Kommt die 60-Stunden-Woche?

Seite 2: Notstandsgesetzgebung

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Unterdessen traten die beiden französischen Parlamentskammern - Nationalversammlung und Senat - vom Donnerstag bis zum Sonntag, den 19. bis 22. März zusammen, um in einer Notsitzung zu tagen. Allerdings in reduziertem Format, um die Ansteckungsrisiken zu reduzieren: Je drei Abgeordnete pro Fraktion und das Präsidium, insgesamt 25 Personen bildeten infolge einer parteiübergreifenden Absprache die Nationalversammlung. Diese weist 577 Sitze auf.

Es ging darum, ein Gesetz zum "sanitären Ausnahmezustand" zu verabschieden, das weitgehend dem Modell der Notstandsgesetze für den Fall innenpolitischer Konflikte und Krise nachempfunden ist. Diese Referenz wurde durch das Regierungslager auch ausdrücklich genannt (siehe dazu einen Gastbeitrag eines kritischen Anwalts in der Pariser Abendzeitung Le Monde).

Auch ein Mitglied des Verfassungsgerichts warnte unterdessen vor einem Effekt der "Gewöhnung" an den Notstand, und Verfassungsjuristen warnten vor einer "Bresche in den Rechtsstaat".

Paris in der Nähe der Gare de l'Est - gähnende Leere. Foto: Bernard Schmid

Den Gesetzestext publizierte das Journal Officiel (Amtsblatt, Gesetzesanzeiger) am 24. März 2020. Ihm folgte umgehend eine Serie von Regierungsdekreten.

Genau wie die bisherige Notstandsgesetzgebung, die aus dem Jahr 1955 und dem Kontext des Algerienkriegs stammt, sah der Entwurf für das Gesetz zum "sanitären Notstand" vergangene Woche zunächst vor, dass die Exekutive den Notstand für zwölf Tage erklären kann. Die Frist wurde allerdings während der Beratungen auf einen Monat ausgedehnt.

Nach dessen Ablauf muss das Parlament ihn verlängern; auf den Exekutivnotstand folgt sozusagen der Parlamentsnotstand. Es ermächtigt damit zugleich die Exekutive, während einer Dauer von zwei Monaten lang bei bestimmten Themen die Tätigkeit des Gesetzgebers durch Regierungsverordnungen mit Gesetzeskraft (ordonnances) zu ersetzen.

Dies taten die beiden Parlamentskammern mit ihrem abschließenden Votum vom Sonntagabend, den 22. März. Nun kann also die Exekutive auf dem Verordnungswege aktiv werden. Dazu sind insgesamt um die vierzig Regierungsdekrete vorgesehen, ein Großteil davon sind inzwischen bereits verabschiedet worden.

Dabei geht es in der aktuellen Version des Notstands unter anderem um Ausgangsbeschränkungen - solche gelten bereits seit dem 17. März um Mittag, doch das Gesetz setzt die Strafen bei Übertretung (ursprünglich eine Buße i.H.v. 38 Euro) empfindlich herauf, auf 135 Euro und wesentlich höhere Summen bei Wiederholungshandlungen.

Es geht jedoch auch um einschneidende Weichenstellungen im Arbeits- und Sozialrecht, zu denen die Regierung vom Parlament ermächtigt wurde, wobei der absolute Clou darin besteht, dass die Notstandsgesetzgebung kein Schlussdatum für die Neuregelungen vorsieht, die nun im Windschatten der Coronavirus-Krise vorgenommen werden können.

Das dazu verabschiedete Regierungsdekret dazu sieht wiederum eine Geltungsdauer bis zum 31. Dezember dieses Jahres vor, Regierungsdekrete können jedoch einseitig und ohne Parlaments- oder gar öffentliche Debatte abgeändert oder neu aufgelegt werden.

Zu den neu eröffneten Rechten für den Arbeitgeber zählt dasjenige, einseitig den Urlaub der Lohnabhängigen festzusetzen oder bereits gewährten Urlaub aufzuschieben, ohne die bis dahin geltende gesetzliche Vorwarnfrist - diese betrug bisher einen Monat - einzuhalten.

Auch wird die Regierung dazu ermächtigt, es "Unternehmen in Sektoren, die für die Sicherheit der Nation oder den Fortbestand des wirtschaftliche und sozialen Lebens besonders erforderlich sind, zu erlauben, von zwingenden gesetzlichen Regeln und von Kollektivvereinbarungen betreffend Arbeitszeit, wöchentlicher Ruhezeit und Sonntagsruhe abzuweichen" (vgl. Artikel 11, I. 1° b., dritter Spiegelstrich im Gesetz über den sanitären Notstand).

Im ersten Entwurf war auch vorgesehen, dass die Arbeitgeber in der derzeitigen Krise ihren Lohnabhängigen bis zu einer Woche einseitig festgesetzten Zwangsurlaub geben dürfen; auf dass diese einen Teil ihres Jahresurlaubs bereits während der derzeit geltenden Ausgangsbeschränkungen aufbrauchen.

Danksagung von Nachbarinnen und Nachbarn an Beschäftigte im Lebensmittelhandel für die Aufrechterhaltung der Versorgung (18. Pariser Bezirk). Foto: Bernard Schmid

Allerdings wird dies auch mit dem Argument "verkauft", im Laufe einer Urlaubswoche bestehe eine Lohnfortzahlung zu 100 %, während bei einem - als Alternative bestehenden - Bezug von Kurzarbeitergeld nur 84 % des Nettogehalts (bis zur fünffachen Höhe des gesetzlichen Mindestlohns; die Deckelung soll verhindern, dass Millionenzahlungen an Profifußballer über Kurzarbeitergeld erfolgen…) fällig werden. Zu Anfang dieser Woche befanden sich 2,2 Millionen abhängige Beschäftigte in Frankreich im Zustand der Kurzarbeit (chômage partiel), für welche der Staat die Bezahlung übernahm.

Überdies werden viele Arbeitgeber es - nun ja - nicht gerne sehen, nach dem Ende der akuten Pandemie-Krise im Rest des Jahres "auch noch" Urlaub gewähren zu müssen. Der Arbeitgeberverband MEDEF schlug im Vorfeld der Parlamentsdebatte seinerseits vor, den Jahresurlaub in 2020 auf "zwei bis drei Wochen", statt sechs, zu beschränken…, kam mit diesem ziemlich weitreichenden Vorschlag jedoch nicht durch.

Ein letztlich mit der Opposition getroffener Kompromiss zum Thema Zwangsurlaub beinhaltet, dass die in dritter Lesung angenommene endgültige Fassung es erforderlich macht, dass ein Branchen- oder ein Firmen-Kollektivvertrag diese verordnete Beurlaubung erlaubt (vgl. im Gesetzestext dazu Artikel 11, I. 1° b.).

Allerdings: Wenn auf die sanitäre in sehr absehbarer Zeit die massive Wirtschaftskrise folgen wird und der Arbeitgeber dann mit dem massenhaften Abbau von Arbeitsplätzen droht - werden da viele örtliche Gewerkschaftssektionen zu widerstehen wissen?

Vor allem jedoch gilt diese Notwendigkeit der Zustimmung mindestens eines Teils der Gewerkschaften (ein Abkommen ist gültig, wenn die Unterzeichner mindestens 30 Prozent der Stimmen im Unternehmen erhielten) zwar für den gesetzlichen Urlaub, jedoch ausdrücklich nicht für Freizeitausgleich.

Ab jetzt können im Zuge der Krisenbewältigung die Arbeitgeber bis zu sechzig Stunden pro Woche arbeiten lassen und selbst festlegen, wann die dem entsprechenden dreizehn Überstunden durch Freizeit kompensiert werden. Also dann, wenn ihnen keine Aufträge vorliegen.

Was derzeit durch die akute Krise gerechtfertigt wird, dürfte in Anbetracht der heraufziehenden ökonomischen Verwerfungen bald ins allgemeine Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit einfließen. Zwar ging Frankreich in der bisherigen Krisensituation nicht so weit wie etwa Portugal, wo man beschloss, unter diesem Vorwand gleich mal das Streikrecht auszuhebeln, doch an Ideen fehlt es auch in Frankreich den Herrschenden nicht…

Polizeigewalt

Wie man wohl leider erwarten konnte, hat sich durch die aktuelle Situation die Ausrichtung und konkrete Funktionsweise des Polizeiapparats insbesondere in den banlieues (Trabantenstädten) und quartiers populaires (Unterklassen-Wohnvierteln) nicht wesentlich verändert. Zum Teil scheinen in diesem Zusammenhang die neuen Kontrollbefugnisse zum Freibrief für Übergriffe, mitunter mit unzweifelhaft rassistischem Hintergrund, zu werden.

Antiterroreinheit der französischen Armee unterstreicht Ausgangsverbot - Paris, im zehnten Bezirk am 17. März d.J. (Tag des Beginns der Ausgangsbeschränkungen). Foto: Bernard Schmid

So wurde vorige Woche folgender Fall durch eine Website mit Lokalinformationen aus der nördlichen Pariser Trabantenstadtzone dokumentiert. Demnach wurde eine 19jährige junge Frau (mit schwarzer Hautfarbe), die in unmittelbarer Nähe ihrer Wohnung Babynahrung für ihr erst wenige Monate altes Kind einkaufen wollte, durch insgesamt acht Polizisten u.a. als "Nutte" beschimpft, mit einem Taser (Elektroschockgerät) attackiert, in einem Polizeifahrzeug mit Füßen traktiert und im Anschluss für eine Stunde auf der Wache festgehalten.

Die Ereignisse trugen sich demnach bereits am 19. März zu, also zwei Tage nach Beginn der Ausgangsbeschränkungen, als insgesamt noch viel Improvisation herrschte. Der Schilderung zufolge wollte die junge Frau ihre Ausgangsbescheinigung in einem nahen Internetcafé ausdrucken, doch dieses hatte (wohl infolge der Regierungsanordnungen zum Dichtmachen nicht versorgungswichtiger Einrichtungen) geschlossen.

Laut der Darstellung in dem Artikel hatte sie jedoch ein handgeschriebenes Papier dabei, was laut damaligen Darstellungen der Regierung auf ihren Webseiten und im TV zulässig war, sofern das Dokument die erforderlichen Angaben zur Identität der Person, Datum und Ausgangsgrund enthielt.

Am selben Datum (19. März 2020) wurde bekannt, dass zehn Prozent der frankreichweit verhängten Geldbußen allein im Département Seine-Saint-Denis verhängt wurden, also dem ärmsten Verwaltungsbezirk in Frankreich, welcher die Trabantenstädte nördlich und nord-östlich des Pariser Stadtgebiets umfasst.

Nun mag bei Teilen der dort ansässigen Bevölkerung aufgrund grundsätzlichen Misstrauens gegenüber den Autoritäten, und weil Gedanken an das tägliche Überleben möglicherweise näher liegen als jene für die Risiken des Coronavirus, tatsächlich ein Problem mit der Einhaltung der in Seuchenzeiten erforderlichen Ausgangsdisziplin bestehen. Dieses besteht jedoch mindestens ebenso sehr bspw. bei jungen Besserverdienenden mit individualistischer Haltung.

Und angesichts der Tatsache, dass dieses Département 1,654 Millionen Einwohner (Stand: 2019) von insgesamt 67 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern zählt, jedoch ein Zehntel der gesamten Geldstrafen in Frankreich - jedenfalls bei Verfassen des oben zitierten Artikels -, wird klar, dass das manifeste Missverhältnis sich bestimmt nicht ausschließlich aus individuellem Fehlverhalten erklären kann.

Frankreich beklagt bereits einige prominente Todesopfer der Covid19-Pandemie. Zu ihnen zählen der französisch-kamerunische Musikstar und Saxophonist Manu Dibango), der KP-nahe linke Philosoph Lucien Sève und Nicolas Sarkozys früherer Minister "für die Wiederbelebung der Wirtschaft" der Krisenjahre um 2008, Patrick Devedjian.