Kommen nach den "science wars" die "reference wars"?
Wandel der Wissenskultur durch Netzplagiate und das Google-Wikipedia-Monopol
Wer eben mal schnell wissen will, wann sich Habermas habilitierte oder was nun Gotthard Günther mit "Polykontexturallogik" genau meinte, der befragt Google oder gleich die Wikipedia. Die Vorteile sind unübersehbar: Es müssen keine dicken Bände durchforstet werden, der Gang in die Bibliothek und zum vergilbten Zettelkasten ist nicht mehr notwendig. Mittlerweile sind Google-Ergebnisse und Wikipedia-Beiträge zu Wissensautoritäten, zu Wissensmonopolen neuer Art geworden: Veröffentlicht und öffentlich zugänglich erscheint oft nur noch, was von Google gefunden wird und/oder in die Wikipedia aufgenommen wurde.
Wir ertappen uns dabei, einem Beitrag in der Wikipedia oftmals bereits mehr Vertrauen zu schenken als einem Eintrag in einem gedruckten Handbuch oder Lexikon. Zumal wenn letzterer auch noch namentlich gekennzeichnet ist, lesen wir den Print-Eintrag oft stärker unter subjektiven Prämissen als die ungemein objektiv und depersonalisiert wirkenden Wikipedia-Einträge. Bei diesen, so glauben wir, können wir uns in der Regel auf das selbstreinigende Potenzial eines kollaborativen Hypertextes verlassen: Falsche Angaben, ja selbst kleinere Unschärfen werden früher oder später erkannt und korrigiert werden. Bei Lexika oder Handbüchern kann das hingegen oft Jahre dauern.
Kollaboratives Umschreiben – von welchem Ausgangstext eigentlich?
Der bequeme und enorm zeitsparende Weg zu Google und Wikipedia verstellt uns oft die Sicht auf ein Problem, das bislang noch kaum diskutiert wurde: In Frage steht nicht, wie einmal in die Wikipedia eingespeiste Texte durch kollaboratives Arbeiten am Text korrigiert werden, problematisiert werden sollte vielmehr, wie der Ursprungstext eines Wikipedia-Beitrags eigentlich zustande gekommen ist.
Sehen wir uns dazu zwei Beispiele an: Der Beitrag Journalismustheorien etwa strahlt auf den ersten Blick hohe wissenschaftliche Seriosität aus: Alles scheint korrekt zitiert zu sein, und der Bogen spannt sich recht umfassend von den frühen personalistisch-idealisierenden Ansätzen bis zu heute vertretenen Theorien wie Strukturierung, Cultural Studies, Konstruktivismus und Systemtheorie.
Doch die Einteilung der Journalismustheorien in "normativen Individualismus", "legitimistischen Empirismus" oder "integrative Sozialtheorien" macht den Kenner stutzig: sie ist keine systematisierende Eigenleistung des Wikipedia-Erstautors. Die Systematik stammt vielmehr vom an der TU Ilmenau lehrenden Medienwissenschaftler Martin Löffelholz. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass ein Großteil des Wikipedia-Textes eine Paraphrase (wenn man es gut meint) oder ein Plagiat (wenn man es nicht beschönigend aussprechen will) einer Arbeit von Martin Löffelholz darstellt, die 2003 im Handbuch "Öffentliche Kommunikation" (Westdeutscher Verlag) publiziert wurde. So weit, so gut, werden Sie sagen, und wo liegt das Problem?
Verstoßen Wikipedia-Texte permanent gegen das Urheberrecht?
Es geht hier gar nicht primär um den Schutz des Copyrights des Originalautors bzw. des Verlags, obwohl jeder Wikipedia-Autor die folgenden beiden Hinweise vor dem Verfassen eines Textes eigentlich gelesen haben müsste:
Du versicherst hiermit, dass du den Text selbst verfasst hast [...].
Das Kopieren urheberrechtlich geschützter Werke ohne Erlaubnis des Autors ist verboten. [Fett im Original]
Der Wikipedia-Texter könnte nun antworten: Er habe die Paraphrase (oder eben das Plagiat!) der Arbeit von Martin Löffelholz ja selbst verfasst. Deshalb handle es sich um keine Kopie, weshalb der Autor auch nicht um Erlaubnis gefragt werden müsse (genau derartige Missverständnisse bilden den Kern eines meines Erachtens neuartigen Problems mit der "Referenz-Kultur"). Angemerkt werden sollte an dieser Stelle: Der Autor Martin Löffelholz wurde nicht gefragt – vielmehr war er erstaunt, eines Tages große Teile einer seiner Arbeiten in der Wikipedia zu finden: "Zufällig bin ich auf den Wikipedia-Artikel über Journalismustheorien gestoßen. Ganze Passagen des Artikels ähneln – teilweise sogar wörtlich – Beiträgen, die ich an anderer Stelle veröffentlicht habe", berichtet Löffelholz gegenüber Telepolis. Sein Urteil ist klar: "Dem Zitationsgebot kommt der Wikipedia-Artikel nicht hinreichend nach."
Das komplexere Problem liegt jedoch nicht in der Copyright-Frage, sondern ganz wo anders: Studierende, die nun den Eintrag "Journalismustheorien" lesen, werden – nicht zuletzt auf Grund der Wissensautorität, die der Wikipedia zugeschrieben wird – davon ausgehen, dass hier korrekt vorgegangen wurde: Sie bemerken ja in der Regel nicht, dass ganze Absätze nahezu 1:1 übernommen wurden, und der lapidare Vermerk am Ende eines jeden Absatzes – wie etwa "(nach Löffelholz 2003, S. 36-37)" – könnte ihnen als korrekte Zitierweise erscheinen. In jeder guten Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten lernt man jedoch: Das ist ganz und gar nicht korrekt, weil dann für den Leser nicht mehr klar ist, was nun von wem stammt.
Ein weiteres Problem: Plagiate oder auch nur Paraphrasen auf der Wikipedia nötigen den Plagiierten, selbst Änderungen am Text vorzunehmen. Nun kann aber nicht davon ausgegangen werden, dass ein Wissenschaftler große Lust (oder auch genug Zeit) hat, an einer Paraphrase seines eigenen Textes herumzuarbeiten. Martin Löffelholz dazu: "Wenn ich mich als wissenschaftlicher Autor ständig mit Plagiaten auseinandersetzen müsste, wäre dies schon ein erheblicher Nachteil." Das heißt: Wer einmal ein Plagiat in die Wikipedia gestellt hat, der kann damit rechnen, dass dieses entweder ganz gelöscht wird oder aber das 'Rumpf-Plagiat' im Wesentlichen als Basis für weitere Korrekturen erhalten bleibt.
Netzplagiate: Zwischen 15 und 50 Prozent der Arbeiten?
Ein anderes Beispiel: Auch der Eintrag Theorie der Fotografie stammt nicht nur von jenen Autorinnen und Autoren, deren Nicknames unter "Versionen/Autoren" aufgelistet sind. Zwei Absätze wurden nahezu wortwörtlich abgeschrieben von einem Text des Autors dieses Telepolis-Beitrags. Ich hatte ihn 1999 in dem Suhrkamp-Band "Konstruktivismus in der Medien- und Kommunikationswissenschaft" publiziert. Zitate von Arthur Kroker oder Siegfried J. Schmidt, die ich – man muss es betonen: als genuine Eigenleistung – herausgesucht habe, finden sich sinnentstellend wieder in einem Eintrag zur "Theorie der Fotografie" – zu einem Thema, mit dem mein Originalaufsatz eigentlich gar nichts zu tun hatte. Wenn an einer Stelle so gearbeitet wurde, wie ist dann der Rest des Eintrags zustande gekommen?
Bloße Haarspalterei, Erbsenzählerei eines überakribischen Medienwissenschaftlers oder doch Indizien für einen sich abzeichnenden fundamentalen Wandel der Autorenreferenz? Nach einer Häufung weiterer Hinweise optiere ich für Letzteres:
- Bereits im November 2004 behauptete die Hamburger Medienkulturwissenschaftlerin Joan Bleicher in einer dpa-Meldung: "Bis zu 15 Prozent der angehenden Akademiker in Deutschland laden sich [...] wissenschaftliche Artikel aus dem Internet herunter, um damit ungekennzeichnet ihre eigenen Arbeiten aufzuwerten." Gegenüber Telepolis berichtet Bleicher heute, sie habe in Reaktion auf diese Meldung zahlreiche E-Mails erhalten, deren einhelliger Tenor überraschte: Bleichers Schätzwert sei zu niedrig, einige Wissenschaftler-Kollegen gingen von bis zu 50 Prozent zumindest teilweise plagiierten Arbeiten aus. Besonders beliebte Tricks wurden erwähnt: Die Einleitung und das Schlusskapitel werden selbst geschrieben, der Rest verdankt sich dann der Copy, Shake & Paste-Methode. Und längst wird nicht mehr nur aus online verfügbaren Texten gesampelt: Immer öfter kommt es auch vor, dass Kapitel von bereits existierenden Seminar- oder Diplomarbeiten eingescannt und diese dann mittels Optical-Character-Recognition-(OCR-)Software in einen weiterbearbeitbaren Text umgewandelt werden: Der vermeintliche wissenschaftliche Texter wird somit vollends zum versierten Computertechniker, zum Software-Trickser.
- Seit Mitte Mai 2005 werden am Geschichte-Institut der Universität Wien alle Diplomarbeiten und Dissertationen mittels Plagiatserkennungssoftware überprüft. Fünf von 30 Arbeiten waren trotz eines zuvor bekannt gewordenen Präzedenzfalls zumindest zum Teil plagiiert, berichtet das österreichische Nachrichtenmagazin "profil" ("profil extra uni" vom 12. September 2005).
- Im Juli 2005 wurde einem Tübinger Theologie-Absolventen der Doktorgrad aberkannt, weil 110 Seiten seiner 215 Seiten umfassenden Doktorarbeit so gut wie wortidentisch waren mit der Dissertation des Telepolis-Autors, der seine Arbeit 1996 in Buchform publiziert hat. Der Absolvent hatte magna cum laude promoviert, und ihm standen Tür und Tor offen zur Habilitation. Gegenwärtig wird geprüft, wie stark die Übereinstimmungen der übrigen Seiten der Dissertation mit einer ebenfalls bereits existierenden Arbeit (München 1992) sind. – Der Fall wurde durch einen kuriosen Zufall aufgedeckt. Doch wie viele Plagiatsfälle bei Diplom- und Doktorarbeiten bleiben für immer unentdeckt?
Alles Einzelfälle, bloße Koinzidenzen, oder doch die Spitze des Eisbergs in einem kaum noch zu entwirrenden Sumpf aus Copy/Paste, aus Einscannen und OCR-Software, aus Umschreiben, Zitat-Zitaten und 'Originalen', die nie gelesen wurden? Fest zu stehen scheint: Geistiges Eigentum flottiert frei herum – und im Netzzeitalter mehr denn je. Zu diskutieren wird in diesem Zusammenhang auch die Frage sein, wie oft Internetprojekte, die vordergründig der Vernetzung von Wissen und dem Informationsaustausch dienen, eigentlich für schamloses Copy/Paste verwendet werden (wie etwa die österreichische Arbeiten-Börse Mnemopol).
Offen diskutiert werden müssten auch die negativen Aspekte des Google-Wikipedia-Wissensmonopols. Martin Löffelholz diagnostiziert in diesem Zusammenhang einen Qualitätsverlust der wissenschaftlichen Arbeiten: "Schon seit längerer Zeit machen wir an unserer Universität die Erfahrung, dass Studierende primär Instrumente wie Google oder Wikipedia nutzen, um sich einen Überblick zu einer bestimmten wissenschaftlichen Frage zu verschaffen. Damit erhalten diese Studierenden aber keineswegs den aktuellsten und relevantesten Forschungsstand. Das führt zu einem deutlichen Qualitätsverlust in der wissenschaftlichen Arbeit."
Die vielen Gesichter des Netzplagiarismus sind derzeit ein Fass ohne Boden. Was könnte oder muss daher kurzfristig getan werden?
- Joan Bleicher regte an, "Netzplagiate" als neu zu definierende Delikte in die Prüfungsordnungen der Universitäten aufzunehmen. Es kann wohl in Zukunft nicht mehr genügen, wenn aufgedeckte Plagiatoren einfach um ein Um- oder Neuschreiben ihrer Arbeit gebeten werden. Sie haben ja offenbar bereits gezeigt, dass sie an genuinem Texten nicht interessiert sind oder dieses nicht beherrschen.
- In einem Weblog wurde vorgeschlagen, eine Lehrveranstaltung "Einführung in alte Kulturtechniken" in die Lehrpläne aufzunehmen. Darunter fielen dann Dinge wie: mit der Hand schreiben, Texte genau lesen, in realen Bibliotheken recherchieren. Das hört sich zunächst etwas plakativ an, die erwähnten Techniken scheinen aber genau jene Kernkompetenzen zu sein, die den Studierenden in der Studieneingangsphase derzeit offenbar nicht (mehr) vermittelt werden. Und solange noch nicht alle Texte aus realen Bibliotheken eingescannt und in digitalen Archiven verfügbar sind, wird eine solche Lehrveranstaltung Sinn machen. Gegenwärtige Studierende bewegen sich oft hochselektiv in jener Menge von Texten, die online verfügbar sind. Historische Tiefe wird vorgetäuscht, indem einfach historische Zitate aus Online-Texten übernommen werden. Ein derartiges Lehrmodul könnte da wohl Abhilfe schaffen.
- Im härtesten Fall könnten besonders dreiste Plagiatoren sogar von der Universität verwiesen, also exmatrikuliert werden. Medienwissenschaftler Martin Löffelholz will das für die Zukunft nicht ausschließen: "Bisher haben wir von der drakonischsten Strafe, nämlich der Exmatrikulation, abgesehen. Sollten solche Fälle jedoch zunehmen, müssen die Universitäten deutlich schärfer reagieren, um das Niveau wissenschaftlicher Arbeit und den Urheberschutz zu gewährleisten."
Lehrmodul "Einführung in alte Kulturtechniken" gefordert
Die Wissenskultur und vor allem die Kulturtechnik der Textproduktion wandeln sich rapide. Umso erstaunlicher ist, dass es gegenwärtig zu diesem Thema kaum Forschungen gibt und auch in den Medien von einer vermeintlichen Zunahme von Textbetrug und Heuchelei in den (Kultur-)Wissenschaften – bis auf wenige Einzelfälle – nichts zu hören ist. Doch der Wandel der Konstruktion von Referenz würde eine Diskussion auf einer breiteren Ebene erfordern.
Wo bleiben die großen Forschungsprojekte, die den Anteil der aufgedeckten Plagiatsfälle an den insgesamt abgegebenen Arbeiten mit Hilfe einer repräsentativen Befragung von Lehrenden erheben? Wo bleiben die Lehrstühle oder Forschergruppen für Netzplagiate und wissenschaftliche Text-Fakes? Zumindest die Diskussion darüber, ob das Problem tatsächlich ein Problem ist, sollte nun endlich einsetzen. Der Hut brennt, denn: Ist es am Ende bereits möglich, ein Studium erfolgreich abzuschließen, ohne jemals eine Bibliothek von innen gesehen zu haben? Die Antwort von Joan Bleicher kann man sich ausmalen.