Friedensverhandlungen mit Russland: Eine verpasste Chance?
Interview mit Brigadegeneral a. D. Reiner Schwalb über Lehren aus den gescheiterten Verhandlungen in Istanbul 2022: Wie ein besseres Vorgehen aussehen müsste. (Teil1).
Reiner Schwalb ist Brigadegeneral a.D. und war von 2011 bis August 2018 Militärattaché an der Deutschen Botschaft in Moskau. Er hat auch Erfahrungen in Nato-Stäben, wo er sechs Jahre lang tätig war.
Zusammen mit ehemaligen Botschaftern und Generälen, Friedensforschern und Theologen unterzeichnete er Anfang Dezember 2021, im Vorfeld des Ukraine-Krieges, den Aufruf "Raus aus der Eskalationsspirale! Für einen Neuanfang im Verhältnis zu Russland".
Telepolis-Lesern ist er bereits durch Interviews bekannt.
Unser Autor Andreas von Westphalen sprach mit Reiner Schwalb über seine Einschätzung der Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine im Frühjahr 2022, über die Möglichkeit zukünftiger Verhandlungen und die Rolle des Westens in diesem Konflikt.
Die zwei großen Hindernisse bei den Verhandlungen in Istanbul
▶ Im Frühjahr 2022 war kurz nach dem Angriff Russlands die Stimmung in Politik und Medien sehr gegen Friedensverhandlungen eingestellt. Es hieß, Russland wolle keine wirklichen Verhandlungen, es drohe bestenfalls ein Diktatfrieden und Verhandlungsbefürworter spielten entsprechend das Spiel Putins.
Die aktuellen Analysen von Samuel Charap und Sergey Radschenko in Foreign Affairs zeigen, dass bei den Verhandlungen in Istanbul beide Seiten zu Konzession bereit waren. Wie bewerten Sie die neuen Erkenntnisse zu diesen Verhandlungen?
Reiner Schwalb: Ganz neu sind die Erkenntnisse ja nicht, aber sie sind erstmals in einer so konzisen Form dargestellt. Verhandlungen waren offensichtlich möglich, also zumindest im März, April 2022 und sie sind jetzt nach meiner Meinung auch heute noch. Damit wird das Argument entkräftet, Putin zeige keinerlei Verhandlungsbereitschaft und Verhandlungen mit ihm seien nicht möglich.
Mir scheint es unter Berücksichtigung der Lageentwicklung heute allerdings um ein Vielfaches schwerere Verhandlung zu beginnen. Hier, denke ich, gilt es grundsätzlich festzuhalten, dass wenn am Anfang einer Krise oder eines Krieges grundsätzliche Handlungsoptionen ausgeschlossen werden und man zögerlich reagiert, es umso schwieriger ist, den Krieg zu beenden und der Schaden wird umso größer.
So wie Charap und Radchenko es beschreiben, gab es ja zwei große Hindernisse, wenn ich das richtig verstanden habe, um zu einem Ergebnis zu kommen. Das waren erstens die harten Sicherheitsgarantien westlicher Länder. Diese wurden nicht gegeben.
Und zweitens: Russland forderte ein Mitspracherecht bei der Implementierung von Sicherheitsgarantien. Das konnte auch nicht gegeben werden. Es ist offensichtlich, dass keine westliche Demokratie ohne Beteiligung der jeweiligen Parlamente solche Garantien hätte geben können. Also hätte diese Idee vorab mit diesen westlichen Demokratien diskutiert werden müssen oder sie hätten an den Verhandlungen aktiv beteiligt werden müssen.
Und es ist aus meiner Sicht ebenso offensichtlich, dass die russische Forderung vollkommen inakzeptabel war. Dennoch auf der positiven Seite kann man feststellen, dass es grundsätzlich Möglichkeiten zu Verhandlungen gab und auch gibt und auch in Zukunft geben werden.
Allerdings sehe ich drei Ebenen, auf denen parallel verhandelt werden müsste. Nämlich auf der ukrainisch-russischen Ebene, um den Krieg direkt zu beenden, aber auch auf der Nato-Russland-Ebene, um Stabilität erreichen zu können und strategisch bilateral auf der Amerika-Russland-Ebene. Man kann also aus gescheiterten Verhandlungen durchaus lernen und Folgerungen für mögliche zukünftige Verhandlungen ziehen.
"Die Option der Abschreckung von westlicher Seite nicht genutzt"
▶ Inwiefern gab es aus Ihrer Sicht im Frühjahr 2022 für den Westen Möglichkeiten, um die Chancen auf ein Friedensabkommen zu verbessern, die aber ungenutzt geblieben?
Reiner Schwalb: Also unter den oben genannten Bedingungen gab es kaum Möglichkeiten. Aber trotzdem kann man daraus lernen, da die Vermeidung einer theoretisch möglichen direkten militärischen Konfrontation mit Russland auch schon am Anfang des Krieges absolute Priorität unter den westlichen Unterstützern der Ukraine zu genießen schien. Damit wurde die Option der Abschreckung von westlicher Seite nicht genutzt.
Eine Option, die vertraglich natürlich nur zum Schutz von Nato-Mitgliedern oder von EU-Mitgliedern verpflichtend ist, welche man aber aus meiner Sicht, dennoch hätte in Erwägung ziehen können.
Denn Abschreckung verhindert ja genau jene militärische Konfrontation, die nachher weiter fortgeführt wurde. Dennoch, ich denke, es ist jetzt wichtiger, über die Gestaltung und die zukünftige Positionierung des Westens zu sprechen, als über die verpassten Chancen.
Verhaltener Optimismus
▶ Ja, dazu möchte ich fragen, Charap und Radschenko enden ihre Analyse in Foreign Affairs mit dem Ausblick:
Nach den vergangenen zwei Jahren des Gemetzels mag dies alles nur noch Schnee von gestern sein. Aber es erinnert daran, dass Putin und Selenskij bereit waren, außergewöhnliche Kompromisse einzugehen, um den Krieg zu beenden. Wenn Kiew und Moskau also an den Verhandlungstisch zurückkehren, werden sie dort viele Ideen vorfinden, die sich beim Aufbau eines dauerhaften Friedens als nützlich erweisen könnten.
Inwiefern teilen Sie diesen verhaltenen Optimismus und welche Lehren können wir aus den Verhandlungen von Istanbul ziehen, sowie der Erkenntnis, wie weit sie tatsächlich gediehen waren?
Reiner Schwalb: Diesen verhaltenen Optimismus teile ich durchaus, auch wenn sich die Lage natürlich stark verändert hat. Dies nicht nur politisch, sondern auch militärisch. Russland hat über die Krim hinausgehend Provinzen annektiert, ohne diese bisher militärisch erobert zu haben. Und Russland hat militärisch in den vergangenen Monaten die Lage zu seinen Gunsten verbessert.
Damit haben wir zwei grundsätzliche Veränderungen zur Lage im März/April 2022. Weiterhin haben in der öffentlichen Rhetorik beide Seiten scheinbar unannehmbare Hürden für die Aufnahme von Gesprächen aufgebaut. Diese zu überwinden, scheint für eine Autokratie Putins einfacher als für eine Demokratie wie in der Ukraine.
Beispiele für Hürden
Als Beispiel für solche Hürden seien nur einige Punkte aufgeführt. Präsident Selenskyi fordert als Bedingung für den Beginn von Verhandlungen unter anderem die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine, den Abzug aller russischen Truppen, einen internationalen Sondergerichtshof zur Untersuchung aller russischen Verbrechen, Reparationen und Sicherheitsgarantien.
Russland hingegen fordert – so zumindest Dmitri Medwedew –, eine Kapitulation der Ukraine, eine Entmilitarisierung und ebenso Reparationszahlungen. Nur diesmal von der anderen Seite. Die Abwegigkeit solcher Forderungen, wenn auch die ukrainischen Forderungen noch nachvollziehbar sind, ist offensichtlich.
Dennoch sollte man verhandeln, aber der Beginn von Gesprächen muss unkonditioniert sein. In stiller Diplomatie sollte mit beiden Seiten ausgelotet werden, was unter den jetzigen Rahmenbedingungen möglich ist.
Kernlehren aus den gescheiterten Verhandlungen
Kernlehren aus den gescheiterten Verhandlungen wären für mich: Erstens, dass die jeweiligen Partner in die Verhandlungen eingezogen werden müssen, um deren Unterstützung auch zu bekommen.
Bei Sicherheitsgarantien, wir haben das kurz andiskutiert, wären das die genannten westlichen Unterstützer der Ukraine, aber auch China, welches ebenso die Sicherheit der Ukraine garantieren müsste und massiv gegenwärtig Russland unterstützt.
Es wäre zweitens, dass Verhandlungen in der Zielsetzung nicht sofort überfrachtet werden dürfen. Eine Waffenruhe ist leichter zu erreichen, als ein Waffenstillstandsabkommen. Ein Waffenstillstand hingegen ist leichter zu erreichen, als ein Friedensvertrag, der etwas Endgültiges darstellt.
Und drittens: Mindestens die westlichen Unterstützer müssen gemeinsame Ziele definieren und auch einen Weg dorthin. Damit sollte also die Diskussion über unsere Ziele, Priorität bekommen, nicht aber die emotionalisierte und teilweise die ideologisierte Diskussion über Waffenlieferungen.
Für harte Sicherheitsgarantien
▶ Im Hinblick auf die Verhandlung von Istanbul, wurde auch die Rolle der Garantie-Staaten thematisiert. Und das hatten Sie ja auch in ihrer ersten Antwort schon angedeutet. Es werden Kanada, Deutschland, Israel, Italien, Polen und die Türkei genannt. Offenbar haben aber die Ukraine vorab beispielsweise nicht mit den USA diesen Punkt besprochen.
Daher zeigen sich verschiedene Analysten pessimistisch, dass diese Staaten tatsächlich die Rolle eines Garantie-Staates und damit die Verantwortung übernommen hätten. Daher die Frage: Teilen Sie diese Einschätzung und benötigt eigentlich nicht jeder vorstellbare Friedensvertrag zwischen Ukraine und Russland grundsätzlich die Garantien anderer Staaten für dessen Einhaltung?
Reiner Schwalb: Ja, ich teile diese Einschätzung vollkommen. Aber, man kann eine Nation nicht zur Garantie verdammen, ohne vorher mit ihr gesprochen zu haben. Nationen haben allein von ihrem Selbstverständnis her eine Verantwortung gegenüber den eigenen Bürger. Deswegen müssen solche Ideen vorab behandelt werden.
Ich plädierte dafür, dass wir uns genau damit auseinandersetzen, harte Sicherheitsgarantien zu geben. Dies könnte auch als Druckmittel gebraucht werden, um Putin von der Erfolglosigkeit weiterer Kriegführung zu überzeugen und ihn damit an den Verhandlungstisch zurückbringen. Wenn wir harte Sicherheitsgarantien jetzt nicht diskutieren und diese – in welcher Form auch immer – nicht geben, könnte es notwendig werden, dass wir solche ungeplant einlösen müssten, falls tatsächlich Nato-Staaten Gefahr laufen, in den Krieg hineingezogen zu werden.
Unsere Bewertung sollte also von der Frage geleitet werden: Ist das Geben solcher Sicherheitsgarantien einer anzustrebenden Stabilität in Europa mehr dienlich als das Verweigern derselben? Könnten also damit Verhandlungen für die Ukraine, wenn wir eine Sicherheitsgarantie geben würden, leichter begonnen werden? Das, ich wiederhole mich, das sollte handlungsleitend sein für uns.
"Meine Wahrnehmung war und ist, dass Russland die Nato fürchtet"
▶ Es kommen heutzutage kaum mehr nennenswerte Friedensinitiative des Westens und die Meinung scheint in Politik und Medien vorherrschend ähnlich eindeutig, wie im Frühjahr 2022 zu sein. Zum Beispiel warnt der Tagespiegel im Falle einer nicht ausreichenden Unterstützung der Ukraine vor einem dritten Weltkrieg.
Die Neue Zürcher Zeitung titelt am 5. Mai, Putin habe das Baltikum im Visier und das Angriffsziel sei Polen. Teilen Sie diese Sorge, dass Russland militärisch nicht in der Ukraine haltmachen würde?
Reiner Schwalb: Zunächst mal, jetzt müssten Sie den Tagesspiegel und die NZZ fragen, wie sie zu diesen Folgerungen kommen, aber aus meiner Sicht werden Aussagen Putins und auch andere aus dem Kreml oder den russischen Propagandamedien mit Planung und Absicht verwechselt.
So als folge Putins Handeln einer linearen, lang angelegten Strategie. Nach meiner Wahrnehmung ist dies falsch. Auch wenn Putin manchmal strategisch handeln mag, so ist doch das opportunistische Handeln ausgeprägter.
Eine massive Unterstützung der Ukraine erscheint mir deswegen nötig, damit Selenskyi aus einer Position relativer Stärke auch in Verhandlungen gehen kann und der Kreml gleichermaßen erkennt, dass er auch mit weiterer Kriegsführung scheitern könnte.
Militärisch scheint es nicht so, als könne Russland in absehbarer Zeit einen operativen Durchbruch erzielen, gefolgt von der Eroberung der Ukraine. Putin hat weder die Stärke noch die Fähigkeiten zur Eroberung und der dann notwendigen Befriedung des ganzen Landes.
Es sieht vielmehr so aus, als wolle er den Donbass und damit die illegal annektierten Oblaste vollständig besetzen. Was Angriffe auf Polen oder das Baltikum angeht, so sollte man nicht verkennen, dass dann Artikel 5 des Nato-Vertrags zum Tragen käme.
Meine Wahrnehmung war und ist, dass Russland die Nato fürchtet. Deswegen ist ein solcher Angriff als großangelegte Operation unwahrscheinlich. Einzig ein Testen der Nato-Geschlossenheit würde dem üblichen russischen Verhaltensmuster entsprechen. Darauf sollten wir schon eingestellt sein.
Dass ein Angriff auf Nato-Gebiet unwahrscheinlich ist, ist also gegenwärtig auch unserer Abschreckung geschuldet. Diese gilt es zu erhalten und auch glaubhaft zu verbessern.
In Teil 2 geht es über die Notwendigkeit intensiver Verhandlungen und die Auseinandersetzung mit den daraus entstehenden Dilemmata.