Kommt die 60-Stunden-Woche?

Warteschlange vor einem Supermarkt im 18. Pariser Bezirk. Foto: Bernard Schmid

Frankreich: Die Corona-Krise verändert das Verhältnis von Kapital und Arbeit

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Frankreich weist im Vergleich zu Deutschland eine geringere Zahl an offiziell registrierten Coronavirus-Infizierten auf. Am gestrigen Dienstagabend waren es laut der Covid-19-Registrierung der Johns Hopkins University 45.232 gegenüber 68.180 in der Bundesrepublik.

Doch wird für das Nachbarland eine weitaus höhere Totenzahl verzeichnet. 3.523 Menschen verstarben bisher westlich des Rheins in Zusammenhang mit Covid-19, erklärte der "Generaldirektor für Gesundheit(spolitik)", Jérôme Salomon, gestern Abend um 20 Uhr. Für Deutschland registrierte Johns Hopkins gestern Abend 682 Tote.

Dieser flagrante Unterschied dürfte darauf zurückzuführen sein, dass in Deutschland ungleich mehr Tests durchgeführt werden, auch an Personen, die noch nicht eindeutige und gravierende Symptome aufweisen. Dies bedeutet, dass die Gesamtzahl der Infizierten in Frankreich eine hohe Dunkelziffer aufweisen und im sechsstelligen Bereich liegen dürfte - denn die Sterblichkeitsrate dürfte dieselbe sein, bezogen auf die reale Zahl der Angesteckten.

Am 09. März waren es noch nur 1.000 Tests täglich, die auf französischem Staatsgebiet durchgeführt wurden. Regierungszahlen verkündeten am Tag darauf, diese Anzahl solle innerhalb von zwei Wochen auf 29.000 gesteigert werden. Am Donnerstag, den 26. März wurde das Erreichen diese Zielsetzung beim einflussreichen Privatfernsehsender BFMTV jedoch unter dem Titel "mission impossible?" explizit in Frage gestellt.

Dazu erklärte Philippe Froguel, Leiter eines Forschungslabors am Universitätskrankenhaus der Region Nordfrankreich in Lille: "Es herrscht ein derartiges Chaos auf Regierungsebene, aber auch bei den Regionalregierungen", dass ein Erreichen dieses Ziels ausgesprochen fraglich sei. Der TV-Sender sprach zugleich davon, östlich des Rheins liege die Anzahl in Deutschland durchgeführter Tests zu dem Zeitpunkt achtzig Mal höher als in Frankreich.

Markantes Unvermögen der Regierung

Auch an Gesichtsmasken mangelt es auf manifeste Weise. Der eingangs erwähnte Generaldirektor für Gesundheitspolitik (DGS) im Gesundheitsministerium, Professor Jérôme Salomon, machte anfänglich aus der Not eine Tugend und erklärte bei seinen allabendlichen, im Fernsehen übertragenen Pressekonferenzen das Tragen einer solchen vor dem Gesicht sei bestenfalls unnütz, wenn man nicht selbst Krankheitsüberträger sei, was inzwischen als Regierungsdoktrin jedoch überholt ist.

Während Österreich das Tragen einer Gesichtsmaske in Supermärkten inzwischen zwingend vorschreibt, wird dieses Kleidungsstück in Frankreich zwischen den Zeilen inzwischen auch von offizieller Seite als ratsam anerkannt.

Pariser Polizeipräfekt verkündet Kontrollen zur Befolgung der Ausgangsbeschränkungen, 17. März 2020. Foto: Bernard Schmid

Das Problem ist nur: Es gibt keine oder bei weitem nicht genug - während im Jahr 2009/2010 noch ein Vorrat an einer Milliarde Masken einfachen Typs und von rund 600 Millionen chirurgischer Gesichtsmasken vom Typ FFP2 bestand.

Damals hatte die seinerzeitige Gesundheitsministerin Roselyne Bachelot in Erwartung einer gefährlichen Grippeepidemie (die dann nicht wie erwartet kam, was ihr viel Medienspott und Häme in der öffentlichen Meinung eintrug und zum Kurswechsel führte … jedoch die Vorsichtsmaßnahme nicht nachträglich unbegründet werden ließ) Masken und Impfstoff bunkern lassen.

Unter Premierminister François Fillon wurde daraufhin beschlossen, aufgrund der Lagerungs- und Erneuerungskosten sei dies unwirtschaftlich, überhaupt zu teuer, und man könne Masken ja notfalls bestellen, schließlich würden diese ja für den Weltmarkt produziert (ja… in China, Volltreffer! Und im Nachhinein bravo für die tolle Idee!). Die nachfolgende Gesundheits- und Sozialministerin Marisol Touraine - Amtsinhaber unter Präsident François Hollande ab 2012 und bis 2017 - redete sich zu Anfang voriger Woche im Fernsehen darauf heraus, unter ihren Fittichen seien "noch 750.000 Masken" vorhanden gewesen.

Das Schlimmste daran ist: Im Mai 2019 hatte eine Expertenversammlung der Regierung ausdrücklich dazu angeraten, für den Fall einer Epidemie oder Pandemie erneut einen Vorrat von einer Million Masken anzulegen. Ihr Abschlussbericht wurde in einer Schublade versenkt.

In diesen Tagen kam eine mühsam betriebene Inventur, nachdem in allen Hangars und quasi in allen Schubladen nachgesucht worden war und auch Bestände aus Kellergeschossen und verschlossenen Schränken zu Tage gefördert worden waren, zu dem Schluss, es gebe im ganzen Land derzeit Bestände von 86 Millionen Masken einfacher Bauart und fünf Millionen, die der Norm "FFP2" (für einen professionellen Bedarf in einer Risikozone geeignet) entsprechen.

Zu Beginn der Covid19-Epidemie handelte es sich Gesundheitsminister Olivier Véran zufolge um 117 Millionen einfache Masken und keine gesicherten Reserven an FFP2-Masken. Das ist eine allein für das Gesundheitspersonal völlig unzureichende Zahl, gemessen am geschätzten Bedarf.

Demnach würden laut Ministerium wöchentlich 24 Millionen Masken benötigt; ein Ärztekollektiv spricht unterdessen von einem Bedarf von fünfzehn Millionen FFP2-Einwegmasken täglich oder 105 Millionen pro Woche, um einen umfassenden Schutz in den Gesundheitsberufen zu gewährleisten.

Quasi allabendlich sitzen nun Mediziner in den Fernsehstudios und erklären mal mit absolut ruhiger Stimme, mal fast schreiend, das Gesundheitspersonal sei in der Ausübung seines Berufs in Gefahr, Frankreich führe sich auf wie ein wirtschaftlich unterentwickeltes Land, und man habe sich solche Zustände nie erträumen lassen…

Nunmehr wurde die inländische Produktion dafür angeworfen, angeblich für eine Stückzahl von sechs Millionen Gesichtsmasken wöchentlich.

Abhilfe sollen nun neue Bestellungen im Ausland - und wiederum vor allem in China - für eine Gesamtzahl von einer Milliarde Gesichtsmasken verschaffen. Die Frage wird nur sein, wann sie eintreffen, ob vor oder nach dem Beginn der aktuellen Pandemie. Immerhin, am Montag dieser Woche trafen ihrer zehn Millionen - also ein Prozent der bestellten Gesamtmenge - mit einem Sonderflug aus dem südchinesischen Shenzhen in Frankreich ein. Mit dem Eintreffen weiterer Lieferungen wird gerechnet.

Zweifellos hat die französische Regierung anfänglich, wie die meisten anderen auf der Welt, das Ausmaß der heraufziehenden Pandemie unterschätzt. Hinzu kam, dass das wirtschaftsliberale Macron-Lager anfänglich ähnlicher Auffassung gewesen sein dürfte wie sein britisches Pendant, nämlich dass die freien Marktkräfte es schon richten würden, was in diesem Falle bedeutete, mit ausreichend Laissez-faire die Bevölkerung sich durchseuchen zu lassen, um die mittlerweile berühmte "Herdenimmunität" zu erreichen.

Hier hätte es unter sonstigen Umständen Eier zu kaufen gegeben. Foto: Bernard Schmid

Ähnlich wie andernorts wurde dieses Kalkül von regierungsoffizieller Seite aufgegeben, als die Experten durchzurechnen begannen, mit wie vielen Toten innerhalb eines kurzen Zeitraums zu rechnen sei. Unterfüttert wurde diese Vorstellung - auch wenn es so nicht öffentlich eingestanden wurde - von der Idee, es sei schlimmer, falls die Wirtschaft nicht weiter profitträchtig brummen könne.

Explizit vertritt inzwischen nur noch der von halbirren Evangelikalen beratene brasilianische Präsident Bolsonaro diese Position. Mein Kollege Peter Nowak irrt an dieser Stelle meiner Auffassung nach fundamental, wenn er glaubt, die Trumps und Bolsonaros dieser Welt verträten hier die besonnenere, rationalere Position gegenüber denen, die Panik verbreiteten, wie er dies in seinem Beitrag verstehen lässt: Nach dem Corona-Notstand - geht alles weiter wie bisher?.

Was Nowak hier als "paradox" bezeichnet - ihm zufolge seien die Bolsanoros die besonneneren Vertreter -, ist kein Paradoxon, sondern er übersieht hier lediglich auf sträfliche Weise, wie die genuin rechte und sozialdarwinistische Position zum Thema aussieht: Sollen die Schwachen und Alten doch krepieren, Hauptsache, den wirtschaftlich starken Unternehmen geht's gut.

Das ist keine originäre Nazi-Konzeption, denn in den Augen des Nazismus würde die "Gesundheit des Volkskörpers" auf der ideologischen Ebene wieder ins Spiel kommen, das freie Marktspiel also aus anderen (selbst kritikwürdigen) Gründen abgelehnt werden. Aber es ist durch und durch "moderner", marktkompatibler Rechtsradikalismus. Nun ist Macron kein Rechtsextremer, sondern ein bürgerlicher Wirtschaftsliberaler, verkörpert jedoch seinerseits die objektive Barbarei der entfesselten Marktkräfte.

Auch Macron und seine Berater rückten - wie vergleichbare Regierungen - aber im Laufe der Wochen von dieser Position des Laissez-faire, übertragen auf die Ausbreitung der Seuche, ab - jedoch spät, reichlich spät.

Vertrauen in Regierende erodiert

Dies wird noch ernsthafte politische Konsequenzen zeitigen. Zwar erklärten zumindest laut einer Umfrage, die eine Woche nach Beginn der Ausgangsbeschränkungen (am 17. März) einsetzte und in der Sonntagszeitung JDD publiziert wurde, angeblich 55 Prozent der Befragten, den durch die Regierung ergriffenen Maßnahmen "Vertrauen" zu schenken.

Dies ist allerdings vor allem in dem Sinne zu werten, dass viele Menschen die Mobilitätsbeschränkungen und die Bestellung von Gesichtsmasken bei Herstellern nicht in Frage stellen möchten. Aus derselben Quelle geht jedoch auch hervor, dass 64 Prozent der Befragten auch der Auffassung sind, die Regierenden hätten der Öffentlichkeit "wichtige Informationen vorenthalten". Und beim Sender Europe1 "vertrauten" im selben Zeitraum nur noch 46 Prozent (minus 7 %) den Regierenden.

Bei einer Umfrage am darauffolgenden Dienstag (25. März) - erneut u.a. für Europe 1 - waren es gar nur noch 37 Prozent. Dies steht nicht im Widerspruch dazu, dass Macron und Regierungschef Edouard Philippe zugleich steigende Popularitätswerte aufweisen, die vor allem darauf hinweisen, dass das Publikum wünscht, dass die Regierenden regieren mögen - während durch die Umfrageinstitute im selben Atemzug von sinkendem Vertrauen in ihre Tagen gesprochen wird.

Dies alles ist vielleicht erst der Anfang einer Staatsaffäre. Denn am 17. März, zeitgleich mit dem Beginn der Ausgangsbeschränkungen, platzte die Nachricht wie eine Bombe: Die ehemalige Gesundheitsministerin Agnès Buzyn, die Mitte Februar dieses Jahres zurücktrat, um - auf erheblichen Druck von Staatspräsident Emmanuel Macron - als Spitzenkandidatin für dessen Partei LREM (La République en marche) bei der Kommunalwahl in Paris anzutreten und den infolge einer Sex-Affäre von der politischen Bühne abgetretenen Benjamin Griveaux zu ersetzen, hatte der Pariser Abendzeitung Le Monde ein Gespräch gewährt.

Darin erklärt sie, damals habe sie bereits gewusst, dass "ein Tsunami auf uns zurollt", und vergeblich sowohl Präsident Macron als auch Premierminister Edouard Phlippe vorgewarnt. Diese hätten die alarmierenden Informationen nicht ernstgenommen. Deswegen und nicht wegen Wehmuts beim Verlust ihres Ministerposten habe sie bei der Amtsübergabe an ihren Nachfolger Olivier Véran vor laufenden Kameras Tränen vergossen.

Entwicklung der Bettenzahl in französischen Krankenhäusern in der jüngeren Vergangenheit... Screenshot: Bernard Schmid

Dies hinterließ einen verheerenden Eindruck beim französischen Publikum - wie bereits die Tatsache selbst, dass eine Gesundheitsministerin beim Herannahen der Epidemie nichts Besseres zu tun hat, als zurückzutreten, um zu einer Kommunalwahl zu kandidieren…

Oppositionspolitiker Jean-Luc Mélenchon wies daraufhin unverzüglich darauf hin, falls Agnès Buzyn der Öffentlichkeit da wichtige Informationen vorenthalten habe, könne dies ein strafbares Verhalten darstellen. Inzwischen haben sechshundert Ärztinnen und Ärzte in dieser Sache Strafanzeige gegen Madame Buzyn und ihren früheren Vorgesetzten, den damaligen und jetzigen Premierminister Edouard Philippe, erstattet.

Wenige Tage darauf wurde bekannt, dass eine Petition für die Unterstützung der Anzeige einreichenden Ärzte & Ärztinnen inzwischen von 200.000 Personen unterzeichnet worden sei. Mittlerweile nähert man sich der 400.000er Marke an.

Notstandsgesetzgebung

Unterdessen traten die beiden französischen Parlamentskammern - Nationalversammlung und Senat - vom Donnerstag bis zum Sonntag, den 19. bis 22. März zusammen, um in einer Notsitzung zu tagen. Allerdings in reduziertem Format, um die Ansteckungsrisiken zu reduzieren: Je drei Abgeordnete pro Fraktion und das Präsidium, insgesamt 25 Personen bildeten infolge einer parteiübergreifenden Absprache die Nationalversammlung. Diese weist 577 Sitze auf.

Es ging darum, ein Gesetz zum "sanitären Ausnahmezustand" zu verabschieden, das weitgehend dem Modell der Notstandsgesetze für den Fall innenpolitischer Konflikte und Krise nachempfunden ist. Diese Referenz wurde durch das Regierungslager auch ausdrücklich genannt (siehe dazu einen Gastbeitrag eines kritischen Anwalts in der Pariser Abendzeitung Le Monde).

Auch ein Mitglied des Verfassungsgerichts warnte unterdessen vor einem Effekt der "Gewöhnung" an den Notstand, und Verfassungsjuristen warnten vor einer "Bresche in den Rechtsstaat".

Paris in der Nähe der Gare de l'Est - gähnende Leere. Foto: Bernard Schmid

Den Gesetzestext publizierte das Journal Officiel (Amtsblatt, Gesetzesanzeiger) am 24. März 2020. Ihm folgte umgehend eine Serie von Regierungsdekreten.

Genau wie die bisherige Notstandsgesetzgebung, die aus dem Jahr 1955 und dem Kontext des Algerienkriegs stammt, sah der Entwurf für das Gesetz zum "sanitären Notstand" vergangene Woche zunächst vor, dass die Exekutive den Notstand für zwölf Tage erklären kann. Die Frist wurde allerdings während der Beratungen auf einen Monat ausgedehnt.

Nach dessen Ablauf muss das Parlament ihn verlängern; auf den Exekutivnotstand folgt sozusagen der Parlamentsnotstand. Es ermächtigt damit zugleich die Exekutive, während einer Dauer von zwei Monaten lang bei bestimmten Themen die Tätigkeit des Gesetzgebers durch Regierungsverordnungen mit Gesetzeskraft (ordonnances) zu ersetzen.

Dies taten die beiden Parlamentskammern mit ihrem abschließenden Votum vom Sonntagabend, den 22. März. Nun kann also die Exekutive auf dem Verordnungswege aktiv werden. Dazu sind insgesamt um die vierzig Regierungsdekrete vorgesehen, ein Großteil davon sind inzwischen bereits verabschiedet worden.

Dabei geht es in der aktuellen Version des Notstands unter anderem um Ausgangsbeschränkungen - solche gelten bereits seit dem 17. März um Mittag, doch das Gesetz setzt die Strafen bei Übertretung (ursprünglich eine Buße i.H.v. 38 Euro) empfindlich herauf, auf 135 Euro und wesentlich höhere Summen bei Wiederholungshandlungen.

Es geht jedoch auch um einschneidende Weichenstellungen im Arbeits- und Sozialrecht, zu denen die Regierung vom Parlament ermächtigt wurde, wobei der absolute Clou darin besteht, dass die Notstandsgesetzgebung kein Schlussdatum für die Neuregelungen vorsieht, die nun im Windschatten der Coronavirus-Krise vorgenommen werden können.

Das dazu verabschiedete Regierungsdekret dazu sieht wiederum eine Geltungsdauer bis zum 31. Dezember dieses Jahres vor, Regierungsdekrete können jedoch einseitig und ohne Parlaments- oder gar öffentliche Debatte abgeändert oder neu aufgelegt werden.

Zu den neu eröffneten Rechten für den Arbeitgeber zählt dasjenige, einseitig den Urlaub der Lohnabhängigen festzusetzen oder bereits gewährten Urlaub aufzuschieben, ohne die bis dahin geltende gesetzliche Vorwarnfrist - diese betrug bisher einen Monat - einzuhalten.

Auch wird die Regierung dazu ermächtigt, es "Unternehmen in Sektoren, die für die Sicherheit der Nation oder den Fortbestand des wirtschaftliche und sozialen Lebens besonders erforderlich sind, zu erlauben, von zwingenden gesetzlichen Regeln und von Kollektivvereinbarungen betreffend Arbeitszeit, wöchentlicher Ruhezeit und Sonntagsruhe abzuweichen" (vgl. Artikel 11, I. 1° b., dritter Spiegelstrich im Gesetz über den sanitären Notstand).

Im ersten Entwurf war auch vorgesehen, dass die Arbeitgeber in der derzeitigen Krise ihren Lohnabhängigen bis zu einer Woche einseitig festgesetzten Zwangsurlaub geben dürfen; auf dass diese einen Teil ihres Jahresurlaubs bereits während der derzeit geltenden Ausgangsbeschränkungen aufbrauchen.

Danksagung von Nachbarinnen und Nachbarn an Beschäftigte im Lebensmittelhandel für die Aufrechterhaltung der Versorgung (18. Pariser Bezirk). Foto: Bernard Schmid

Allerdings wird dies auch mit dem Argument "verkauft", im Laufe einer Urlaubswoche bestehe eine Lohnfortzahlung zu 100 %, während bei einem - als Alternative bestehenden - Bezug von Kurzarbeitergeld nur 84 % des Nettogehalts (bis zur fünffachen Höhe des gesetzlichen Mindestlohns; die Deckelung soll verhindern, dass Millionenzahlungen an Profifußballer über Kurzarbeitergeld erfolgen…) fällig werden. Zu Anfang dieser Woche befanden sich 2,2 Millionen abhängige Beschäftigte in Frankreich im Zustand der Kurzarbeit (chômage partiel), für welche der Staat die Bezahlung übernahm.

Überdies werden viele Arbeitgeber es - nun ja - nicht gerne sehen, nach dem Ende der akuten Pandemie-Krise im Rest des Jahres "auch noch" Urlaub gewähren zu müssen. Der Arbeitgeberverband MEDEF schlug im Vorfeld der Parlamentsdebatte seinerseits vor, den Jahresurlaub in 2020 auf "zwei bis drei Wochen", statt sechs, zu beschränken…, kam mit diesem ziemlich weitreichenden Vorschlag jedoch nicht durch.

Ein letztlich mit der Opposition getroffener Kompromiss zum Thema Zwangsurlaub beinhaltet, dass die in dritter Lesung angenommene endgültige Fassung es erforderlich macht, dass ein Branchen- oder ein Firmen-Kollektivvertrag diese verordnete Beurlaubung erlaubt (vgl. im Gesetzestext dazu Artikel 11, I. 1° b.).

Allerdings: Wenn auf die sanitäre in sehr absehbarer Zeit die massive Wirtschaftskrise folgen wird und der Arbeitgeber dann mit dem massenhaften Abbau von Arbeitsplätzen droht - werden da viele örtliche Gewerkschaftssektionen zu widerstehen wissen?

Vor allem jedoch gilt diese Notwendigkeit der Zustimmung mindestens eines Teils der Gewerkschaften (ein Abkommen ist gültig, wenn die Unterzeichner mindestens 30 Prozent der Stimmen im Unternehmen erhielten) zwar für den gesetzlichen Urlaub, jedoch ausdrücklich nicht für Freizeitausgleich.

Ab jetzt können im Zuge der Krisenbewältigung die Arbeitgeber bis zu sechzig Stunden pro Woche arbeiten lassen und selbst festlegen, wann die dem entsprechenden dreizehn Überstunden durch Freizeit kompensiert werden. Also dann, wenn ihnen keine Aufträge vorliegen.

Was derzeit durch die akute Krise gerechtfertigt wird, dürfte in Anbetracht der heraufziehenden ökonomischen Verwerfungen bald ins allgemeine Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit einfließen. Zwar ging Frankreich in der bisherigen Krisensituation nicht so weit wie etwa Portugal, wo man beschloss, unter diesem Vorwand gleich mal das Streikrecht auszuhebeln, doch an Ideen fehlt es auch in Frankreich den Herrschenden nicht…

Polizeigewalt

Wie man wohl leider erwarten konnte, hat sich durch die aktuelle Situation die Ausrichtung und konkrete Funktionsweise des Polizeiapparats insbesondere in den banlieues (Trabantenstädten) und quartiers populaires (Unterklassen-Wohnvierteln) nicht wesentlich verändert. Zum Teil scheinen in diesem Zusammenhang die neuen Kontrollbefugnisse zum Freibrief für Übergriffe, mitunter mit unzweifelhaft rassistischem Hintergrund, zu werden.

Antiterroreinheit der französischen Armee unterstreicht Ausgangsverbot - Paris, im zehnten Bezirk am 17. März d.J. (Tag des Beginns der Ausgangsbeschränkungen). Foto: Bernard Schmid

So wurde vorige Woche folgender Fall durch eine Website mit Lokalinformationen aus der nördlichen Pariser Trabantenstadtzone dokumentiert. Demnach wurde eine 19jährige junge Frau (mit schwarzer Hautfarbe), die in unmittelbarer Nähe ihrer Wohnung Babynahrung für ihr erst wenige Monate altes Kind einkaufen wollte, durch insgesamt acht Polizisten u.a. als "Nutte" beschimpft, mit einem Taser (Elektroschockgerät) attackiert, in einem Polizeifahrzeug mit Füßen traktiert und im Anschluss für eine Stunde auf der Wache festgehalten.

Die Ereignisse trugen sich demnach bereits am 19. März zu, also zwei Tage nach Beginn der Ausgangsbeschränkungen, als insgesamt noch viel Improvisation herrschte. Der Schilderung zufolge wollte die junge Frau ihre Ausgangsbescheinigung in einem nahen Internetcafé ausdrucken, doch dieses hatte (wohl infolge der Regierungsanordnungen zum Dichtmachen nicht versorgungswichtiger Einrichtungen) geschlossen.

Laut der Darstellung in dem Artikel hatte sie jedoch ein handgeschriebenes Papier dabei, was laut damaligen Darstellungen der Regierung auf ihren Webseiten und im TV zulässig war, sofern das Dokument die erforderlichen Angaben zur Identität der Person, Datum und Ausgangsgrund enthielt.

Am selben Datum (19. März 2020) wurde bekannt, dass zehn Prozent der frankreichweit verhängten Geldbußen allein im Département Seine-Saint-Denis verhängt wurden, also dem ärmsten Verwaltungsbezirk in Frankreich, welcher die Trabantenstädte nördlich und nord-östlich des Pariser Stadtgebiets umfasst.

Nun mag bei Teilen der dort ansässigen Bevölkerung aufgrund grundsätzlichen Misstrauens gegenüber den Autoritäten, und weil Gedanken an das tägliche Überleben möglicherweise näher liegen als jene für die Risiken des Coronavirus, tatsächlich ein Problem mit der Einhaltung der in Seuchenzeiten erforderlichen Ausgangsdisziplin bestehen. Dieses besteht jedoch mindestens ebenso sehr bspw. bei jungen Besserverdienenden mit individualistischer Haltung.

Und angesichts der Tatsache, dass dieses Département 1,654 Millionen Einwohner (Stand: 2019) von insgesamt 67 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern zählt, jedoch ein Zehntel der gesamten Geldstrafen in Frankreich - jedenfalls bei Verfassen des oben zitierten Artikels -, wird klar, dass das manifeste Missverhältnis sich bestimmt nicht ausschließlich aus individuellem Fehlverhalten erklären kann.

Frankreich beklagt bereits einige prominente Todesopfer der Covid19-Pandemie. Zu ihnen zählen der französisch-kamerunische Musikstar und Saxophonist Manu Dibango), der KP-nahe linke Philosoph Lucien Sève und Nicolas Sarkozys früherer Minister "für die Wiederbelebung der Wirtschaft" der Krisenjahre um 2008, Patrick Devedjian.