Klimabewegung: Kommt es zur Anklage gegen die "Letzte Generation"?
Die Staatsanwaltschaft Neuruppin will es nicht bestätigen – Anwälten soll aber eine Anklage wegen krimineller Vereinigung angekündigt worden sein. Warum dies umstritten ist.
Der Paragraph 129 im Strafgesetzbuch hat einen Ruf als "Schnüffelparagraph", weil Ermittlungen wegen des Verdachts auf Bildung einer kriminellen Vereinigung häufig eingestellt werden, bevor es zur Anklage kommt.
Bis dahin schafft der Paragraph aber weitreichende Ermittlungsbefugnisse, die eine Ausforschung bestimmter Gruppen oder Milieus mit Maßnahmen ermöglichen, die durch im Raum stehende Einzelstraftaten nicht gerechtfertigt wären – beispielsweise Abhörmaßnahmen und Standortüberwachung.
Im Fall der Klima-Initiative "Letzte Generation" soll es aber nun gerüchteweise tatsächlich bis Ende dieses Jahres zu einer Anklage nach § 129 kommen. Dies habe die Staatsanwaltschaft Neuruppin einem der Anwälte der Gruppe telefonisch mitgeteilt, gab die "Letzte Generation" Anfang der Woche bekannt. Im laufenden Monat Oktober solle den Beschuldigten die Möglichkeit zur Stellungnahme gegeben werden, dann werde man den Prozess eröffnen.
Laut Staatsanwaltschaft nur "Verfahrensabschluss avisiert"
Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Neuruppin wollte dies am Mittwoch auf Nachfrage von Telepolis aber nicht bestätigen. Stattdessen sagte er, bis Ende des Jahres sei "ein Verfahrensabschluss avisiert", er könne aber noch nicht sagen, in welche Richtung es gehe. "Die Ermittlungen dauern an", betonte er.
Bundesweit wurden bereits mehrere Mitglieder der Gruppe in Einzelverfahren gemäß § 240 wegen Nötigung in Form von Straßenblockaden, bei denen sie sich zum Teil auf der Fahrbahn festgeklebt hatten, oder beispielsweise wegen Sachbeschädigung verurteilt. Vereinzelt wurden aber auch Angeklagte freigesprochen, obwohl sie die Teilnahme an Blockaden nicht geleugnet hatten.
Die "Letzte Generation" bereitet sich allerdings auch fest auf eine Anklage wegen krimineller Vereinigung vor. Nach ihren Angaben stapeln sich tausende Seiten Aktenmaterial in 89 Ordnern auf den Schreibtischen Ihres Verteidigungsteams. "Sämtliche Proteste, die je in Brandenburg stattgefunden haben, finden sich hier wieder. Beim Überfliegen der Seiten liest man von rund einhundert verschiedenen Namen – auch von Menschen, die nur ihre Freunde von der Polizeistation abgeholt haben", erklärt das Presseteam der Gruppe.
Kein klares Prüfergebnis
Ein Argument für die Verteidigung, dem das Gericht nicht unbedingt folgen müsste: In Berlin ist die Klima-Initiative bisher nicht als kriminelle Vereinigung eingestuft worden – obwohl die deutsche Hauptstadt ein "Hotspot" ihrer Aktivitäten ist und die Berliner Justizsenatorin eine solche Einstufung prüfen ließ.
Das Prüfergebnis sei aber keineswegs völlig klar ausgefallen, berichtete der Tagesspiegel am Wochenende. Die Frage lasse sich nicht "eindeutig beantworten", hieß es demnach in dem internen "Prüfvermerk" der Behörde vom 11. Juli, der der Deutschen Presse-Agentur exklusiv vorliegt.
Vielmehr stehe der Staatsanwaltschaft ein "originärer Beurteilungsspielraum" zu. Entscheidungen in anderen Städten wie Potsdam und München hätten aber für einen entsprechenden Anfangsverdacht keine "zwingenden Auswirkungen" auf Berlin.
Wie es scheint, scheut die Berliner Senatsjustizverwaltung vor einer klaren Positionierung – Gründe dafür gibt es immer mehr. Vor einigen Wochen haben Dutzende Verfassungsrechtlerinnen und Verfassungsrechtler in einem offenen Brief an die Bundesregierung wirksame Klimaschutzmaßnahmen gefordert – unter Berufung auf das "Klima-Urteil" des Bundesverfassungsgerichts vom Frühjahr 2021, aus dem die "Letzte Generation" ein Recht auf gewaltfreien Widerstand und zivilen Ungehorsam ableitet.
FDP-Politiker attackiert Berliner Senatsverwaltung für Justiz
Andererseits beschwert sich beispielsweise der FDP-Generalsekretär Lars Lindemann, der Berliner Senatsverwaltung für Justiz fehle "augenscheinlich jeder Wille, (...) die Letzte Generation als kriminelle Vereinigung einzustufen und damit effektiver gegen kriminelle Machenschaften vorzugehen". Mit seiner Haltung lade der Senat die Gruppe "förmlich zu weiteren Blockaden ein", teilte Lindemann mit.
Die FDP hatte auch auf Veröffentlichung des Gutachtens gedrängt, in dem zumindest nicht bestätigt wurde, dass die Gruppe kriminell sei.
Falls es zu einer entsprechenden Anklage kommt, wäre dies für den Rechtswissenschaftler Dr. André Bohn eine eine alarmierende Entwicklung. Davon ausgehend sprach er Anfang der Woche von einer "neuartigen Eskalation gegen politische Teilhabe der Zivilgesellschaft", Es geht hier nicht nur um die "Letzte Generation", sondern um "unser aller demokratische Rechte".
Durch Telefongespräche waren auch Medienschaffende und Unternehmen, die lediglich Flyer gedruckt hatten, sowie Aktive der "gemäßigten" Klimabewegung Fridays for Future von Überwachungsmaßnahmen gegen die "Letzte Generation" betroffen.
Die Organisationen Reporter ohne Grenzen (RSF), Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), die betroffenen Unternehmen sowie Fridays for Future klagen derzeit, um die Rechtswidrigkeit der Maßnahmen feststellen zu lassen.
"Letzte Generation" nennen sich die primär Betroffenen nicht, weil sie von einem schnellen Aussterben der Menschheit ausgehen. Vielmehr bezieht sich der Name der Gruppe auf die wissenschaftliche Einschätzung, dass heute lebende Generationen die letzten sind, die den weltweiten Schaden durch klimaschädliche Emissionen noch begrenzen können.