Konflikt als Chance: "Gehen Sie bis zum Äußersten. Reden Sie miteinander!"
Seite 3: Die Kunst der Überzeugung
Eine wichtige Technik bei der Konfliktlösung besteht in der Kunst der Überzeugung. Auch hierfür führt Ury eine Geschichte an, diesmal die griechische Fabel von Äsop.
Am Himmel entbrennt ein Streit zwischen dem Nordwind und der Sonne über die Frage, wer von beiden mächtiger ist. Nach langem Zank einigen sich beide darauf, die Frage durch einen Test zu entscheiden. Sie schauen auf die Erde hinunter und entdecken dort einen Hirtenjungen und beschließen, dass derjenige, dem es gelingt, dem Hirten den Mantel vom Rücken zu reißen, den Wettkampf gewinnt und damit seine größere Macht unter Beweis stellt.
Der Nordwind beginnt und bläst mit aller Kraft, aber ohne Erfolg. Je stärker der Wind bläst, desto fester wickelt der Hirtenjunge seinen Mantel um die Schultern.
Dann ist die Sonne an der Reihe. Sie badet den Jungen geduldig in warmem Sonnenlicht. Nach einer Weile freut sich der Junge und sagt:
"Was für ein schöner Tag! Ich glaube, ich werde mich auf die Wiese legen und die Sonnenstrahlen genießen."
Als er sich hinlegt, streift er seinen Mantel ab und die Sonne gewinnt den Streit.
Für Ury stehen der Nordwind und die Sonne für zwei sehr unterschiedliche Formen der Überzeugung: Gewalt und natürliche Anziehungskraft. Die Sonne respektiert den eigenen Willen des Jungen und versucht ihn nicht durch Drohung zu zwingen, sondern sie schafft ein günstiges Umfeld, in dem er sich schließlich aus eigenem Antrieb dafür entscheidet, seinen Mantel abzulegen.
Ury gibt hierbei zu bedenken:
Das ist es, was ich bei Konflikten immer wieder erlebe. Wir glauben, dass unser Standpunkt richtig ist, also drängen wir natürlich auf ihn. Das ist nur menschlich. Je mehr wir drängen, desto mehr drängt der andere zurück. Und so geht es weiter. Wenn wir nicht viel stärker sind als die andere Seite, stecken wir in einer Pattsituation fest. Kein Wunder, dass heute so viele Konflikte in einer Sackgasse stecken.
Was ist die Alternative?
Ich habe festgestellt, dass erfolgreiche Verhandlungsführer oft genau das Gegenteil von Drängen tun. Stattdessen locken sie an.
William Ury, Possible
Herauszoomen
Eine weitere wichtige Fähigkeit der Mediation, die viel mit dem Balkon zu tun hat, demonstriert Ury seinen Studenten in einem praktischen Beispiel. Er fordert sie auf einen Partner zum Armdrücken zu finden. Ziel des Spiels sei, möglichst viele Punkte zu gewinnen. Jedes Mal, wenn der Arm einer Person nach unten gedrückt, bekommt der Stärkere hierfür 1000 Punkte. Was geschieht nach ein paar Minuten?
Viele hochrote Köpfe, die noch keine Punkte gewonnen haben, einige, die schon ein, zweimal erfolgreich waren und ein, zwei Pärchen, die kreativ geworden sind. Beide Partner haben hier schon mindestens 10.000 Punkte. Die Lösung: Kooperation. Jeweils einer lässt für eine Sekunde den Arm locker und verliert freiwillig. Dann wechseln sie sich ab.
Ury erklärt:
Herauszoomen ist der Moment, in dem wir erkennen, dass die größte Macht, die wir in einem Konflikt haben, die Macht ist, das Spiel zu ändern. Wie oft gehen wir im Leben an Konflikte heran, als ob sie wie ein Armdrücken wären, bei dem es nur darum geht, wer gewinnt und wer verliert? Wie diese Übung deutlich macht, können wir stattdessen ein viel besseres Spiel spielen, von dem wir alle profitieren können, oft viel mehr, als wenn wir ein Spiel gewinnen oder verlieren würden.
William Ury, Possible
Die Frage nach dem Warum
Der Fokus auf die tieferliegenden Gründe für eine Meinung oder Haltung, die zum Streit führen, ist für Ury ebenfalls von besonderer Bedeutung. Oftmals sind den Parteien ihre eigentlichen Gründe und Motivationen nicht wirklich bewusst.
Sie kennen ihre Position, also, was sie wollen, aber nicht ihre Beweggründe, warum sie es wollen. Diese Diskrepanz kann öfters zu Konfliktausgängen führen, in denen beide Seiten die Verlierer sind. Einmal mehr macht verdeutlicht Ury dies an einer Geschichte aus dem Leben.
Zwei Studenten streiten sich in einer Bibliothek. Der eine will, dass das Fenster geöffnet wird. Der andere will, dass es geschlossen bleibt. Der erste Student öffnet das Fenster, der zweite schlägt es wieder zu. Ein Streit bricht aus, und der Bibliothekarin kommt herüber, um herauszufinden, was los ist und stellt dann die Schlüsselfrage.
"Warum willst du das Fenster offen haben?", fragt sie den ersten Studenten. "Um frische Luft zu bekommen." "Warum willst du das Fenster geschlossen lassen?", fragt sie den zweiten Studenten. "Weil der Wind meine Unterlagen durcheinander bringt." Daraufhin geht die Bibliothekarin in den Raum nebenan und öffnet ein Fenster, so dass der erste Schüler frische Luft bekommt, ohne dass es für den zweiten zieht.
Weder Kompromiss noch Nullsummenspiel
Ury betont einen besonderen Aspekt dieser Geschichte, der leicht übersehen werden kann: "Beachten Sie, dass es sich nicht nur um einen Kompromiss handelt, bei dem die Differenz zwischen den beiden gegensätzlichen Positionen aufgeteilt wird. In diesem Fall hätte ein halboffenes Fenster beide Schüler unzufrieden zurückgelassen, mit zu wenig Frischluft für den einen und zu viel Zugluft für den anderen. Ein offenes Fenster im Nebenraum ist eine integrative Lösung, die die Interessen beider Seiten befriedigt."
Konflikte müssen keineswegs immer durch Kompromisse gelöst werden. Ein Konflikt ist auch kein Nullsummenspiel, wo jede Seite etwas gibt, was die andere Seite im Kompromiss erhält. Dieser Punkt ist wichtig, weil Menschen oftmals grundsätzlich falsch an einen Konflikt herangehen:
Wenn es um zwischenmenschliche Beziehungen geht, die von gegenseitiger Abhängigkeit geprägt sind - sei es in der Familie, am Arbeitsplatz oder in einer größeren Gemeinschaft -, führt die Frage (wer gewinnt und wer verliert) nur allzu oft zu einem Ergebnis, bei dem alle verlieren. Wenn Sie sich fragen: "Wer gewinnt in meiner Ehe?", befindet sich Ihre Ehe wahrscheinlich in ernsten Schwierigkeiten.
William Ury, Possible
Die Natur des Konflikts
Die weit verbreitete Annahme, ein Konflikt sei stets durch einen mehr oder minder gerechten Kompromiss zu entschärfen, basiert auf einem falschen Verständnis über die Natur eines Konflikts. Urys Erkenntnis nach vierzig Jahren Mediation:
Das Problem ist nicht der Konflikt. Konflikte sind natürlich. Wir brauchen sogar mehr Konflikte, nicht weniger, wenn wir lernen, wachsen und uns weiterentwickeln wollen. Das Problem ist die zerstörerische Art und Weise, wie wir mit Konflikten umgehen - und damit Beziehungen, Leben und Ressourcen zerstören. Zum Glück haben wir eine Wahl.
Wir können Konflikte nicht beenden, aber wir können sie annehmen und umwandeln. Wir können uns dafür entscheiden, mit Konflikten konstruktiv umzugehen und unsere angeborene Neugier, Kreativität und Zusammenarbeit zu nutzen. Konflikte können zwar das Schlimmste in uns zum Vorschein bringen, aber auch das Beste in uns - wenn wir unser volles Potenzial ausschöpfen. Wir sind zu so viel mehr fähig, als wir vielleicht denken. Der Schlüssel liegt darin, "es anders zu sehen".
William Ury, Possible
Echter Dialog
Ljubjana Wüstehube und Dirk Splinter haben in ihrem Buch "Mehr Dialog wagen!" eine Checkliste für einen gelungenen Dialog erstellt, die es wert ist ausführlich zitiert zu werden:
• Für sich selbst sprechen Verstecken Sie sich nicht hinter Verallgemeinerungen wie "Es ist doch normal, dass ...", sondern sprechen Sie aus, worum es Ihnen wirklich geht.
Dirk Splinter und Ljubjana Wüstehube
• Balance zwischen Ehrlichkeit und Diplomatie Finden Sie einen Weg zwischen Offenheit und Diplomatie. Was glauben Sie, der Gruppe von sich selbst im aktuellen Moment zumuten zu können? Überzogene Authentizität kann in Aufdringlichkeit oder auch naive Selbstoffenbarung umschlagen, zu viel Diplomatie wirkt, als werde eine Fassade aufrecht erhalten.
• 1000 gute Gründe für schlechtes Verhalten Begeben Sie sich in den inneren Modus, zuhören zu wollen, um die 1000 guten Gründe der anderen Seite für ihr schlechtes Verhalten zu verstehen. Versuchen Sie, sich von Wertungen, vor allem von Abwertung, freizumachen.
Eine Polarisierung und das deutliche Aussprechen konträrer Positionen bringt den Dialog voran, wenn das ohne Selbstaufwertung bzw. Fremdabwertung gelingt.
• Dreimal tief durchatmen Halten Sie inne, wenn Sie so empört sind oder sich so provoziert oder gekränkt fühlen, dass Sie am liebsten sofort verbal "zurückschießen" möchten.
• Das Gesagte zusammenfassen Dies gilt insbesondere, wenn Sie sich über das Gesagte ärgern oder nicht einverstanden sind. Eine Zusammenfassung ist der einzige überzeugende Beweis für Ihre Partner, dass Sie wirklich zuhören und nicht schon dabei sind, sich das nächste Argument zurechtzulegen.
Ein Risiko
Wüstehube und Splinter betonen in ihrem Buch: "Dialog ist immer ein Wagnis. Um etwas zu bewirken, muss er ergebnisoffen sein."
Aber mit Hilfe des Dialogs kann man viel gewinnen. Ganz in dem Sinne lautet der Ratschlag: "Gehen Sie bis zum Äußersten. Reden Sie miteinander!"
Aber gibt es nicht einen klaren Beweis in der Geschichte, dass ein Dialog ein mehr als zweischneidiges Schwert ist und die Gefahr birgt – so gut er auch gemeint sein mag - dem Krieg die Tür zu öffnen?
Die Verhandlung von München 1938 wird immer wieder – fast wie ein Mantra - als warnendes Beispiel angeführt, weshalb Diplomatie zum Desaster führt und die Anwendung militärischer Gewalt der einzig gangbare Weg sei. Der Diplomat Jonathan Powell erklärt jedoch:
Der Punkt 1938 war nicht, dass Neville Chamberlain nach München gefahren ist, um mit Hitler zu reden (…), sondern zu denken, dass Hitler mit einem großen Stück der Tschechoslowakei abgespeist werden könne. Das Problem ist nicht, mit Terroristen zu reden, sondern ihnen gegenüber nachzugeben.
Jonathan Powell
Im zweiten und letzten Teil dieser Artikelserie sollen beispielhaft konkrete Beispiele aus der Geschichte für erfolgreiche Friedensverhandlungen präsentiert werden.
Literatur:
David Bohm: Der Dialog
Dirk Splinter und Ljubjana Wüstehube: Mehr Dialog wagen!
William Ury: Possible