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Frankreich: Die Corona-Krise verändert das Verhältnis von Kapital und Arbeit
Frankreich weist im Vergleich zu Deutschland eine geringere Zahl an offiziell registrierten Coronavirus-Infizierten auf. Am gestrigen Dienstagabend waren es laut der Covid-19-Registrierung der Johns Hopkins University 45.232 gegenüber 68.180 in der Bundesrepublik.
Doch wird für das Nachbarland eine weitaus höhere Totenzahl verzeichnet. 3.523 Menschen verstarben bisher westlich des Rheins in Zusammenhang mit Covid-19, erklärte der "Generaldirektor für Gesundheit(spolitik)", Jérôme Salomon, gestern Abend um 20 Uhr. Für Deutschland registrierte Johns Hopkins gestern Abend 682 Tote.
Dieser flagrante Unterschied dürfte darauf zurückzuführen sein, dass in Deutschland ungleich mehr Tests durchgeführt werden, auch an Personen, die noch nicht eindeutige und gravierende Symptome aufweisen. Dies bedeutet, dass die Gesamtzahl der Infizierten in Frankreich eine hohe Dunkelziffer aufweisen und im sechsstelligen Bereich liegen dürfte - denn die Sterblichkeitsrate dürfte dieselbe sein, bezogen auf die reale Zahl der Angesteckten.
Am 09. März waren es noch nur 1.000 Tests täglich, die auf französischem Staatsgebiet durchgeführt wurden. Regierungszahlen verkündeten am Tag darauf, diese Anzahl solle innerhalb von zwei Wochen auf 29.000 gesteigert werden. Am Donnerstag, den 26. März wurde das Erreichen diese Zielsetzung beim einflussreichen Privatfernsehsender BFMTV jedoch unter dem Titel "mission impossible?" explizit in Frage gestellt.
Dazu erklärte Philippe Froguel, Leiter eines Forschungslabors am Universitätskrankenhaus der Region Nordfrankreich in Lille: "Es herrscht ein derartiges Chaos auf Regierungsebene, aber auch bei den Regionalregierungen", dass ein Erreichen dieses Ziels ausgesprochen fraglich sei. Der TV-Sender sprach zugleich davon, östlich des Rheins liege die Anzahl in Deutschland durchgeführter Tests zu dem Zeitpunkt achtzig Mal höher als in Frankreich.
Markantes Unvermögen der Regierung
Auch an Gesichtsmasken mangelt es auf manifeste Weise. Der eingangs erwähnte Generaldirektor für Gesundheitspolitik (DGS) im Gesundheitsministerium, Professor Jérôme Salomon, machte anfänglich aus der Not eine Tugend und erklärte bei seinen allabendlichen, im Fernsehen übertragenen Pressekonferenzen das Tragen einer solchen vor dem Gesicht sei bestenfalls unnütz, wenn man nicht selbst Krankheitsüberträger sei, was inzwischen als Regierungsdoktrin jedoch überholt ist.
Während Österreich das Tragen einer Gesichtsmaske in Supermärkten inzwischen zwingend vorschreibt, wird dieses Kleidungsstück in Frankreich zwischen den Zeilen inzwischen auch von offizieller Seite als ratsam anerkannt.
Das Problem ist nur: Es gibt keine oder bei weitem nicht genug - während im Jahr 2009/2010 noch ein Vorrat an einer Milliarde Masken einfachen Typs und von rund 600 Millionen chirurgischer Gesichtsmasken vom Typ FFP2 bestand.
Damals hatte die seinerzeitige Gesundheitsministerin Roselyne Bachelot in Erwartung einer gefährlichen Grippeepidemie (die dann nicht wie erwartet kam, was ihr viel Medienspott und Häme in der öffentlichen Meinung eintrug und zum Kurswechsel führte … jedoch die Vorsichtsmaßnahme nicht nachträglich unbegründet werden ließ) Masken und Impfstoff bunkern lassen.
Unter Premierminister François Fillon wurde daraufhin beschlossen, aufgrund der Lagerungs- und Erneuerungskosten sei dies unwirtschaftlich, überhaupt zu teuer, und man könne Masken ja notfalls bestellen, schließlich würden diese ja für den Weltmarkt produziert (ja… in China, Volltreffer! Und im Nachhinein bravo für die tolle Idee!). Die nachfolgende Gesundheits- und Sozialministerin Marisol Touraine - Amtsinhaber unter Präsident François Hollande ab 2012 und bis 2017 - redete sich zu Anfang voriger Woche im Fernsehen darauf heraus, unter ihren Fittichen seien "noch 750.000 Masken" vorhanden gewesen.
Das Schlimmste daran ist: Im Mai 2019 hatte eine Expertenversammlung der Regierung ausdrücklich dazu angeraten, für den Fall einer Epidemie oder Pandemie erneut einen Vorrat von einer Million Masken anzulegen. Ihr Abschlussbericht wurde in einer Schublade versenkt.
In diesen Tagen kam eine mühsam betriebene Inventur, nachdem in allen Hangars und quasi in allen Schubladen nachgesucht worden war und auch Bestände aus Kellergeschossen und verschlossenen Schränken zu Tage gefördert worden waren, zu dem Schluss, es gebe im ganzen Land derzeit Bestände von 86 Millionen Masken einfacher Bauart und fünf Millionen, die der Norm "FFP2" (für einen professionellen Bedarf in einer Risikozone geeignet) entsprechen.
Zu Beginn der Covid19-Epidemie handelte es sich Gesundheitsminister Olivier Véran zufolge um 117 Millionen einfache Masken und keine gesicherten Reserven an FFP2-Masken. Das ist eine allein für das Gesundheitspersonal völlig unzureichende Zahl, gemessen am geschätzten Bedarf.
Demnach würden laut Ministerium wöchentlich 24 Millionen Masken benötigt; ein Ärztekollektiv spricht unterdessen von einem Bedarf von fünfzehn Millionen FFP2-Einwegmasken täglich oder 105 Millionen pro Woche, um einen umfassenden Schutz in den Gesundheitsberufen zu gewährleisten.
Quasi allabendlich sitzen nun Mediziner in den Fernsehstudios und erklären mal mit absolut ruhiger Stimme, mal fast schreiend, das Gesundheitspersonal sei in der Ausübung seines Berufs in Gefahr, Frankreich führe sich auf wie ein wirtschaftlich unterentwickeltes Land, und man habe sich solche Zustände nie erträumen lassen…
Nunmehr wurde die inländische Produktion dafür angeworfen, angeblich für eine Stückzahl von sechs Millionen Gesichtsmasken wöchentlich.
Abhilfe sollen nun neue Bestellungen im Ausland - und wiederum vor allem in China - für eine Gesamtzahl von einer Milliarde Gesichtsmasken verschaffen. Die Frage wird nur sein, wann sie eintreffen, ob vor oder nach dem Beginn der aktuellen Pandemie. Immerhin, am Montag dieser Woche trafen ihrer zehn Millionen - also ein Prozent der bestellten Gesamtmenge - mit einem Sonderflug aus dem südchinesischen Shenzhen in Frankreich ein. Mit dem Eintreffen weiterer Lieferungen wird gerechnet.
Zweifellos hat die französische Regierung anfänglich, wie die meisten anderen auf der Welt, das Ausmaß der heraufziehenden Pandemie unterschätzt. Hinzu kam, dass das wirtschaftsliberale Macron-Lager anfänglich ähnlicher Auffassung gewesen sein dürfte wie sein britisches Pendant, nämlich dass die freien Marktkräfte es schon richten würden, was in diesem Falle bedeutete, mit ausreichend Laissez-faire die Bevölkerung sich durchseuchen zu lassen, um die mittlerweile berühmte "Herdenimmunität" zu erreichen.
Ähnlich wie andernorts wurde dieses Kalkül von regierungsoffizieller Seite aufgegeben, als die Experten durchzurechnen begannen, mit wie vielen Toten innerhalb eines kurzen Zeitraums zu rechnen sei. Unterfüttert wurde diese Vorstellung - auch wenn es so nicht öffentlich eingestanden wurde - von der Idee, es sei schlimmer, falls die Wirtschaft nicht weiter profitträchtig brummen könne.
Explizit vertritt inzwischen nur noch der von halbirren Evangelikalen beratene brasilianische Präsident Bolsonaro diese Position. Mein Kollege Peter Nowak irrt an dieser Stelle meiner Auffassung nach fundamental, wenn er glaubt, die Trumps und Bolsonaros dieser Welt verträten hier die besonnenere, rationalere Position gegenüber denen, die Panik verbreiteten, wie er dies in seinem Beitrag verstehen lässt: Nach dem Corona-Notstand - geht alles weiter wie bisher?.
Was Nowak hier als "paradox" bezeichnet - ihm zufolge seien die Bolsanoros die besonneneren Vertreter -, ist kein Paradoxon, sondern er übersieht hier lediglich auf sträfliche Weise, wie die genuin rechte und sozialdarwinistische Position zum Thema aussieht: Sollen die Schwachen und Alten doch krepieren, Hauptsache, den wirtschaftlich starken Unternehmen geht's gut.
Das ist keine originäre Nazi-Konzeption, denn in den Augen des Nazismus würde die "Gesundheit des Volkskörpers" auf der ideologischen Ebene wieder ins Spiel kommen, das freie Marktspiel also aus anderen (selbst kritikwürdigen) Gründen abgelehnt werden. Aber es ist durch und durch "moderner", marktkompatibler Rechtsradikalismus. Nun ist Macron kein Rechtsextremer, sondern ein bürgerlicher Wirtschaftsliberaler, verkörpert jedoch seinerseits die objektive Barbarei der entfesselten Marktkräfte.
Auch Macron und seine Berater rückten - wie vergleichbare Regierungen - aber im Laufe der Wochen von dieser Position des Laissez-faire, übertragen auf die Ausbreitung der Seuche, ab - jedoch spät, reichlich spät.
Vertrauen in Regierende erodiert
Dies wird noch ernsthafte politische Konsequenzen zeitigen. Zwar erklärten zumindest laut einer Umfrage, die eine Woche nach Beginn der Ausgangsbeschränkungen (am 17. März) einsetzte und in der Sonntagszeitung JDD publiziert wurde, angeblich 55 Prozent der Befragten, den durch die Regierung ergriffenen Maßnahmen "Vertrauen" zu schenken.
Dies ist allerdings vor allem in dem Sinne zu werten, dass viele Menschen die Mobilitätsbeschränkungen und die Bestellung von Gesichtsmasken bei Herstellern nicht in Frage stellen möchten. Aus derselben Quelle geht jedoch auch hervor, dass 64 Prozent der Befragten auch der Auffassung sind, die Regierenden hätten der Öffentlichkeit "wichtige Informationen vorenthalten". Und beim Sender Europe1 "vertrauten" im selben Zeitraum nur noch 46 Prozent (minus 7 %) den Regierenden.
Bei einer Umfrage am darauffolgenden Dienstag (25. März) - erneut u.a. für Europe 1 - waren es gar nur noch 37 Prozent. Dies steht nicht im Widerspruch dazu, dass Macron und Regierungschef Edouard Philippe zugleich steigende Popularitätswerte aufweisen, die vor allem darauf hinweisen, dass das Publikum wünscht, dass die Regierenden regieren mögen - während durch die Umfrageinstitute im selben Atemzug von sinkendem Vertrauen in ihre Tagen gesprochen wird.
Dies alles ist vielleicht erst der Anfang einer Staatsaffäre. Denn am 17. März, zeitgleich mit dem Beginn der Ausgangsbeschränkungen, platzte die Nachricht wie eine Bombe: Die ehemalige Gesundheitsministerin Agnès Buzyn, die Mitte Februar dieses Jahres zurücktrat, um - auf erheblichen Druck von Staatspräsident Emmanuel Macron - als Spitzenkandidatin für dessen Partei LREM (La République en marche) bei der Kommunalwahl in Paris anzutreten und den infolge einer Sex-Affäre von der politischen Bühne abgetretenen Benjamin Griveaux zu ersetzen, hatte der Pariser Abendzeitung Le Monde ein Gespräch gewährt.
Darin erklärt sie, damals habe sie bereits gewusst, dass "ein Tsunami auf uns zurollt", und vergeblich sowohl Präsident Macron als auch Premierminister Edouard Phlippe vorgewarnt. Diese hätten die alarmierenden Informationen nicht ernstgenommen. Deswegen und nicht wegen Wehmuts beim Verlust ihres Ministerposten habe sie bei der Amtsübergabe an ihren Nachfolger Olivier Véran vor laufenden Kameras Tränen vergossen.
Dies hinterließ einen verheerenden Eindruck beim französischen Publikum - wie bereits die Tatsache selbst, dass eine Gesundheitsministerin beim Herannahen der Epidemie nichts Besseres zu tun hat, als zurückzutreten, um zu einer Kommunalwahl zu kandidieren…
Oppositionspolitiker Jean-Luc Mélenchon wies daraufhin unverzüglich darauf hin, falls Agnès Buzyn der Öffentlichkeit da wichtige Informationen vorenthalten habe, könne dies ein strafbares Verhalten darstellen. Inzwischen haben sechshundert Ärztinnen und Ärzte in dieser Sache Strafanzeige gegen Madame Buzyn und ihren früheren Vorgesetzten, den damaligen und jetzigen Premierminister Edouard Philippe, erstattet.
Wenige Tage darauf wurde bekannt, dass eine Petition für die Unterstützung der Anzeige einreichenden Ärzte & Ärztinnen inzwischen von 200.000 Personen unterzeichnet worden sei. Mittlerweile nähert man sich der 400.000er Marke an.