Kollektive Aufmerksamkeitsspanne wurde in den letzten Jahren geringer
Eine empirische Untersuchung bestätigt die Vermutung, dass auch die kollektive Aufmerksamkeit ein Flaschenhals ist, durch den immer mehr in kürzerer Zeit gedrückt wird
Wir sind gefangen in der Aufmerksamkeitsökonomie, was heißt, dass Aufmerksamkeit ein knappes Gut geworden ist und dementsprechend umkämpft wird. Nach den traditionellen Medien haben die großen Internetkonzerne Techniken entwickelt, wie sie die Aufmerksamkeit der Menschen binden und halten können. Dass das gelingt, verraten nicht nur Umfragen über die steigende Mediennutzung, sondern auch der Blick in den öffentlichen Raum, wo immer mehr Menschen, wenn sie nicht telefonieren oder Musik hören, auf die Bildschirme der Smartphones starren, also den Blick abwenden.
Aber weil es verschiedene Methoden gibt, wie vor allem soziale Medien eine Sucht erzeugen, wird der Mediennutzer, also praktisch jeder, einem Sperrfeuer an Informationen und der Möglichkeiten von Interaktionen ausgesetzt. Um kognitiv zu überleben und damit einem nichts aus der Vielzahl der Quellen entgeht, was die Grundfunktion von Aufmerksamkeit ist, muss das Abscannen beschleunigt und auf Multitasking umgestiegen werden. Mit der Adaption an hohe Geschwindigkeiten in der digitalen "Montage der Attraktionen" wird Langsames und Gleichbleibendes langweilig und zum Hintergrund, die Aufmerksamkeit verlangt schnellen Wechsel, die Aufmerksamkeitsspanne wird kleiner.
Die Aufmerksamkeit bleibt gleich hoch, aber der Durchsatz beschleunigt sich
Ein Wissenschaftlerteam aus Deutschland, Großbritannien und Dänemark will nun empirisch die oben angestellte Vermutung bestätigt haben, dass die kollektive Aufmerksamkeitsspanne, also die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auf etwas zu konzentrieren, tatsächlich kürzer geworden ist. Sie haben, wie sie in Nature Communications schreiben, Daten von Twitter (2013-2016), 100 Jahre zurückreichende Bücher von Google Books, Verkäufe von Kinoeintrittskarten in den letzten 40 Jahren und Zitate von wissenschaftlichen Veröffentlichungen der vergangenen 25 Jahre mit Daten von Google Trends (2000-2018), Reddit (2010-2015) und Wikipedia (2012-2107) untersucht. Dabei ging es nicht darum, wie die Aufmerksamkeit eines einzelnen Menschen tickt, sondern um die kollektive Aufmerksamkeit, die Themen, Moden oder Trends aufgreift, verstärkt und wieder fallenlässt, also um die statistisch erfassbare soziale Dynamik der kollektiven oder Massenaufmerksamkeit.
Danach ist die kollektive Aufmerksamkeit auf einzelne kulturelle Angebote kürzer geworden. Die Wissenschaftler führen dies darauf zurück, dass mehr Content produziert und konsumiert wird. So wurden beispielsweise Peaks der globalen ersten 50 Hashtags immer häufiger, wobei sich aber die Höhe der Peaks nicht veränderte - die Aufmerksamkeit blieb also in etwa gleich hoch, aber der Durchsatz oder der Wechsel beschleunigte sich. Das weist darauf hin, dass auch die kollektive Aufmerksamkeit ein Flaschenhals mit begrenzter Kapazität ist. 2013 blieb ein Hashtag unter den Top 50 noch 17,5 Stunden, 2016 nur noch 11,9 Stunden. Die kollektive Aufmerksamkeit baut sich danach immer schneller aufgrund der engen Vernetzung der Informations- und Kommunikationsströme auf, aber verliert auch schneller die Konzentration, d.h. die Langeweile setzt auch schneller ein, weswegen dann gewissermaßen die nächste virtuelle Sau durchs globale Dorf getrieben werden muss, als mehr neuer Content geschaffen werden kann und muss.
Ähnlich ist dies für bei Reddit-Beiträgen mit den meisten Kommentaren oder bei den am häufigsten verwendeten N-Grammen in Google Books pro Jahr sowie für die 20 häufigsten Suchbegriffe pro Monat auf Google oder Kinotickets von bekannten Filmen. Eine Ausnahme scheinen Zitatverweise auf wissenschaftliche Artikel und Wikipedia zu sein, wo stündlich die 100 am meisten besuchten Einträge ausgewertet wurden. Ein gewisser Effekt wurde nur bei sehr viel zitierten Wissenschaftsartikeln beobachtet, bei Wikipedia nicht, wo die Aufmerksamkeit gleichbleibend zu sein scheint. Ob das etwas mit Wissenschaft oder einer geringeren Suche nach Neuheit zu tun hat, ist unklar, es geht jedenfalls nicht um Unterhaltung.
Die Wissenschaftler halten fest, dass eine höhere Produktion und Konsumtion von Content bei einer begrenzten kollektiven Aufmerksamkeit zu einer Verkürzung der Aufmerksamkeitsspanne und zu schnellerer Abwechslung führt. Es muss also mehr Content in dasselbe Zeitfenster gepackt werden, was auch heißt, dass die Alterung schneller geschehen muss, was die Erinnerungsfähigkeit schwächen dürfte. Das nicht mehr Neue verschwindet immer schneller ins Vergessene, wenn es nicht recycelt wird, weil es plötzlich wieder als neu erscheint.
Für die Content-Produzenten ist jedenfalls die Jagd nach Neuheit oder Spektakel und der schnelle Wechsel bestätigt, um im Hamsterrad bestehen zu können. Die Aufmerksamkeitsstörung wäre eine Anpassung an die neuen Bedingungen, aus denen sich möglicherweise eine neue Kultur entwickelt, Computerspiele dürften deren Vorschein sein. Aufmerksamkeits- oder Achtungsschulung sind bereits zu einem Markt für diejenigen geworden, die nicht mehr mithalten können.
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