Kleines Debakel mit Gete

Pasternaks russische "Faust". Übersetzung im Kreis der internationalen Goethe-Rezeption. Bild: Tom Appleton

Tom Appleton sucht Maori-Nachfahren eines deutschen Nationalheiligen und singt ein Zigeunerlied

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Ich schreibe diesen Artikel, obwohl man es mir ausdrücklich verboten hat. Ich darf auch keine meiner Fotos verwenden, obwohl ich etliche Hundert Bilder gemacht habe. Also muss ich wenigstens erklären, was es mit Gete auf sich hat.

"Gete" hat mit Boris Pasternak zu tun. Pasternak war ein russischer Schriftsteller. Er bekam den Nobelpreis, für Literatur. 1958, für seinen Roman Doktor Schiwago, der heute üblicherweise nur noch als Film mit Omar Sharif und Julie Christie in Erinnerung geblieben ist, oder gar nur noch als die Film-Melodie, Lara’s Theme. Immerhin gewann er damals, 1965, fünf Oscars. Da war Pasternak schon einige Jahre lang tot, und den Nobel-Preis hatte er auch zurückweisen dürfen.

Pasternak war Jude, und selbst nach seiner Rehabilitation 1987 erschien sein Konterfei auf einer offiziellen Sowjet-Briefmarke von 1990 mit einer (gewiss unabsichtlich-unbewussten) mephistophelischen Verzerrung. Die Nase eines Mannes, sagt man im Deutschen, verweise auf seinen Johannes. Mit Johannes ist der Penis gemeint. Bei der Pasternak-Marke hat man scheinbar statt der Nase gleich den Schwanz her genommen. Auch die Hörner auf der Stirn fehlen nicht, zumindest sind sie ansatzweise zu sehen. Vielleicht wollte man auch nur suggerieren, dass dieses Teufelchen ein ganzes Leben lang damit verbracht hat, den Faust zu übersetzen. Was eine literarische Großtat war, unbestritten.

Über der russischen Ausgabe des Buches aus dem Jahr 1955 steht der Titel, "Faust" und darüber der Name des Autors: "Gete". In der Sowjetunion war man sich offenbar mit Pasternak darin einig, dass es nur einen Goethe gäbe, und dass man es nicht nötig hätte, ihn durch einen Vornamen näher zu bestimmen. Es gab keinen Kurt oder Joachim oder Fritz Goethe, es gab nur den einen "Gete".

Zwar wurde Pasternaks Übersetzung kritisiert, aber das lag daran, wie Pasternak selber erklärte, dass er eben das übersetzt hätte, was Goethe schrieb, statt das, was die offizielle Kulturbürokratie gern gehabt hätte, dass Goethe es geschrieben hätte. Das Cover dieses Buches findet man bei Google nicht, ich kann also nicht einfach einen Link hersetzen und muss stattdessen einen Trick anwenden. Das heißt, ich muss auf einem Foto alle Faust-Bücher in meinem Besitz zusammen, im Kollektiv, photographieren, und dabei den Pasternak ganz vorne hinstellen. Und so, im Gruppenbild, erscheint das Buch in einem Kontext außerhalb des Verbots, und meine Leser können erkennen, was man sich unter diesem "Gete" vorzustellen hätte.

Wie konnte es nun, im Jahr 2013, zu einem Verbot kommen, den Gete bei Strafe zu erwähnen? Nun, ich hatte es einfach toll gefunden, dieses Buch mit den schönen Illustrationen und dem Stempel "Sowjetische Kulturstelle Neuseeland" drin mit auf ein Maori-Marae mitzunehmen. Ich erinnere daran, dass (einem weit verbreiteten Gerücht zufolge) Vladimir Putin in jüngeren Jahren als Kultur-Attaché (sprich KGB-Agent) bei der Botschaft der UdSSR in Wellington tätig gewesen sein soll, und wer weiß, vielleicht war er es, der dieses Buch damals, lange vor Gorbatschow, im Übereifer aus den Beständen der Bibliothek ausgesondert hat? Jedenfalls flottierte es nun einige Jahrzehnte lang durch verschiedene Hände, bis es endlich bei mir gelandet ist.

Unten der Stempel der Russischen Kulturstelle in Neuseeland, die das Buch aus ihren Beständen entfernte. Bild: Tom Appleton

Ich hatte das Buch einfach nur als Prop mitgenommen, als Theater-Requisite. Ich wollte vor der TV-Kamera sagen: Schaut mal her, Leute, der Große Pasternak (jetzt bitte die Lara’s Theme-Einspielung) hat ein ganzes Leben lang an die Übersetzung dieses Werkes hingewendet. Er betrachtete Gete als einzigartig. Und tatsächlich. Auf der ganzen Welt gibt es keine Nachfahren von Goethe mehr. Goethe war eine kosmische Singularität. Aber hier in Neuseeland, auf diesem Marae, gibt es Hunderte von Goethes. Es ist unglaublich, Leute. Ihr seid alle Teil einer kosmischen Supernova.

So etwas Ähnliches habe ich auch tatsächlich gesagt - und das Buch war dabei in meiner Hand. Aber alles, was auf diesem Marae passiert ist und gesagt wurde, ist das geistige Eigentum des neuseeländischen Fernsehens - und deswegen muss ich hier etwas anderes hinschreiben und muss mich sogar um das Cover von Pasternaks "Faust" herumschwindeln.

Wie kommt Goethe ins neuseeländische Maori-TV?

Aber wie kann es so was geben? Wie kommt Goethe ins neuseeländische Maori-TV? Tja, ich habe 1982 in der Zeit, 1991 in der Süddeutschen, und 1994 in der Wiener Zeitung jeweils immer umfangreichere Artikel zum Thema Goethe in Neuseeland veröffentlicht. Auch im neuseeländischen Listener erschien 1982 ein solcher Artikel von mir, auf Englisch.

Auf diesem Marae traf ich nun einen Mann namens John Simpson, der mir, im persönlichen Gespräch, jenseits aller Kameras, gestand, dass dieser Artikel im Listener sein Leben verändert hätte. Denn seit damals betreibt er auf Goethe bezogene genealogische Studien. Er möchte herausfinden ob es tatsächlich so etwas wie eine reale Basis für den Glauben der neuseeländischen Maori-Familie Gotty gibt, dass der Goethe, der ihnen allen vor über 100 Jahren den Namen gab, mit jenem Goethe, dem "poet", verwandt ist.

Als Beispiel verweist er auf den englischen König Richard den Dritten, dessen trauriges, verbogenes Skelett im Februar dieses Jahres mithilfe von DNS-Analysen als das tatsächlich real königliche identifiziert werden konnte. Mit genetischen Bohrkernen aus Goethe Gebeinen (oder denen seines Sohnes oder seiner Enkel - da täten es auch schon ein paar Locken) und dem Vergleich mit entsprechenden Y-Chromosomen männlicher Gottys möchte er sich die nötige Gewissheit verschaffen. Ich verwies ihn auf einen Artikel bei Telepolis.

Ich hatte dort nicht explizit die Schlussfolgerung getroffen, die sich indessen wohl jedem aufmerksamen Leser aufdrängen würde. Viele Menschen, die mit Goethe zusammentrafen, sei es im Sommer oder im Winter, in der Frühzeit oder Spätzeit seines Lebens, bemerkten drei Dinge: Die Dunkelheit seiner Haut, seine dunklen Augen, seine dunkelbraunen bis schwarzen Haare. Fazit: Der so stattlich gut aussehende Goethe (Napoleon: "Voilà un homme!") war (anders als seine eindeutig von allen als hässlich beschriebene Schwester) das Resultat der Begegnung seiner Mutter mit einem attraktiven Südländer. Goethes Vater übernahm die Rolle des Josef(s)vaters, so genannt nach dem biblischen Vater des Jesus, dessen Frau ja auch durch einen Stellvertreter schwanger wurde.

In meinem Artikel bei Telepolis konnte der Polizeicomputer goetheähnliche Menschen nur unter Hispanics und Afro-Amerikanern entdecken. Der Computer hatte insbesondere Schwierigkeiten mit Goethes Augen. Es gab in der normalen Auswahl von männlichen Augen keine, die so groß waren wie die von Goethe. Man musste Frauenaugen hernehmen, um etwas Passendes zu finden. Ich fragte John Simpson, wer ihm da wohl als Erster einfiele, wenn er an große Augen und Hispanics denke? Picasso natürlich. Ich sagte, Na bitte. Da irgendwo steckt der Hase im Ketchup.

Wir blickten uns um unter den Anwesenden. Ich war ja als Gast eingeladen. Als Gast einer Kuia. Einer springlebendigen, über-neunzig-jährigen Stammesältesten, Oma mit Namen, den man indessen nicht etwa mit dem fahlen "O" eines bönnschen "die aal Omma" aussprechen sollte, sondern wie ein vollmundiges "O" in "Oh, Herr Doktor, mein Ohr", aber dann eben doch mit zwei "MMs" beschleunigt. Oma selbst besitzt geradezu goethe-eske Züge, aber noch deutlicher war die Ähnlichkeit bei dem zwar massiv übergewichtigen, aber doch ausgesprochen poetisch veranlagten Bruder des TV-Produzenten, der durchaus (jeweils in einer Maori-Übersetzung) Züge eines Goethe-Portraits aufweisen konnte - und zwar jenes klassischen Bildes von Lips (1791), das ihn mit großen Augen, flitzebogenähnlich geschwungenen Lippen und starker Nase zeigt. Ich fertigte 10 unterschiedliche Photos an, die ich hier allerdings nicht zeigen kann oder darf.

"Der 42-jährige Goethe", Kreidezeichnung von Johann Heinrich Lips 1791

Als ein Altersportrait Goethes direkt aus dem Weimarer oder Frankfurter Souvenirshop hervorgerollt wurde verwiesen alle Anwesenden sofort auf einen der Ihren, der diesem Portrait ihrer Meinung nach entsprach. Nun besitzen Maori ohnehin oft große Augen und geschwungene volle Lippen - es ist also schwer zu entscheiden, ob es sich um bloß generische oder tatsächlich genetische Ähnlichkeiten handeln könnte.

Jedenfalls war ich dort und ich genoss die Gastfreundschaft und Herzlichkeit dieser Leute, die sich alle mit wahrer Lust in ihre Familiengeschichte, in das "deutsche" Element ihrer Herkunft hineinergaben - so völlig anders, als man es sonst so oft in Neuseeland antrifft (obwohl das anti-deutsche Ressentiment, das sich Jahrzehnte lang gehalten hatte, sich allmählich überall verflüchtigt). Das Schöne dabei ist, dass der Johann Franz (von) Goethe, der sich Mitte des 19. Jahrhunderts angeblich in dieser ländlichen Gegend niederließ, eine Maori-Dichterin geehelicht haben soll: Puhiwahine, die als Ahnfrau der Gotty-Familie zusätzlich zu ihrem dichterischen Erbe beigetragen hat. Kaum verwunderlich also, dass der Name "Puhiwahine" unter den Gottys ein beliebter Mädchenname geworden ist.

John Francis Gotty ging in Berlin mit dem alten Bismarck zur Schule. Ein ebenfalls alter Bismarck, ein Enkel des Reichskanzlers, Klaus von Bismarck, war vormalen Chef des Goethe-Instituts und kam als solcher nach Wellington. Dazu muss man wissen, dass mir ein gewisser Ruf als "Schwarzes Schaf" vorauseilt, denn ich hatte mich um 1980 herum dagegen verwehrt, dass der deutsche Botschafter in Wellington unkommentiert auf dauerhaften Heimaturlaub ging. Das Wiesenthal-Zentrum in Wien hatte ihn als früheren Offizier der Waffen-SS enttarnt und die deutsche Kulturorganisation an der Uni in Wellington wollte diese Kröte einfach schweigend schlucken. Der psychische Druck, nur wegen ein paar Tausend D-Mark an Förderungsgeldern die Klappe halten zu müssen, wirkte sich auf den Professor des German Departments fatal aus - nämlich tödlich. Herzattacke.

Tom Appleton und das Goethe-Institut in Wellington

Ich gründete eine Heinrich Heine Gesellschaft, die sich dezidiert als antifaschistisch deklarierte - und prompt, d. h. nach knapp einem Jahr, brachte die Bundesrepublik ihr Goethe-Institut nach Wellington. Dessen Direktor, ein früherer Skilehrer, der sich an der Otago University in Dunedin auf der Südinsel, nicht weit von den dortigen Alpen, zu einem BA hochgeschwungen hatte, lud mich zu einem Kaffee im Café Mekka ein und meinte, wir könnten doch "zusammenarbeiten" - Heine und Goethe. Ich sagte, ich hätte schon genug eigenes Geld investiert: Ihr könnt jetzt gerne alleine weiter machen. Ich hatte auch das Angebot des DDR-Botschafters zurückgewiesen, eine DDR-Freundschafts-Gesellschaft aufzumachen, weil ich eben nicht am Gängelband von Irgendwem hängen wollte, wie der arme Con Kooznetzoff vom Victoria University German Department.

Trotzdem hatte man sich offenbar bei der Deutschen Botschaft auf ein Feindbild eingeschossen, als ob ich der Böse in diesem Schmierentheater gewesen wäre. Nun kommt also, einige Jahre später, der ebenfalls bereits sehr alte Enkel vom alten und längst vermoderten Bismarck nach Neuseeland zu einer Feier am Goethe-Institut - und ich sage zu ihm (mit etwa diesen Worten):

Ihr Großvater ist doch mit sieben Jahren in Berlin eingeschult worden. Die Unterlagen sind alle im Krieg zerbombt worden. Was meinen Sie, ob es in ihrer Familie noch irgendwelches Material gibt, darüber, wer alles mit ihm in die Erste Klasse ging? Es gibt nämlich hier in Neuseeland eine Familie Goethe unter den Maori, die sich von einem Johann Franz von Goethe ableitet, der mit Bismarck gleichzeitig eingeschult wurde. Dieser Goethe war damals allerdings erst sechs.

Der Herr von Bismarck schaute mich an, als ob ich ihn verarschen wollte, und wandte sich quasi wortlos ab. Ende der Durchsage.

Das Goethe-Institut hat sich dann aber auch in der Folge - in den mehr als 30 Jahren seines Bestehens - nie für die Gottys interessiert. Der Einzige, der darüber geschrieben hat, war ich. Im August 1982, im neuseeländischen Winter, war ich zu einem Fernsehauftritt als "Performance Poet" im Allen Theatre in Dunedin. Zwischendurch traf ich im Publikum Gerd Träbing, einen weiteren Sportlehrer, der sich an der dortigen Uni zum Assistant Professor gemausert hatte. Er hatte sich während seines Heimaturlaubs am Frankfurter Goethe-Museum erkundigt, was denn so das Echo auf meinen damaligen Zeit-Artikel gewesen sei? Das sei überhaupt der Artikel gewesen, auf den es die meisten Anfragen gegeben hätte, berichtete Gerd.

Super. Das Goethe-Institut wurde auf die Gottys von Neuseeland allerdings erst 30 Jahre später aufmerksam, als ich selber vor zwei Jahren dort kistenweise alte Bücher fortschleppte, die man - praktisch sämtlich ungelesen - in den Müll entsorgen wollte. Bei der Gelegenheit erwähnte ich zufällig, en passant, meinen SZ-Artikel - und jetzt ließ man sich den aus München kommen. Dann brauchte es allerdings nochmal einige Zeit, bis wieder zufällig ein - zur Gotty-Familie gehöriger - Produzent von Maori TV beinahe einen Autounfall mit einer Dame vom Goethe-Institut hatte. Ich habe sie kennengelernt, aber nachdem sie mich in fast polizeimeisterlicher Weise nach meinem Namen gefragt hatte, stellte sie sich mir nicht weiter namentlich vor.

Auch dieser TV-Produzent, des Deutschen nicht mächtig, wurde erst nach dieser Begegnung, dem Beinahe-Unfall, auf meinen uralten Goethe-Artikel aufmerksam gemacht und kontaktierte mich dann. Interviewte mich vier Stunden lang, wo denn in Deutschland dieses oder jenes über Goethe zu erfahren sei. Das riesige gemeinsame Wiener Grabmahl der Familien "von Schiller" und "von Goethe" interessierte ihn hingegen weniger.

Und als ich dann als persönlicher Gast einer alten Dame auf dem Familiensitz der Gottys erschien, riss er mir ziemlich pronto die Epauletten von den Schultern und verlangte die Herausgabe meiner Fotos und Notizen. Nun bin ich nicht Alan Whicker, der um die Welt reist und mal Papa Doc und mal Idi Amin interviewt - und so enthielt ich mich des Lachens. Was mich am meisten enttäuscht, sagt er, ist, dass du deiner eigenen Aussage nach deinen Artikel über Goethe für Geld geschrieben hast.

Ich verstand natürlich, dass er seinen TV-Film als Huldigung an die Familie seiner Mutter betrieb. Ich hatte gerade Karin Strucks Die Mutter aus dem Müll des Goethe-Instituts gefischt (Struck hatte damals, 1977, ihrerseits ihr Buch als Reaktion auf Peter Handkes Wunschloses Unglück geschrieben) und konnte seine Gefühle nachempfinden. Aber als Journalist schreibe ich nun mal für Geld - und Englisch spreche ich mit Deutschen und Österreichern auch nur für 25 Euro die Stunde. Und natürlich fand ich die Unterstellung ein wenig hart, dass ich meine ganzen Artikel nur bei anderen Leuten abgeschrieben hätte. Dann beruhigte er sich aber wieder, und ich sagte: Alles klar, du bist Diabetiker, da gibt es solche Stimmungsumschwünge.

Wie die Schweizer und Schweden immer verwechselt werden in aller Welt, Auszug aus einem finnischen Blatt. Bild: Tom Appleton

Aber das Publikationsverbot steht natürlich. So kann ich also nur berichten, dass ich auf dem Marae ein wenig deutsche Sprache zu Gehör brachte, denn keiner der Gottys hat Zeit Lebens einmal etwas Deutsch gehört. Ich hatte kurz zuvor einen Artikel in einem konservativen Blatt aus Schweden gelesen (ach nein, aus der Schweiz - die beiden Länder werden international bekanntlich immer wieder verwechselt - ich sage, müssen sich die Schweden eben Schwätzer nennen und die Schweizer Schweigen), dass die Deutschen solche Probleme mit dem Wort Zigeuner haben und stattdessen immer Sinti und Roma sagen müssen. Ich sagte: Ich bin ein Zigeuner, aber kein Sinti oder Roma. Und schrieb einen Text, den ich 25 mal im Auto sang, bevor ich ihn dann in dem Marae vor all den Gottys zu Gehör brachte.

Tom Appleton singt ein Zigeunerlied

Der Text geht so (gesungen natürlich - und besser wär’s gewesen mit einem Helmut Zacharias Kitsch-Orchester im Hintergrund: schluchzende Geigen und pipapo, oder ein Paar Djangos an der Gitarre, aber es geht auch anders):

Ich bin a Zigeina
Und ich fahre durch die Welt
Mal fahr ich hier hin
Mal fahr ich dort hin
Und ich bleib da
Wo’s mir gefällt

Ja, das ist mein Lebensstil
Und dazu braucht es gar nicht viel
Nur zwei Stück Papier
Nur zwei Stück Papier.
Liebe Leute, ja, da staunt ihr?
Nur zwei Stück Papier.

Das eine ist, mein Passaporto.
Das andre, das ist Geld.
Und damit
Fahr ich
Um die Welt!

Nur zwei Stück Papier
Nur zwei Stück Papier
Das eine, das heißt Passaporto
Das andre ist - auch nur Papier.
Das ist alles - und soforto
Schon bin ich weg von hier!

Ja zum Glück ich spreche Deutsch und
Englisch ebenfalls passabel
Et je peus parler français
Dans une manière très incroyable

Ich spreche Spanisch, Italienisch
Finnisch, in Helsinki, auch ein wenich,
und vawghan
man zabawne fawrsiraw
kheyli khoob harf mizanam.

Ja ich bin a Zigeina
Und ich fahre um die Welt -
Kommt mit mir mit
Ich zeig euch
Wo es mir soooo
GUUUt gefällt (bis)

Die letzte Zeile ist natürlich nicht rein geographisch zu verstehen. Sie verstanden es auch so. Kam gut, das Ganze. Später, nach dem Interview vor laufenden Kameras - schließlich bin ich der Einzige, der wirklich was Substantielles zu der Gotty-Geschichte beitragen kann. Zusammen mit John Simpson, dem Familien-Genealogen, der zu mir sagte: Du bist der Einzige hier, der überhaupt versteht, wovon ich spreche - kam man noch mal auf mich zurück. Ob ich nicht aus dem Buch Mit Goethe durch das Jahr 1993 einen kleinen Text auf Deutsch lesen könnte? Als ehemaliger Königsteiner kann ich zwar das Frankfurterische nicht so ganz 110prozentig, aber gut genug. Ich schlug also beliebig die Seiten 112, 113 auf und fing an zu lesen. Nein das gefiel ihnen nicht. Also hab ich den Text dann impromptu gesungen, als Lied. Es war schließlich auch ein Liedtext, der jetzt seit 1775 zum ersten Mal wieder erscholl. Und da ich auch ein alter Perser bin, der kurdische, aserbaidschanische und armenische Kinderfrolleins gehabt hat, singe ich natürlich jeden Text als käme ich gerade aus der Levante. Aber ich fand, das passte gar nicht so übel zu dieser internationalen Geschichte. Mal sehen, ob sie’s im Film drin lassen.

Bild: Tom Appleton

Nachher fuhr ich saumüde 400 Kilometer durch die Nacht und den sonnigen Sommertag (weil hier bekanntlich jetzt gerade Sommer ist - superschöne Landschaft, wenn man auf so was steht, und wie heißt jetzt eigentlich Schwappschutzdeckel auf Englisch???) und dachte, wie ich aus dieser verbogenen Story jetzt doch noch etwas Geld herausschlagen könnte, um wenigstens meinen Sprit zu bezahlen. Und wer würde jetzt meine 500 Fotos haben wollen, um sie in 30 Jahren zur Geschichte der Gottys hinzufügen zu können? Egal, ich lebe hier eine Minute vom Pazifikstrand entfernt und jetzt les ich erst mal Leo Tolsto. Die Auferstehung, Bertelsmann, ohne Datum, aus der Müllkiste des Goethe-Instituts. Leider ohne die Illus von Pasternaks Vater.

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