Kommt bald das Ende aller Metropolen?

Internet-Unrecht goes Real Life: Konzern will ein Wort komplett verbieten lassen

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Mal heißt es "Internet ist aber nun mal wichtiger als das richtige Leben!", wenn sich jemand eine fremde Internet-Adresse und die darunter eintrudelnden Mails per einstweiliger Verfügung innerhalb weniger Stunden einverleiben will, mal heißt es "ach, es ist doch bloß eine Domain und bloß ein paar private Mails – und Kommerzinteressen haben nun mal stets dem Schutz der Privatsphäre vorzugehen". Doch der Markenwahnsinn ist vom Internet längst wie befürchtet auf die "normale" (?) Welt übergesprungen.

Schreibt man über die durch den Missbrauch von Marken- und Namensrecht regelmäßig ausgelösten Komplikationen, so muss man sich des Öfteren von Juristen sagen lassen, man neige zur Übertreibung. Doch selbst mit großer Phantasie könnte man sich gar nicht ausdenken, auf was für Absurditäten Konzerne, missgünstige Mitmenschen und Gerichte tagein tagaus so kommen – und was die Folgen sein können.

Man hört zwar kaum mehr von Domainstreits, weil Medien und Leser längst müde sind, vom 1000. Fall zu erfahren und die Internetuser mittlerweile zur gnadenlosen Häme übergehen ("warum wollteste auch eine eigene E-Mail-Adresse, weiß doch inzwischen jeder, dass das Ärger gibt, es gibt doch bessere Alternativen wie T-Online, AOL, GMX oder Web.de"). Die lange erhoffte Stabilisierung der Rechtssprechung geht in die falsche Richtung ("Im Zweifelsfall gegen den Angeklagten"): eine Richtung, die den Angreifer dank der BGH-Urteile zu Shell.de und Maxem.de inzwischen sogar noch mehr belohnt und dem Angegriffenen nur noch die Wahl lässt, ob er viel (in einem Prozess) oder wenig (durch Aushändigen der Domain) verlieren will. Gewinnen kann ein Verklagter sowieso nichts.

Im Fall Shell holte sich der Konzern von einem Privatmann namens Shell die Domain shell.de, nachdem dieser sie einem Domaingrabber abgekauft hatte. Selbst wollte der Shell-Konzern zuvor dem Grabber nichts zahlen und sparte so das Geld, während der Privatmann auf den Kosten sitzen blieb. Tenor des BGH: Das öffentliche Interesse setzt die kommerziellen Konzerninteressen an erste Stelle.

"Ich bin Anwalt, ich darf das"

Bei Maxem wollte ein Rechtsanwalt mit Nachnamen Maxem die T-Online-E-Mails eines Onlinespielers einkassieren und später auch dessen Domain, der in den Spielcommunities ebenso als Maxem bekannt war und deshalb auch diese Adressen belegte. Bei der T-Online-Adresse scheiterte der Anwalt, bei der Domain, die ebenfalls nur für E-Mail genutzt werden sollte, gab ihm der BGH Recht: Ein "echter" Namensträger habe das Recht, einem Pseudonym-Namensträger dessen Internet-Adresse abzunehmen. Immerhin die einstweilige Verfügung mit dem Ziel, die Mails des Gegners einzukassieren, bevor dieser seine Mailpartner warnen konnte, scheiterte.

Auf das Maxem-Urteil spekulierte nun ein Herr Olaf Sack, seines Zeichens Jungdynamiker aus Dresden. Der heißt nämlich seit etwa einem Jahr durch Heirat Kerner. Und als Katja Schwender aus Nürnberg, die ihren Künstlernamen Kerner seit fünf Jahren sogar amtlich im Ausweis eingetragen hat, wegen ihrer Ausbildung ihr selbstständiges Gewerbe abmelden muss, denkt sie daran, auch ihre Domain kerner.de für 800 Euro auf einer Domainbörse anzubieten, um ihre Schulden loszuwerden. Doch der Arbeitgeber übernimmt sie nach der Ausbildung nicht wie versprochen und sie zieht das Verkaufsangebot zurück, um wieder selbstständig tätig zu werden. Doch zu spät – Olaf Sack hat sich bereits die Adresse in den Kopf gesetzt. Katja Schwender verlangt nun einen "Mondpreis", doch statt empört "nein" zu sagen, folgt der Rechtsweg. Er heißt ja seit einem Jahr "richtig" Kerner und Frau Schwender zwar bereits seit fünf Jahren, aber nur als Zweitname. Mit Bezug auf den Maxem-Fall pflichtet ihm das Amtsgericht Nürnberg bei: Herr Sack/Kerner darf die Domain kerner.de einsacken, Verzeihung, einkernern.

Erst ein Jahr den neuen Namen und schon die passende Domain dazu erklagen?

Katja Schwender bekommt nun statt des erhofften Erlöses noch Gerichtskosten aufgebrummt und ist verständlicherweise sauer, wird jedoch in ihrem Forum und anderswo nur angepöbelt. Sogar dem ZDF soll sie nach Meinung der Besucher die Domain übergeben, obwohl der eigentlich gemeinte Talkmaster Kerner bislang gar kein Interesse an der Domain hat. Allerdings scheint der Hauptakteur im "Kampf-um-Kerner-Forum" neben dem üblichen Trollbefall der Kläger selbst zu sein – wer das Recht auf seiner Seite hat, darf in Deutschland anscheinend auch öffentlich beleidigen. Die Folge: Eine Schlammschlacht, wie es sie selbst um den zweifelhaften Fall verona-feldbusch.info nicht gegeben hatte und bei der niemand mehr etwas gewinnen kann.

Wenn es danach geht, hätte das ZDF im Übrigen auch Rechte an maier.de und mueller.de, denn es arbeiten auch genug Leute mit diesen Namen dort. Doch das ZDF hatte sich seinerzeit zwar durchaus erkundigt, ob die Domain kerner.de zu kaufen sei, doch – zugegeben untypisch für eine öffentlich-rechtliche Anstalt – das "nein" ohne Wenn und Aber akzeptiert.

Herr Sack/Kerner könnte auch nur kurze Freude an seinem Beutestück haben, denn wie man am Fall Shell.de sieht, überlegen es sich Leute mit besseren Rechten nach dem Besitzerwechsel einer Adresse gerne noch einmal und machen diese dann plötzlich doch geltend. Der Talkmaster könnte also plötzlich "vergessen", dass er die Adresse bisher gar nicht brauchte oder sagen, dies habe ja nur für Frau Schwender gegolten.

Eigentum ist Diebstahl?

Katja Schwender will in Berufung gehen. Ihre ehemalige Adresse musste sie jetzt jedoch erstmal stilllegen, womit diese selbst bei einem Prozessgewinn nur noch als Verkaufsobjekt taugen würde und die jetzige Adresse "Kampf um Kerner.de" ist zum Wiedereinstieg als Selbstständiger natürlich die reinste Antiwerbung. Also wie üblich ist mal wieder alles hoffnungslos verfahren.

Domaininhaber sitzen heute durchweg auf einer Zeitbombe, denn bei fast jedem Privatmann oder Kleinunternehmen wird sich irgendwann jemand finden, der auch nach 20 Jahren ohne Domainärger noch bessere Rechte geltend machen kann oder dies zumindest glaubt und sich die fremde Adresse dann einfach per Klage "einkauft". Der Domainbesitzer ist fast immer in der schwächeren Position, weil die Gerichte irrtümlich davon ausgehen, dass jemand, der klagt, sich auch wirklich bedroht oder benachteiligt fühlt. Meist geht es aber wie schon einst bei dw.com (Verfahrensmissbrauch: WIPO rügt Deutsche Welle) nur darum, zu schauen, ob man damit durch kommt. Gerichte sind ja nicht unfehlbar und entscheiden mit einem gewissen Prozentsatz auch "sonnenklare" Fälle falsch; wer genug Geld für einen Anwalt hat, wird es also einfach mal versuchen. Und auch, wenn es misslingt, wird bei einer attraktiven Adresse nach ein paar Monaten die nächste Klage kommen – irgendwann klappt es dann schon.

So bescheuert geht es nur im Internet zu? Nein, durchaus nicht!

Eine Maildomain ist deshalb reichlich sinnlos, wenn die juristisch halbwegs sichere Mailadresse in der Form vorname.nachname@vorname-nachname.de noch länger wird als eine Provider-E-Mail und die kürzere Variante beispielsweise als vorname@nachname.de jederzeit eingeklagt werden kann: In Deutschland gilt die Nutzung einer Domain für Mailzwecke nicht als schützenswerte Nutzung, obwohl das heute von den Juristen priorisierte World Wide Web erst lange nach dem Domain Name System erfunden wurde.

Konnte man bislang nur raten, sich von Domains, die Namen (auch den eigenen) und nicht Begriffe zur Grundlage haben, ebenso wie von Domainbörsen tunlichst fernzuhalten, so ist das inzwischen auch Geschichte. Ein Handelsunternehmen, zu dem auch die Real-, Extra- und Media-Märkte gehören sowie Saturn-Hansa, Praktiker und Kaufhof und das dieser Tage 40-jähriges Jubiläum feiert, klagt nämlich überall seinen eigenen Namen ein, der jedoch gleichzeitig auch ein Allgemeinbegriff ist:

Metro (gr. lat. fr.) die Untergrundbahn (bes. in Paris und Moskau).

Duden Fremdwörterbuch

Bei den Domains hatte es hier einige U-Bahn-Fans erwischt, darunter mehrere Schüler und Robert Schwandl, der im Selbstverlag auch zwei Bücher mit U-Bahn-Bildern herausgebracht hatte sowie eine Werbe-Infoseite über Metrosexuelle. Viel Ärger und einige Unkosten waren wieder einmal die Folge. Doch eines kann man der Metro AG zumindest nicht nachsagen: Sie geht nicht nur gegen die Kleinen vor. Nein, sie möchte den obigen Eintrag im nächsten Duden auf keinen Fall wieder finden und geht deshalb nun auch gegen jedes Verkehrsmittel vor, das irgendwo "Metro" im Namen trägt sowie gegen eine Gratiszeitung diesen Namens.

So wurde die Hamburger Hochbahn vor Gericht geladen, weil sie Metro-Busse einsetzt, die aber nicht in den Metro-Großmarkt fahren – der ja auch nur für Gewerbetreibende ist, die kommen nicht mit dem Bus – und aus dem gleichen Grund die Münchner Verkehrsbetriebe und die Berliner Verkehrsbetriebe. Auch die Berliner Metrocard der BVG endete vor Gericht.

Völlig bescheuert? Ausgeschlossen, dass das vor Gericht durchgeht? Nein, durchaus nicht: Der Metro-Express durfte anstelle des freiwillig abgesagten Metrorapid nach Einspruch aus Düsseldorf, dem Sitz der Metro AG, ebenfalls nicht mehr zwischen Dortmund und Köln verkehren, die Metro AG ließ es erfolgreich vom Gericht untersagen. Wer weiß, wie lange die Metro in Paris noch unter diesem Namen fahren darf?

Ursprünglich bezieht sich "Metro" als Vorsilbe übrigens auch keineswegs auf die U-Bahn, sondern auf die Großstadt. Deshalb gibt es neben dem Wide Area Network WAN und dem Local Area Network LAN auch das Metropolitan Area Network MAN – nicht verwandt oder verschwägert mit der LKW-Firma und auch nicht mit der Pariser U-Bahn.

Metropole (gr. lat.; "Mutterstadt") die a) Hauptstadt mit weltstädtischem Charakter; Weltstadt b) Stadt, die als Zentrum für etwas gilt

Duden Fremdwörterbuch

Und dann gibt es ja noch die Metropole an sich. Und den berühmten Film Metropolis von Fritz Lang sowie eine gleichnamige Metropolis AG und einen Metropolis Verlag. Und Hunderte anderer Metro-haltiger Begriffe.

Noch. Doch der Konzern-Anwalt wetzt schon die Messer. Auch Die letzte Metro, einer der letzten Filme von Francois Truffaut, heißt nun wohl bald völlig unromatisch Die letzte U-Bahn oder gar Der Zug ® ist abgefahren™.