Konflikt als Chance: "Gehen Sie bis zum Äußersten. Reden Sie miteinander!"

Seite 2: Das Leiden der Anderen ernst nehmen

Vielleicht einer der schwierigsten Aspekte des Versuchs eines Dialogs ist es, die Leiden der anderen, der verfeindeten Seite ernst zu nehmen. Je stärker und gewalttätiger ein Konflikt ist, desto schmerzlicher ist es, von dem Schmerz der eigenen Seite einmal abzusehen und den Schmerz der Anderen ohne Abwertung und Schuldzuweisung ehrlich wahrzunehmen.

Ein besonders beeindruckendes Beispiel berichtet Ury aus seiner eigenen Erfahrung bei dem Friedensprozess in Kolumbien. Kaum ein Konflikt auf der Welt schien unlösbarer als dieser Bürgerkrieg, der das Land fast ein halbes Jahrhundert lang geprägt und 450.000 Menschenleben gefordert hatte.

Als die Friedensgespräche trotz eines vielversprechenden Beginns sich ohne erkennbaren Fortschritt hinschleppten, entschied sich der damalige kolumbianische Präsident Santos zu einem mehr als ungewöhnlichen Schritt: Er fordert die Opfer des Konflikts auf, den Verhandlungsführern gegenüber öffentlich über ihr Leid zu berichten.

Die allgemeine Skepsis war enorm und die Sorge groß, dass dies zu einer Explosion erneuter Gewalt führen würde. Doch das Gegenteil war der Fall.

Fünf Delegationen von Opfern wurden von den Vereinten Nationen ausgewählt, um diejenigen zu vertreten, die unter der Gewalt aller Konfliktparteien gelitten hatten. Sie legten dem Verhandlungsführer unter großer Medienberichterstattung ein lebendiges und schmerzliches Zeugnis über die Gegenwart und die Zukunft ab.

Danach überraschten die Opfer die Skeptiker. Die meisten von ihnen forderten die Unterhändler auf, härter zu arbeiten, mehr Flexibilität zu zeigen und sich auf einen beispiellosen Friedenspakt zu einigen. Präsident Santos gestand später William Ury, dass das Zeugnis einer der anwesenden Zeugen ihn so bewegt hatte, dass es ihm den Willen gab, weiterhin für den Frieden zu kämpfen.

Es war die Geschichte von Pastora Mira, die ihren Vater, ihre Mutter und zwei Brüder verloren hatte, bevor ihr Sohn gefoltert und getötet worden war. In der Zusammenfassung von Ury:

Etwa zehn Tage, nachdem sie ihren Sohn beerdigt hatte, kam ein verwundeter Mann zu ihrem Haus und bat sie um Hilfe. Sie legte ihn in das Bett ihres Sohnes und pflegte ihn wieder gesund. Als er ging, sah er ein Foto von der Frau und ihrem Sohn. Plötzlich fiel er auf die Knie und begann zu weinen.

"Bitte sagen Sie mir nicht, dass das Ihr Sohn ist."

"Doch, das ist er. Warum fragst du?"

"Weil ich derjenige war, der Ihren Sohn gefoltert und getötet hat", schrie er, während er weinte und immer wieder sagte: "Es tut mir leid. Es tut mir so leid."

Die Mutter sah den Mörder ihres Sohnes an und hob ihn auf die Beine. Zu seiner völligen Überraschung umarmte sie ihn und sagte: "Gracias!"

"Warum in aller Welt bedankst du dich bei mir?", rief der Mann aus.

"Weil du erkannt hast, was du getan hast, und mich um Verzeihung gebeten hast, hast du mich für den Rest meines Lebens von Hass befreit."

Als er später den Friedensnobelpreis erhielt, lud Santos Pastora Mira ein ihn zur Preisverleihung zu begleiten.

William Ury, Possible

Zuhören

Generell verbindet man einen talentierten Verhandler mit einer Person, die überzeugend sprechen kann. Tatsächlich geht es bei einer erfolgreichen Verhandlung vorwiegend darum bewusst zuhören zu können. Daher ist es eine weitere grundlegende Fähigkeit, die zur Mediation nötig ist. Ury betont:

Bei Konflikten beginnen wir naturgemäß mit dem, was wir denken, was unsere Position ist, was wir für richtig halten. Tiefes Zuhören bedeutet, dass wir unseren Standpunkt verlassen und das Gespräch dort beginnen, wo der andere steht. Es bedeutet, dass wir aus ihrem Bezugsrahmen heraus zuhören, nicht nur aus dem unseren.

Beim tiefen Zuhören hören wir nicht nur auf das, was gesagt wird, sondern auch auf das, was nicht gesagt wird. Wir hören nicht nur auf die Worte, sondern auf das, was hinter den Worten steckt. Wir hören auf die Gefühle und Wahrnehmungen der anderen Person. Wir hören auf die Wünsche und Bedürfnisse, Ängste und Träume des anderen.

William Ury, Possible

Einige Mediatoren sprechen in diesem Zusammenhang auch vom zeitweiligen Zurückstellen der eigenen Meinung und "Listen to learn". Und nicht zuletzt: Ein ehrliches Zuhören ist der einfachste erste Schritt, auf den Anderen zuzugehen. Ein Zeichen des Respekts.