Konflikt als Chance: "Gehen Sie bis zum Äußersten. Reden Sie miteinander!"

Kriege mit hohem Eskalationspotential, stark polarisierte Gesellschaft: Was können Dialog und Mediation? Alternative Ansätze zur Konfliktlösung (Teil1).

Sie bestimmen die Partnerschaft, die Familie, die Freundschaften, die Gesellschaft bis hin zu Kriegen: Konflikte sind allgegenwärtig. Die Fähigkeit zum gemeinsamen Gespräch, zu einer ergebnisoffenen Verhandlung ist von existentieller Bedeutung.

Die Grundkenntnisse des Dialogs und der Mediation sind jedoch selten Gegenstand der Schule oder der beruflichen Ausbildung.

Die Lehre der Semai

Der Anthropologe und Verhandlungsexperte William Ury, der das weltbekannte Harvard-Konzept mitbegründet hat, und einer der wichtigsten Vermittler weltweit ist, hat vor Kurzem in seinem bisher nur auf Englisch erschienen Buch Possible. Wie wir in einem Zeitalter des Konflikts überleben (und gedeihen) die Erkenntnisse und Erfahrungen seines Lebens dargestellt.

Einleitend erzählt Ury in seinem überaus lesenswerten Buch eine lebensprägende Erfahrung:

Vor dreißig Jahren reiste ich tief in die Regenwälder Malaysias, um das Volk der Semai zu besuchen, das viele Anthropologen für den friedlichsten Stamm der Welt halten. Ich wollte verstehen, wie sie mit ihren Konflikten umgehen.

Sie empfingen mich mit traditioneller Gastfreundschaft in einem großen Bambushaus auf Stelzen im Dschungel. Ein Dutzend Familien teilten sich denselben Raum, aßen und schliefen gemeinsam. Am nächsten Morgen, nach einer Nacht auf einer Bambusplattform, nutzte ich endlich die Gelegenheit, einem der Ältesten eine Frage zu stellen, die ich mir schon lange gestellt hatte:

"Warum führt euer Volk keinen Krieg?"

"Krieg?", fragte er und war einen Moment lang verwirrt, als er über die Frage nachdachte. Dann sah er mich direkt an und antwortete durch einen Kollegen, der übersetzte:

"Taifune, Erdbeben und Tsunamis sind Naturgewalten, die wir nicht kontrollieren können. Aber der Krieg wird von uns gemacht. Daher kann er von uns gestoppt werden."

Er sprach, als ob die Antwort offensichtlich wäre.

William Ury, Possible

Drei Schlüssel auf dem Weg zum Möglichen

Um Konflikte zu lösen, braucht es drei Schlüssel, wie Ury erklärt. Bei Konflikten ziehen sich beide Seiten meist in ihre Bunker zurück. Stattdessen sollten wir uns bildlich gesprochen aber in Ruhe auf den Balkon begeben, um das Gesamtbild zu sehen, neue Perspektiven (und damit auch neue Lösungsmöglichkeiten) finden zu können und nicht in der eigenen subjektiven Wahrnehmung gefangen zu bleiben.

Der zweite Schlüssel besteht darin, zu versuchen eine goldene Brücke zu bauen, die es beiden Seiten erleichtert aufeinander zuzugehen. Ein einladender Weg, um die Kluft des Konflikts zu überwinden.

Der dritte Schlüssel ist die sogenannte "dritte Seite". Bei fast jedem Streit gibt es sie: die Familie, die Freunde, die indirekt Beteiligten, die außerhalb des Konflikt Stehenden. Sie können eine besondere und entscheidende Rolle bei einer Konfliktlösung übernehmen.

Ury fasst die Funktion dieser drei Schlüssel zusammen:

Ich betrachte den Balkon, die Brücke und die dritte Seite gerne als unsere angeborenen menschlichen "Superkräfte" - natürliche Fähigkeiten, die jeder von uns lernen kann, zu aktivieren und einzusetzen. Jede davon schafft einen Sieg auf dem Weg zum Möglichen. (...)

Der Balkon hilft uns, neue Möglichkeiten zu sehen. Die Brücke hilft uns, neue Möglichkeiten zu schaffen. Und die dritte Seite hilft uns, nach neuen Möglichkeiten zu handeln. Alle drei zusammen, so glaube ich, können uns befähigen, selbst unsere schwierigsten Konflikte zu transformieren.

William Ury, Possible

Ein heikles Erbe

Anhand eines alten Märchens aus dem Nahen Osten veranschaulicht Ury das Potential dieser drei Schlüssel. Ein alter Mann stirbt und hinterlässt seinen drei Söhnen ein Erbe: Die Hälfte erhält der älteste Sohn, der mittlere ein Drittel und schließlich ein Neuntel geht an den jüngsten Sohn. Die Sache hat allerdings einen Haken. Das Erbe besteht aus siebzehn Kamelen, einer Zahl, die weder durch zwei, drei oder neun teilbar ist, so dass das Erbe scheinbar unmöglich aufgeteilt werden kann.

Jeder der drei Brüder ist felsenfest überzeugt, recht zu haben und seinen Anspruch auf sein Erbe durchsetzen zu dürfen. Es scheint keinen Ausweg zu geben, außer, dass ein Bruder nachgibt und ein Opfer bringt. Es kommt zu einem erbitterten Streit, der die ganze Familie bedroht.

Schließlich wendet sich die Familie in ihrer Verzweiflung an eine weise, alte Frau. Während sich die Brüder gegenseitig nur beschimpfen, hört sie einfach nur zu und bittet anschließend um einen Tag Bedenkzeit.

Am nächsten Tag erscheint sie bei den drei Brüdern und führt ihr eigenes Kamel mit. "Ich weiß nicht, ob ich euch helfen kann", verkündet sie den Brüdern. "Aber wenn ihr möchte, habe ich hier dieses schöne Kamel für euch. Ich hoffe, ihr nehmt sie als mein Geschenk für euch an."

Die drei hasserfüllten Brüder sind verblüfft über dieses unerwartete Angebot. Einen Moment lang sehen sie sich an und es gelingt ihnen ein gemeinsames Dankeschön zu stammeln. Die weise alte Frau verabschiedet sich und lässt die drei Brüder mit nun achtzehn Kamelen zurück.

"Ich nehme meine Hälfte", sagt der Älteste schließlich. "Das sind neun." "Ich nehme mein Drittel", sagt der mittlere Bruder. "Das sind sechs." "Ich nehme mein Neuntel", sagt der Jüngste. "Das sind zwei."

Ein Kamel bleibt übrig. Das Geschenk der weisen Frau. Daraufhin geben die drei Brüder ihr das Kamel zurück und danken ihr herzlich für ihre Hilfe. Alle sind glücklich und feiern nun zusammen den neu gefundenen Familienfrieden.

William Ury nutzt diese Geschichte schon seit 40 Jahren, um Konfliktlösungen zu beschreiben, aber erst seit Kurzem hat er erkannt, dass in ihr die Lektion der genannten drei Schlüssel steckt: Balkon, Brücke und dritte Seite.

Die weise Frau geht auf den Balkon, um nach einer neuen Perspektive zu schauen und findet in Form des eigenen Kamels eine goldene Brücke. Allerdings wäre die Lösung des Konflikts nicht ohne den Druck der Familienmitglieder möglich gewesen, die die drei Streithähne zur weisen Frau geschickt haben.

Ury kommentiert:

Dies ist die Lehre, die ich aus dieser alten Geschichte ziehe: Um zerstörerische Konflikte, wie wir sie heute erleben, erfolgreich zu bewältigen, müssen wir unser gesamtes menschliches Potenzial freisetzen. Ein Sieg allein ist nicht genug.

Wenn wir auf den Balkon gehen, wird das Potenzial in uns freigesetzt. Wenn wir eine goldene Brücke bauen, wird das Potenzial zwischen uns freigesetzt. Wenn wir die dritte Seite einnehmen, wird das Potenzial um uns herum freigesetzt. Wir brauchen alle drei, die synergetisch zusammenarbeiten.

William Ury, Possible

Respekt

Eine wichtige Voraussetzung für eine gelungene Mediation ist der Respekt für den Anderen. Wie kaum jemand anderes hat dies Nelson Mandela verkörpert. Als Mandela im Gefängnis saß, entschied er sich Afrikaans zu lernen, die Sprache seines Feindes.

Nicht nur, um buchstäblich zu wissen, was die Gefängniswärter untereinander sagten, sondern auch, um die Menschen und ihre Mentalität zu verstehen. Anschließend beschäftigte er sich mit der Geschichte der Buren und ihren Traumata während des Burenkrieges, als Tausende ihrer Kinder, Frauen und Ältesten in britischen Konzentrationslagern gefangen gehalten worden waren. Dabei entwickelte er einen tiefen Respekt für ihren Unabhängigkeitsgeist.

Diese Kenntnis sollte sich später als enorme Hilfe erweisen, als es darum ging, seine politischen Gegner davon zu überzeugen, dem grausamen und ungerechten System der Apartheid ein Ende zu setzen.

Mandela nahm geheime Verhandlungen mit dem Afrikaans-Führer General Constand Viljoen auf. Der Chef der südafrikanischen Verteidigungsstreitkräfte und Gründer der Afrikanischen Volksfront hatte die Befehlsgewalt über fünfzig- bis sechzigtausend Mann. Er war in der Lage, die bevorstehenden ersten freien Wahlen in Südafrika zu verhindern und einen Bürgerkrieg auszulösen.

Viljoen akzeptierte ein Treffen und erwartete angespannte Verhandlungen, aber stattdessen führte ihn der gutgelaunte Mandela in ein gemütliches Wohnzimmer, setzte sich neben ihn auf eine bequeme Couch, und sprach mit ihm auf Afrikaans, einschließlich Smalltalk und über Sport. Viljoen war verblüfft von Mandelas Niveau des Afrikaans und seiner warmen, gesprächigen Vertrautheit mit der afrikaanischen Kultur. Ein Akt des ehrlichen Respekts.

Im Laufe des Gesprächs überzeugte Mandela dann Viljoen, den bewaffneten Aufstand abzubrechen und stattdessen bei den bevorstehenden Wahlen als Oppositionsführer zu kandidieren. Als Mandela 1999 von seiner Präsidentschaft zurücktrat, hielt Viljoen im Parlament eine kurze Rede, in der er Mandela lobte. In dessen Muttersprache, Xhosa.

Mandela hat in seinem Interesse und seinem Respekt für die Sprache, die Geschichte und die Kultur eines Volkes, das er mit Recht als Unterdrücker schlicht verdammen konnte, beherzigt, was ein Dialogteilnehmer erkannt hat, den die Mediatoren Ljubjana Wüstehube und Dirk Splinter zitieren:

Es ist viel schwieriger, die politischen Ansichten eines Gegenübers einfach zu verurteilen, wenn man weiß, woher sie kommen.