt frau Tschüss. Mach's gut, Esther. Du fehlst schon jetzt.