Konflikt als Chance: "Gehen Sie bis zum Äußersten. Reden Sie miteinander!"

Kriege mit hohem Eskalationspotential, stark polarisierte Gesellschaft: Was können Dialog und Mediation? Alternative Ansätze zur Konfliktlösung (Teil1).

Sie bestimmen die Partnerschaft, die Familie, die Freundschaften, die Gesellschaft bis hin zu Kriegen: Konflikte sind allgegenwärtig. Die Fähigkeit zum gemeinsamen Gespräch, zu einer ergebnisoffenen Verhandlung ist von existentieller Bedeutung.

Die Grundkenntnisse des Dialogs und der Mediation sind jedoch selten Gegenstand der Schule oder der beruflichen Ausbildung.

Die Lehre der Semai

Der Anthropologe und Verhandlungsexperte William Ury, der das weltbekannte Harvard-Konzept mitbegründet hat, und einer der wichtigsten Vermittler weltweit ist, hat vor Kurzem in seinem bisher nur auf Englisch erschienen Buch Possible. Wie wir in einem Zeitalter des Konflikts überleben (und gedeihen) die Erkenntnisse und Erfahrungen seines Lebens dargestellt.

Einleitend erzählt Ury in seinem überaus lesenswerten Buch eine lebensprägende Erfahrung:

Vor dreißig Jahren reiste ich tief in die Regenwälder Malaysias, um das Volk der Semai zu besuchen, das viele Anthropologen für den friedlichsten Stamm der Welt halten. Ich wollte verstehen, wie sie mit ihren Konflikten umgehen.

Sie empfingen mich mit traditioneller Gastfreundschaft in einem großen Bambushaus auf Stelzen im Dschungel. Ein Dutzend Familien teilten sich denselben Raum, aßen und schliefen gemeinsam. Am nächsten Morgen, nach einer Nacht auf einer Bambusplattform, nutzte ich endlich die Gelegenheit, einem der Ältesten eine Frage zu stellen, die ich mir schon lange gestellt hatte:

"Warum führt euer Volk keinen Krieg?"

"Krieg?", fragte er und war einen Moment lang verwirrt, als er über die Frage nachdachte. Dann sah er mich direkt an und antwortete durch einen Kollegen, der übersetzte:

"Taifune, Erdbeben und Tsunamis sind Naturgewalten, die wir nicht kontrollieren können. Aber der Krieg wird von uns gemacht. Daher kann er von uns gestoppt werden."

Er sprach, als ob die Antwort offensichtlich wäre.

William Ury, Possible

Drei Schlüssel auf dem Weg zum Möglichen

Um Konflikte zu lösen, braucht es drei Schlüssel, wie Ury erklärt. Bei Konflikten ziehen sich beide Seiten meist in ihre Bunker zurück. Stattdessen sollten wir uns bildlich gesprochen aber in Ruhe auf den Balkon begeben, um das Gesamtbild zu sehen, neue Perspektiven (und damit auch neue Lösungsmöglichkeiten) finden zu können und nicht in der eigenen subjektiven Wahrnehmung gefangen zu bleiben.

Der zweite Schlüssel besteht darin, zu versuchen eine goldene Brücke zu bauen, die es beiden Seiten erleichtert aufeinander zuzugehen. Ein einladender Weg, um die Kluft des Konflikts zu überwinden.

Der dritte Schlüssel ist die sogenannte "dritte Seite". Bei fast jedem Streit gibt es sie: die Familie, die Freunde, die indirekt Beteiligten, die außerhalb des Konflikt Stehenden. Sie können eine besondere und entscheidende Rolle bei einer Konfliktlösung übernehmen.

Ury fasst die Funktion dieser drei Schlüssel zusammen:

Ich betrachte den Balkon, die Brücke und die dritte Seite gerne als unsere angeborenen menschlichen "Superkräfte" - natürliche Fähigkeiten, die jeder von uns lernen kann, zu aktivieren und einzusetzen. Jede davon schafft einen Sieg auf dem Weg zum Möglichen. (...)

Der Balkon hilft uns, neue Möglichkeiten zu sehen. Die Brücke hilft uns, neue Möglichkeiten zu schaffen. Und die dritte Seite hilft uns, nach neuen Möglichkeiten zu handeln. Alle drei zusammen, so glaube ich, können uns befähigen, selbst unsere schwierigsten Konflikte zu transformieren.

William Ury, Possible

Ein heikles Erbe

Anhand eines alten Märchens aus dem Nahen Osten veranschaulicht Ury das Potential dieser drei Schlüssel. Ein alter Mann stirbt und hinterlässt seinen drei Söhnen ein Erbe: Die Hälfte erhält der älteste Sohn, der mittlere ein Drittel und schließlich ein Neuntel geht an den jüngsten Sohn. Die Sache hat allerdings einen Haken. Das Erbe besteht aus siebzehn Kamelen, einer Zahl, die weder durch zwei, drei oder neun teilbar ist, so dass das Erbe scheinbar unmöglich aufgeteilt werden kann.

Jeder der drei Brüder ist felsenfest überzeugt, recht zu haben und seinen Anspruch auf sein Erbe durchsetzen zu dürfen. Es scheint keinen Ausweg zu geben, außer, dass ein Bruder nachgibt und ein Opfer bringt. Es kommt zu einem erbitterten Streit, der die ganze Familie bedroht.

Schließlich wendet sich die Familie in ihrer Verzweiflung an eine weise, alte Frau. Während sich die Brüder gegenseitig nur beschimpfen, hört sie einfach nur zu und bittet anschließend um einen Tag Bedenkzeit.

Am nächsten Tag erscheint sie bei den drei Brüdern und führt ihr eigenes Kamel mit. "Ich weiß nicht, ob ich euch helfen kann", verkündet sie den Brüdern. "Aber wenn ihr möchte, habe ich hier dieses schöne Kamel für euch. Ich hoffe, ihr nehmt sie als mein Geschenk für euch an."

Die drei hasserfüllten Brüder sind verblüfft über dieses unerwartete Angebot. Einen Moment lang sehen sie sich an und es gelingt ihnen ein gemeinsames Dankeschön zu stammeln. Die weise alte Frau verabschiedet sich und lässt die drei Brüder mit nun achtzehn Kamelen zurück.

"Ich nehme meine Hälfte", sagt der Älteste schließlich. "Das sind neun." "Ich nehme mein Drittel", sagt der mittlere Bruder. "Das sind sechs." "Ich nehme mein Neuntel", sagt der Jüngste. "Das sind zwei."

Ein Kamel bleibt übrig. Das Geschenk der weisen Frau. Daraufhin geben die drei Brüder ihr das Kamel zurück und danken ihr herzlich für ihre Hilfe. Alle sind glücklich und feiern nun zusammen den neu gefundenen Familienfrieden.

William Ury nutzt diese Geschichte schon seit 40 Jahren, um Konfliktlösungen zu beschreiben, aber erst seit Kurzem hat er erkannt, dass in ihr die Lektion der genannten drei Schlüssel steckt: Balkon, Brücke und dritte Seite.

Die weise Frau geht auf den Balkon, um nach einer neuen Perspektive zu schauen und findet in Form des eigenen Kamels eine goldene Brücke. Allerdings wäre die Lösung des Konflikts nicht ohne den Druck der Familienmitglieder möglich gewesen, die die drei Streithähne zur weisen Frau geschickt haben.

Ury kommentiert:

Dies ist die Lehre, die ich aus dieser alten Geschichte ziehe: Um zerstörerische Konflikte, wie wir sie heute erleben, erfolgreich zu bewältigen, müssen wir unser gesamtes menschliches Potenzial freisetzen. Ein Sieg allein ist nicht genug.

Wenn wir auf den Balkon gehen, wird das Potenzial in uns freigesetzt. Wenn wir eine goldene Brücke bauen, wird das Potenzial zwischen uns freigesetzt. Wenn wir die dritte Seite einnehmen, wird das Potenzial um uns herum freigesetzt. Wir brauchen alle drei, die synergetisch zusammenarbeiten.

William Ury, Possible

Respekt

Eine wichtige Voraussetzung für eine gelungene Mediation ist der Respekt für den Anderen. Wie kaum jemand anderes hat dies Nelson Mandela verkörpert. Als Mandela im Gefängnis saß, entschied er sich Afrikaans zu lernen, die Sprache seines Feindes.

Nicht nur, um buchstäblich zu wissen, was die Gefängniswärter untereinander sagten, sondern auch, um die Menschen und ihre Mentalität zu verstehen. Anschließend beschäftigte er sich mit der Geschichte der Buren und ihren Traumata während des Burenkrieges, als Tausende ihrer Kinder, Frauen und Ältesten in britischen Konzentrationslagern gefangen gehalten worden waren. Dabei entwickelte er einen tiefen Respekt für ihren Unabhängigkeitsgeist.

Diese Kenntnis sollte sich später als enorme Hilfe erweisen, als es darum ging, seine politischen Gegner davon zu überzeugen, dem grausamen und ungerechten System der Apartheid ein Ende zu setzen.

Mandela nahm geheime Verhandlungen mit dem Afrikaans-Führer General Constand Viljoen auf. Der Chef der südafrikanischen Verteidigungsstreitkräfte und Gründer der Afrikanischen Volksfront hatte die Befehlsgewalt über fünfzig- bis sechzigtausend Mann. Er war in der Lage, die bevorstehenden ersten freien Wahlen in Südafrika zu verhindern und einen Bürgerkrieg auszulösen.

Viljoen akzeptierte ein Treffen und erwartete angespannte Verhandlungen, aber stattdessen führte ihn der gutgelaunte Mandela in ein gemütliches Wohnzimmer, setzte sich neben ihn auf eine bequeme Couch, und sprach mit ihm auf Afrikaans, einschließlich Smalltalk und über Sport. Viljoen war verblüfft von Mandelas Niveau des Afrikaans und seiner warmen, gesprächigen Vertrautheit mit der afrikaanischen Kultur. Ein Akt des ehrlichen Respekts.

Im Laufe des Gesprächs überzeugte Mandela dann Viljoen, den bewaffneten Aufstand abzubrechen und stattdessen bei den bevorstehenden Wahlen als Oppositionsführer zu kandidieren. Als Mandela 1999 von seiner Präsidentschaft zurücktrat, hielt Viljoen im Parlament eine kurze Rede, in der er Mandela lobte. In dessen Muttersprache, Xhosa.

Mandela hat in seinem Interesse und seinem Respekt für die Sprache, die Geschichte und die Kultur eines Volkes, das er mit Recht als Unterdrücker schlicht verdammen konnte, beherzigt, was ein Dialogteilnehmer erkannt hat, den die Mediatoren Ljubjana Wüstehube und Dirk Splinter zitieren:

Es ist viel schwieriger, die politischen Ansichten eines Gegenübers einfach zu verurteilen, wenn man weiß, woher sie kommen.

Das Leiden der Anderen ernst nehmen

Vielleicht einer der schwierigsten Aspekte des Versuchs eines Dialogs ist es, die Leiden der anderen, der verfeindeten Seite ernst zu nehmen. Je stärker und gewalttätiger ein Konflikt ist, desto schmerzlicher ist es, von dem Schmerz der eigenen Seite einmal abzusehen und den Schmerz der Anderen ohne Abwertung und Schuldzuweisung ehrlich wahrzunehmen.

Ein besonders beeindruckendes Beispiel berichtet Ury aus seiner eigenen Erfahrung bei dem Friedensprozess in Kolumbien. Kaum ein Konflikt auf der Welt schien unlösbarer als dieser Bürgerkrieg, der das Land fast ein halbes Jahrhundert lang geprägt und 450.000 Menschenleben gefordert hatte.

Als die Friedensgespräche trotz eines vielversprechenden Beginns sich ohne erkennbaren Fortschritt hinschleppten, entschied sich der damalige kolumbianische Präsident Santos zu einem mehr als ungewöhnlichen Schritt: Er fordert die Opfer des Konflikts auf, den Verhandlungsführern gegenüber öffentlich über ihr Leid zu berichten.

Die allgemeine Skepsis war enorm und die Sorge groß, dass dies zu einer Explosion erneuter Gewalt führen würde. Doch das Gegenteil war der Fall.

Fünf Delegationen von Opfern wurden von den Vereinten Nationen ausgewählt, um diejenigen zu vertreten, die unter der Gewalt aller Konfliktparteien gelitten hatten. Sie legten dem Verhandlungsführer unter großer Medienberichterstattung ein lebendiges und schmerzliches Zeugnis über die Gegenwart und die Zukunft ab.

Danach überraschten die Opfer die Skeptiker. Die meisten von ihnen forderten die Unterhändler auf, härter zu arbeiten, mehr Flexibilität zu zeigen und sich auf einen beispiellosen Friedenspakt zu einigen. Präsident Santos gestand später William Ury, dass das Zeugnis einer der anwesenden Zeugen ihn so bewegt hatte, dass es ihm den Willen gab, weiterhin für den Frieden zu kämpfen.

Es war die Geschichte von Pastora Mira, die ihren Vater, ihre Mutter und zwei Brüder verloren hatte, bevor ihr Sohn gefoltert und getötet worden war. In der Zusammenfassung von Ury:

Etwa zehn Tage, nachdem sie ihren Sohn beerdigt hatte, kam ein verwundeter Mann zu ihrem Haus und bat sie um Hilfe. Sie legte ihn in das Bett ihres Sohnes und pflegte ihn wieder gesund. Als er ging, sah er ein Foto von der Frau und ihrem Sohn. Plötzlich fiel er auf die Knie und begann zu weinen.

"Bitte sagen Sie mir nicht, dass das Ihr Sohn ist."

"Doch, das ist er. Warum fragst du?"

"Weil ich derjenige war, der Ihren Sohn gefoltert und getötet hat", schrie er, während er weinte und immer wieder sagte: "Es tut mir leid. Es tut mir so leid."

Die Mutter sah den Mörder ihres Sohnes an und hob ihn auf die Beine. Zu seiner völligen Überraschung umarmte sie ihn und sagte: "Gracias!"

"Warum in aller Welt bedankst du dich bei mir?", rief der Mann aus.

"Weil du erkannt hast, was du getan hast, und mich um Verzeihung gebeten hast, hast du mich für den Rest meines Lebens von Hass befreit."

Als er später den Friedensnobelpreis erhielt, lud Santos Pastora Mira ein ihn zur Preisverleihung zu begleiten.

William Ury, Possible

Zuhören

Generell verbindet man einen talentierten Verhandler mit einer Person, die überzeugend sprechen kann. Tatsächlich geht es bei einer erfolgreichen Verhandlung vorwiegend darum bewusst zuhören zu können. Daher ist es eine weitere grundlegende Fähigkeit, die zur Mediation nötig ist. Ury betont:

Bei Konflikten beginnen wir naturgemäß mit dem, was wir denken, was unsere Position ist, was wir für richtig halten. Tiefes Zuhören bedeutet, dass wir unseren Standpunkt verlassen und das Gespräch dort beginnen, wo der andere steht. Es bedeutet, dass wir aus ihrem Bezugsrahmen heraus zuhören, nicht nur aus dem unseren.

Beim tiefen Zuhören hören wir nicht nur auf das, was gesagt wird, sondern auch auf das, was nicht gesagt wird. Wir hören nicht nur auf die Worte, sondern auf das, was hinter den Worten steckt. Wir hören auf die Gefühle und Wahrnehmungen der anderen Person. Wir hören auf die Wünsche und Bedürfnisse, Ängste und Träume des anderen.

William Ury, Possible

Einige Mediatoren sprechen in diesem Zusammenhang auch vom zeitweiligen Zurückstellen der eigenen Meinung und "Listen to learn". Und nicht zuletzt: Ein ehrliches Zuhören ist der einfachste erste Schritt, auf den Anderen zuzugehen. Ein Zeichen des Respekts.

Die Kunst der Überzeugung

Eine wichtige Technik bei der Konfliktlösung besteht in der Kunst der Überzeugung. Auch hierfür führt Ury eine Geschichte an, diesmal die griechische Fabel von Äsop.

Am Himmel entbrennt ein Streit zwischen dem Nordwind und der Sonne über die Frage, wer von beiden mächtiger ist. Nach langem Zank einigen sich beide darauf, die Frage durch einen Test zu entscheiden. Sie schauen auf die Erde hinunter und entdecken dort einen Hirtenjungen und beschließen, dass derjenige, dem es gelingt, dem Hirten den Mantel vom Rücken zu reißen, den Wettkampf gewinnt und damit seine größere Macht unter Beweis stellt.

Der Nordwind beginnt und bläst mit aller Kraft, aber ohne Erfolg. Je stärker der Wind bläst, desto fester wickelt der Hirtenjunge seinen Mantel um die Schultern.

Dann ist die Sonne an der Reihe. Sie badet den Jungen geduldig in warmem Sonnenlicht. Nach einer Weile freut sich der Junge und sagt:

"Was für ein schöner Tag! Ich glaube, ich werde mich auf die Wiese legen und die Sonnenstrahlen genießen."

Als er sich hinlegt, streift er seinen Mantel ab und die Sonne gewinnt den Streit.

Für Ury stehen der Nordwind und die Sonne für zwei sehr unterschiedliche Formen der Überzeugung: Gewalt und natürliche Anziehungskraft. Die Sonne respektiert den eigenen Willen des Jungen und versucht ihn nicht durch Drohung zu zwingen, sondern sie schafft ein günstiges Umfeld, in dem er sich schließlich aus eigenem Antrieb dafür entscheidet, seinen Mantel abzulegen.

Ury gibt hierbei zu bedenken:

Das ist es, was ich bei Konflikten immer wieder erlebe. Wir glauben, dass unser Standpunkt richtig ist, also drängen wir natürlich auf ihn. Das ist nur menschlich. Je mehr wir drängen, desto mehr drängt der andere zurück. Und so geht es weiter. Wenn wir nicht viel stärker sind als die andere Seite, stecken wir in einer Pattsituation fest. Kein Wunder, dass heute so viele Konflikte in einer Sackgasse stecken.

Was ist die Alternative?

Ich habe festgestellt, dass erfolgreiche Verhandlungsführer oft genau das Gegenteil von Drängen tun. Stattdessen locken sie an.

William Ury, Possible

Herauszoomen

Eine weitere wichtige Fähigkeit der Mediation, die viel mit dem Balkon zu tun hat, demonstriert Ury seinen Studenten in einem praktischen Beispiel. Er fordert sie auf einen Partner zum Armdrücken zu finden. Ziel des Spiels sei, möglichst viele Punkte zu gewinnen. Jedes Mal, wenn der Arm einer Person nach unten gedrückt, bekommt der Stärkere hierfür 1000 Punkte. Was geschieht nach ein paar Minuten?

Viele hochrote Köpfe, die noch keine Punkte gewonnen haben, einige, die schon ein, zweimal erfolgreich waren und ein, zwei Pärchen, die kreativ geworden sind. Beide Partner haben hier schon mindestens 10.000 Punkte. Die Lösung: Kooperation. Jeweils einer lässt für eine Sekunde den Arm locker und verliert freiwillig. Dann wechseln sie sich ab.

Ury erklärt:

Herauszoomen ist der Moment, in dem wir erkennen, dass die größte Macht, die wir in einem Konflikt haben, die Macht ist, das Spiel zu ändern. Wie oft gehen wir im Leben an Konflikte heran, als ob sie wie ein Armdrücken wären, bei dem es nur darum geht, wer gewinnt und wer verliert? Wie diese Übung deutlich macht, können wir stattdessen ein viel besseres Spiel spielen, von dem wir alle profitieren können, oft viel mehr, als wenn wir ein Spiel gewinnen oder verlieren würden.

William Ury, Possible

Die Frage nach dem Warum

Der Fokus auf die tieferliegenden Gründe für eine Meinung oder Haltung, die zum Streit führen, ist für Ury ebenfalls von besonderer Bedeutung. Oftmals sind den Parteien ihre eigentlichen Gründe und Motivationen nicht wirklich bewusst.

Sie kennen ihre Position, also, was sie wollen, aber nicht ihre Beweggründe, warum sie es wollen. Diese Diskrepanz kann öfters zu Konfliktausgängen führen, in denen beide Seiten die Verlierer sind. Einmal mehr macht verdeutlicht Ury dies an einer Geschichte aus dem Leben.

Zwei Studenten streiten sich in einer Bibliothek. Der eine will, dass das Fenster geöffnet wird. Der andere will, dass es geschlossen bleibt. Der erste Student öffnet das Fenster, der zweite schlägt es wieder zu. Ein Streit bricht aus, und der Bibliothekarin kommt herüber, um herauszufinden, was los ist und stellt dann die Schlüsselfrage.

"Warum willst du das Fenster offen haben?", fragt sie den ersten Studenten. "Um frische Luft zu bekommen." "Warum willst du das Fenster geschlossen lassen?", fragt sie den zweiten Studenten. "Weil der Wind meine Unterlagen durcheinander bringt." Daraufhin geht die Bibliothekarin in den Raum nebenan und öffnet ein Fenster, so dass der erste Schüler frische Luft bekommt, ohne dass es für den zweiten zieht.

Weder Kompromiss noch Nullsummenspiel

Ury betont einen besonderen Aspekt dieser Geschichte, der leicht übersehen werden kann: "Beachten Sie, dass es sich nicht nur um einen Kompromiss handelt, bei dem die Differenz zwischen den beiden gegensätzlichen Positionen aufgeteilt wird. In diesem Fall hätte ein halboffenes Fenster beide Schüler unzufrieden zurückgelassen, mit zu wenig Frischluft für den einen und zu viel Zugluft für den anderen. Ein offenes Fenster im Nebenraum ist eine integrative Lösung, die die Interessen beider Seiten befriedigt."

Konflikte müssen keineswegs immer durch Kompromisse gelöst werden. Ein Konflikt ist auch kein Nullsummenspiel, wo jede Seite etwas gibt, was die andere Seite im Kompromiss erhält. Dieser Punkt ist wichtig, weil Menschen oftmals grundsätzlich falsch an einen Konflikt herangehen:

Wenn es um zwischenmenschliche Beziehungen geht, die von gegenseitiger Abhängigkeit geprägt sind - sei es in der Familie, am Arbeitsplatz oder in einer größeren Gemeinschaft -, führt die Frage (wer gewinnt und wer verliert) nur allzu oft zu einem Ergebnis, bei dem alle verlieren. Wenn Sie sich fragen: "Wer gewinnt in meiner Ehe?", befindet sich Ihre Ehe wahrscheinlich in ernsten Schwierigkeiten.

William Ury, Possible

Die Natur des Konflikts

Die weit verbreitete Annahme, ein Konflikt sei stets durch einen mehr oder minder gerechten Kompromiss zu entschärfen, basiert auf einem falschen Verständnis über die Natur eines Konflikts. Urys Erkenntnis nach vierzig Jahren Mediation:

Das Problem ist nicht der Konflikt. Konflikte sind natürlich. Wir brauchen sogar mehr Konflikte, nicht weniger, wenn wir lernen, wachsen und uns weiterentwickeln wollen. Das Problem ist die zerstörerische Art und Weise, wie wir mit Konflikten umgehen - und damit Beziehungen, Leben und Ressourcen zerstören. Zum Glück haben wir eine Wahl.

Wir können Konflikte nicht beenden, aber wir können sie annehmen und umwandeln. Wir können uns dafür entscheiden, mit Konflikten konstruktiv umzugehen und unsere angeborene Neugier, Kreativität und Zusammenarbeit zu nutzen. Konflikte können zwar das Schlimmste in uns zum Vorschein bringen, aber auch das Beste in uns - wenn wir unser volles Potenzial ausschöpfen. Wir sind zu so viel mehr fähig, als wir vielleicht denken. Der Schlüssel liegt darin, "es anders zu sehen".

William Ury, Possible

Echter Dialog

Ljubjana Wüstehube und Dirk Splinter haben in ihrem Buch "Mehr Dialog wagen!" eine Checkliste für einen gelungenen Dialog erstellt, die es wert ist ausführlich zitiert zu werden:

Für sich selbst sprechen Verstecken Sie sich nicht hinter Verallgemeinerungen wie "Es ist doch normal, dass ...", sondern sprechen Sie aus, worum es Ihnen wirklich geht.
Balance zwischen Ehrlichkeit und Diplomatie Finden Sie einen Weg zwischen Offenheit und Diplomatie. Was glauben Sie, der Gruppe von sich selbst im aktuellen Moment zumuten zu können? Überzogene Authentizität kann in Aufdringlichkeit oder auch naive Selbstoffenbarung umschlagen, zu viel Diplomatie wirkt, als werde eine Fassade aufrecht erhalten.
1000 gute Gründe für schlechtes Verhalten Begeben Sie sich in den inneren Modus, zuhören zu wollen, um die 1000 guten Gründe der anderen Seite für ihr schlechtes Verhalten zu verstehen. Versuchen Sie, sich von Wertungen, vor allem von Abwertung, freizumachen.
Eine Polarisierung und das deutliche Aussprechen konträrer Positionen bringt den Dialog voran, wenn das ohne Selbstaufwertung bzw. Fremdabwertung gelingt.
Dreimal tief durchatmen Halten Sie inne, wenn Sie so empört sind oder sich so provoziert oder gekränkt fühlen, dass Sie am liebsten sofort verbal "zurückschießen" möchten.
Das Gesagte zusammenfassen Dies gilt insbesondere, wenn Sie sich über das Gesagte ärgern oder nicht einverstanden sind. Eine Zusammenfassung ist der einzige überzeugende Beweis für Ihre Partner, dass Sie wirklich zuhören und nicht schon dabei sind, sich das nächste Argument zurechtzulegen.

Dirk Splinter und Ljubjana Wüstehube

Ein Risiko

Wüstehube und Splinter betonen in ihrem Buch: "Dialog ist immer ein Wagnis. Um etwas zu bewirken, muss er ergebnisoffen sein."

Aber mit Hilfe des Dialogs kann man viel gewinnen. Ganz in dem Sinne lautet der Ratschlag: "Gehen Sie bis zum Äußersten. Reden Sie miteinander!"

Aber gibt es nicht einen klaren Beweis in der Geschichte, dass ein Dialog ein mehr als zweischneidiges Schwert ist und die Gefahr birgt – so gut er auch gemeint sein mag - dem Krieg die Tür zu öffnen?

Die Verhandlung von München 1938 wird immer wieder – fast wie ein Mantra - als warnendes Beispiel angeführt, weshalb Diplomatie zum Desaster führt und die Anwendung militärischer Gewalt der einzig gangbare Weg sei. Der Diplomat Jonathan Powell erklärt jedoch:

Der Punkt 1938 war nicht, dass Neville Chamberlain nach München gefahren ist, um mit Hitler zu reden (…), sondern zu denken, dass Hitler mit einem großen Stück der Tschechoslowakei abgespeist werden könne. Das Problem ist nicht, mit Terroristen zu reden, sondern ihnen gegenüber nachzugeben.

Jonathan Powell

Im zweiten und letzten Teil dieser Artikelserie sollen beispielhaft konkrete Beispiele aus der Geschichte für erfolgreiche Friedensverhandlungen präsentiert werden.

Literatur:
David Bohm: Der Dialog
Dirk Splinter und Ljubjana Wüstehube: Mehr Dialog wagen!
William Ury: Possible