Klimakrise: Der "Klebstoff der Alpen" schmilzt weg
Extreme Temperaturen und Tote am italienischen Marmolata-Massiv: Wie der Klimawandel Europas größtes Hochgebirge verändert.
Immer häufiger fordert der Klimawandel auch in den Alpen Menschenleben: Am Sonntag sind in der norditalienischen Region Trentino bei einem Gletscherabbruch mindestens sechs Bergsteiger in den Tod gerissen worden, gut ein Dutzend Menschen werden noch vermisst. Mindestens 14 Bergsportler wurden von einer Lawine aus Fels und Eis verletzt, einer von ihnen schwer.
Am 3.343 Meter hohen Berg Marmolata, dem höchsten und markantesten der Dolomiten, waren am Wochenende zehn Grad Celsius gemessen worden, die bislang höchste Temperatur. Zudem hat es im vergangenen Winter viel weniger geschneit als im Durchschnitt der letzten zehn Jahre, den Gletschern fehlt vielerorts bereits jetzt der Schneeschutz.
Die Marmolata (italienisch Marmolada) ist sehr beliebt bei Bergsteigern: Die Hochtour über den Normalweg zur "Königin der Dolomiten" gilt als "moderat", obgleich sie über Gletscher führt. Gestartet wird die Tour am Parkplatz am Lago di Fedaia auf gut 2.000 Metern Höhe, in acht Stunden sind sowohl Auf- wie auch Abstieg zu bewältigen. Die Nachrichtenagentur Ansa berichtete, dass die Behörden auf dem Parkplatz 16 Autos registriert haben, deren Halter noch nicht ausfindig gemacht wurden, die Opferzahl könnte also noch steigen.
Ein Ausflug in die Hochalpen ist wie eine Wanderung aus dem Flachland zum Polarkreis: mit jedem Schritt, mit jedem Höhenmeter ändert sich das Klima. Deshalb zeigen die Alpen wie ein Vergrößerungsglas die Folgen der Erderhitzung. Experten warnen seit langem, dass der Klimawandel die Alpen gefährlicher macht. "Am Mont-Blanc-Massiv gab es in Höhen um 3.000 Meter im vergangenen Jahrzehnt bereits Hunderte Felsstürze", sagt Michael Krautblatter, Geologieprofessor an der TU München.
Mittlerweile verändere sich die Landschaft so massiv, dass Bergführer bei gewissen Routen nicht mehr sicher sagen können, ob sie gefahrlos sind. Erfahrungswissen der Alpenbewohner, von Generation zu Generation weitergegeben, gilt nicht mehr. Der Hochvogel ist mit 2.592 Höhenmetern beispielsweise einer der markantesten Gipfel der Allgäuer Alpen – zumindest noch. Denn zunehmende Extremwetter setzen dem Berg derart zu, dass er auseinanderzubrechen droht.
Inzwischen mehrere Seitenrisse
"Von dem Hauptriss, der drei bis zehn Zentimeter im Jahr aufgeht und schon zehn Meter tief ist, gehen inzwischen mehrere Seitenrisse ab", erklärt Geologieprofessor Krautblatter. Nach jedem Starkniederschlag verstärke sich die Felsbewegung zwei, drei Tage lang. "Sicherlich hat es Starkregen schon immer gegeben. In den vergangenen Jahren aber ist Anzahl und Intensität um den Faktor zwei bis drei gestiegen", so Krautblatter.
Wahrscheinlich würde der Hochvogel auch ohne Klimawandel irgendwann auseinanderbrechen – aber die Starkregen beschleunigen den Prozess, bis zu 260.000 Kubikmeter Fels könnten ins Tal stürzen. Ob der Berg in zwei Jahren oder in zwei Jahrzehnten kollabiert, dass kann Krautblatter und sein Team freilich nicht voraussagen. Immerhin ermögliche die angebrachte Messtechnik zwei bis drei Tage zuvor eine Vorwarnung.
An vielen anderen Orten im Hochgebirge verändern die steigenden Temperaturen direkt die Landschaft, die Gletscher schmelzen massiv. Betrug die vergletscherte Fläche zum Beginn der industriellen Revolution noch rund 4.500 Quadratkilometer, so sind es heute keine 1.800 Quadratkilometer mehr. Während die Verlustrate in den ersten 100 Jahren bei zehn bis 15 Quadratkilometern lag, stieg sie nach 1985 auf jährlich 40 bis 45 Quadratkilometer.
Deutschlands größter Gletscher, der "Schneeferner", bedeckte Mitte des 19. Jahrhunderts mit einer Ausdehnung von 300 Hektar noch das gesamte Zugspitzplatt. Heute messen seine Reste nicht einmal mehr 20 Hektar, bis 2050 wird er wohl gänzlich geschmolzen sein.
Deutschlands höchste Forschungsstation
Doch nicht nur die Gletscher schmelzen rasant, auch der Permafrost, der Berggipfel zusammen und Hänge festhält, zieht sich zurück. Der Deutsche Alpenverein beschreibt diesen Permafrost als "Klebstoff der Alpen": Permafrost komme an den Südhängen der Alpen ab rund 3.000 Höhenmetern vor, an Nordhängen bereits ab 2.400 bis 2.600 Höhenmetern. Klar ist, dass dieser Frost dauerhaft keine zehn Grad Celsius Lufttemperatur aushält, wie jetzt im Marmolata-Massiv gemessen. Krautblatter hat mit Kollegen ermittelt, dass die "Bruchzähigkeit, Druck- und Zugfestigkeit um bis zu 50 Prozent und mehr abnimmt, wenn intaktes wassergesättigtes Gestein auftaut."
Schweizer Forscher warnen deshalb, dass Steinschlag, Erdrutsche oder Felsstürze in alpinen Lagen häufiger werden und extremere Ausmaße annehmen, wenn die einst permanent gefrorenen Gebiete weniger werden.
Im Aletsch-Gebiet zum Beispiel (Kanton Wallis) sind bereits Wanderwege verlegt worden, weil Fels plötzlich instabil ist. Im norditalienischen Val Ferret wurden im August 2020 für einige Tage Straßen gesperrt und Häuser evakuiert, am Planpincieux-Gletscher an einer Flanke der Grandes Jorasses im Mont-Blanc-Gebiet waren 500.000 Kubikmeter Eis ins Rutschen geraten und drohten, abzubrechen und ins Tal zu donnern.
Im Schneefernerhaus auf der Zugspitze befindet sich auf knapp 3000 Metern die höchstgelegene Forschungseinrichtung Deutschlands. 2007 trieb das Bayerische Landesamt für Umwelt direkt unter der Seilbahnstation ein gut 40 Meter langes Bohrloch quer durch den Gipfel und brachte mehr als 20 Temperatur-Sensoren an.
"Man kann hier oben den Permafrost sehen", sagt Krautblatter. Und zwar im Kammstollen, der 1928 auf 2.800 Höhenmetern für den Tourismus gegraben wurde: Skifahrer sollten damals bequem von der österreichischen Zugspitzbahn auf die deutsche Seite gelangen. Heute steht im grob gehauenen Zwei-mal-zwei-Meter-Tunnel auf einem Schild: "Stollen wegen Frostschäden teilweise schlecht begehbar." Aber der Stollen dient ohnehin nur noch Forschungszwecken. "Wie Kitt hält Permafrost den Berg zusammen, die Spalten und Risse sind mit Eis gefüllt", erklärt Krautblatter.
Eiszapfen sieht man im Stollen nirgends, denn die entstehen aus wiedergefrierendem Schmelzwasser – und das gibt es hier nicht. Allerdings zeigen die Messungen, dass auch dieses Eis immer wärmer wird. 2007 registrierten die Forscher im Kammstollen noch durchschnittlich minus 1,2 Grad Celsius, mittlerweile sind es nur noch minus 0,7 Grad. "Wir nähern uns dem kritischen Punkt", so Krautblatter. "In zehn, spätestens 20 Jahren wird man hier voraussichtlich keinen Permafrost mehr besichtigen können."
Dieser Schwund hat ungeheures Zerstörungspotenzial – nicht nur durch abstürzende Felsen, sondern auch für das Klima. Ein Viertel der Landfläche der Nordhalbkugel ist dauerhaft gefroren. Alaska, Nordkanada, weite Teile Sibiriens – auf 23 Millionen Quadratkilometern wirkt der Permafrost wie eine riesige Tiefkühltruhe: Im gefrorenen Boden sind gigantische Mengen abgestorbener Pflanzenreste eingeschlossen. Taut das Eis, werden sie durch Mikroben zersetzt und dabei Treibhausgase wie Methan, Lachgas oder Kohlendioxid frei.
Allein im oberen Bereich der Permafrostböden stecken bis zu 1.600 Milliarden Tonnen Kohlenstoff – fast doppelt so viel, wie sich derzeit in der Erdatmosphäre befindet. Wird er frei, wäre das eine Katastrophe.
Forschern gilt der Permafrost als möglicher Selbstverstärkungs-Mechanismus des Klimawandels: Hat die Erdtemperatur einen bestimmten Wert einmal überschritten und das Tauen angestoßen, beschleunigen die dann frei werdenden Treibhausgase die Erhitzung noch weiter. Schon jetzt sind die Dauerfrostgebiete in Sibirien und Nordamerika drastisch geschrumpft, ihre Grenze hat sich um bis zu hundert Kilometer Richtung Nordpol zurückgezogen.