Konsumenten als "Mittäter"

Harald Lemke zum "gastrosophical turn" in der Philosophie. Teil 2

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Im zweiten Teil des Interviews über die Philosophie des Essens erzählt Harald Lemke, warum er sich nicht als Teil der Slow-Food-Bewegung sieht und warum die Deutschen beim Essen seiner Ansicht nach weiter sind als die Italiener und Franzosen.

Zu Teil 1 des Interviews

Was macht man, wenn man kein Geld (beziehungsweise keine Zeit) für "gastrosophisch gutes Essen" hat?
Harald Lemke: Kulturgeschichtlich betrachtet hat die Mehrheit der Menschen noch nie soviel freie Zeit gehabt wie wir jetzt. Aber wir verwenden die Zeit für andere Dinge, zum Beispiel vor dem Fernseher, dem Computer oder wir verbringen endlose Stunden unseres Lebens in Transportmitteln. Zeit für gutes Essen, fürs Gärtnern, Selbstkochen und gemeinsame Essen, wäre also genug vorhanden.
Meinen Sie nicht, dass so etwas wie eine Arbeitsverdichtung existiert? Da gibt es zu Mittag die Kantine oder eine Leberkässemmel und am Abend ist man zu kaputt, um etwas Gutes zu kochen.
Harald Lemke: Natürlich ist ein solches Arbeitsleben für viele immer noch der normale Alltag. Klar prägt die traditionelle Arbeitszeit von 9 bis 5 die Menschen, nach wie vor und Viele bekommen es nicht hin, unter solchen unguten Lebensbedingungen ihr Essen (und sei es auch nur das tägliche Hauptgericht) selber zu machen. Deshalb ist eine Gesellschaft wünschenswert, die intelligenter mit der Arbeitszeit umgeht. Im Idealfall sollte es in die Richtung gehen, dass alle gleichermaßen noch mehr freie Zeit zur Verfügung haben, um nicht nur arbeiten zu gehen, sondern auch um andere Dinge zu tun, etwa eine bessere Esskultur zu gestalten.
Nun zum Geld. Natürlich gibt es Haushalte, die ganz wenig Geld haben und momentan ist es tatsächlich so, dass ethisch korrekte Lebensmittel teuer sind. Aber es bleibt eine gesellschaftliche Aufgabe, die Wirtschaft so umzubauen, dass für alle ein gutes Essen möglich ist. Doch es geht bei dieser Frage nicht ausschließlich um Zeit und Geld. Viele von uns könnten mit der Macht, die uns in diesem Bereich gegeben ist, viel mehr erreichen. Die gastrosophische Aufklärung beinhaltet auch, den Menschen klar zu machen, dass sie hier nicht nur Opfer des Systems, sondern als Konsumenten auch Mittäter sind, wenn sie weiter brav in Supermärkte gehen und dort die üblichen Lebensmittel kaufen.
Warum ist die Essenskultur beispielsweise in Italien im Vergleich zum gastrosophischen Entwicklungsland Deutschland eine andere?
Harald Lemke: Auf einer kulturellen Ebene stimmt es bestimmt, dass Italiener, Österreicher und Franzosen dem Essen eine höhere Wertschätzung einräumen. Aber wenn man sich ansieht, welche Dinge in diesen Ländern letztendlich gekauft werden, dann ist dort die Essens-Situation wahrscheinlich ähnlich problematisch. Ich glaube, in Italien oder Frankreich werden sogar noch weniger Bio-Produkte gekauft als in Deutschland.
Die Aufwertung des Essens als alltäglicher Genussquelle gegenüber der Lohnarbeit und dem Fernsehen ist eine kulturelle Leistung dieser Länder. Aber eine andere Sache ist es, sich zu fragen, wo Lebensmittel herkommen, wie sie produziert und bezahlt werden. Auf dieser ethischen Ebene sind die Deutschen international sogar vergleichsweise gut aufgestellt.

" Man sollte seine eigene Verantwortung nicht unterschätzen"

Denken Sie wirklich, dass der einzelne Konsument durch die Änderung seiner Einkaufsverhaltens etwas ändern kann?
Harald Lemke: Da denke ich gewissermaßen buddhistisch: In jeder Handlung steckt alles drin. Der Konsument ist nicht nur Opfer des Systems, die Wirtschaft, Kapitalisten wie die Albrecht-Familie von ALDI brauchen das Geld von uns Konsumenten. Ihr ganzer Reichtum wird von uns finanziert. Zwar zählt der Einzelne wenig, aber die Summe macht's: Man sollte seine eigene Rolle und Verantwortung nicht unterschätzen und auch nicht die Summe gegen den Einzelnen ausspielen. Natürlich kann man als Konsument nicht so eine Entscheidung treffen wie ein Konzernchef oder ein Politiker. Trotzdem bin ich überzeugt, dass es das Primat der Einzelnen vor der Politik und Ökonomie gibt, weil letztlich erst in der kritischen Masse der notwendige Druck entsteht.
Das ist schon immer so gewesen, gesellschaftliche Veränderungen sind immer von unten gekommen. Durch Massierung der einzelnen Akte, Proteste, Wahlstimmen, und so weiter werden der Politik und den Unternehmen zu anderen Entscheidungen bewegt. Wer glaubt, dass es anders herum ist, macht es sich zu bequem mit der eigenen Angepasstheit und redet sich nur die eigene Unterwürfigkeit zurecht.
Inwiefern braucht es philosophisches Denken, um eine Änderung der Ernährungsgewohnheiten zu erreichen?
Harald Lemke: Wir leben in einer Zeit, die in ganz vielen Lebensbereichen drastisch mehr Philosophie braucht. Die Art und Weise, wie wir die letzten 200 Jahre gelebt haben, funktioniert nicht mehr und ist nicht mehr zukunftsfähig. Die Veränderungen, die wir vornehmen müssen, finden aber zunächst im Kopf statt. Deswegen sind Werte und philosophische Interventionen des Umdenkens so wichtig. Die traditionellen Religionen sind als Werte-Quellen für unsere Probleme unbrauchbar. Hier ist die säkularisierte Philosophie eine wichtige Alternative, denn die Rezepte, die uns die Religionen zum Beispiel im Ernährungswesen geben, sind sehr partikular und nicht gut begründet, weil ihnen die entsprechenden historischen Hintergründe abhanden gekommen sind.
Deshalb hat die Philosophie eine wichtige gesellschaftliche Verantwortung, die sie sich bislang aber meist entzieht. Trotzdem sind in den letzten zwanzig Jahren Richtungen wie Bio-Ethik und Wirtschafts-Ethik entstanden. Das heißt, die Philosophie bewegt sich langsam auf die Gesellschaft zu. Darum glaube ich auch, dass aus der Philosophie unersetzbare Impulse und theoretische Begründungen kommen müssen, auch was die Ernährung angeht. Was wir brauchen ist ein gastrosopisches Umdenken, eine neue Ethik, die aus der Philosophie entwickelt werden muss. Trotz ihres derzeitigen Elends gilt heute mehr denn je zuvor: Wir brauchen gute Philosophie.

Slow Food und Knäckebrotkultur

Ich finde die Slow-Food-Bewegung ja auch ganz wunderbar - außer das ganze Getue darum. Aber wäre gutes Essen nicht einmal den Grund, den Mund zu halten? Warum muss man sich zumindest in Deutschland damit immer gleich zu profilieren versuchen?
Harald Lemke: Wenn man sich im politischen Spektrum einmal ansieht, wie viele Gruppierungen es gibt, dann ist Slow-Food nur eine unter vielen. Marx würde im 19. Jahrhundert davon geträumt haben, wie viele politisch aktive Menschen sich an Ernährungsinitiativen beteiligen: Die ganzen Bauernbewegungen in den Entwicklungsländern, die unzähligen Verbraucherschutzinitiativen, et cetera - hier findet viel Bewegung statt. Der Slow-Food-Zweig ist inzwischen recht prominent, hat aber auch seine Schwächen. Ich würde das nicht so heruntermachen wollen wie Sie, weil das eine entmutigende Haltung rechtfertigt. Aber ich bin bewusst auch kein Slow-Food-Mitglied.
Ich glaube, dass die Deutschen in puncto Essen an schlechter Philosophie leiden: Wenn man sich die berühmten Philosophen unserer Zeit wie etwa Jürgen Habermas oder auch die nächste Generation mit Axel Honneth ansieht, dann hat man hierzulande mit der Gastrosophie nicht viel am Hut. Als ich über die Ethik des Essens habilitiert habe, sagte der Kollege Honneth zu mir, das sei keine Philosophie. Wer aber als Philosoph so denkt, erweist der Philosophie einen Bärendienst, weil er bestimmte Dinge einfach nicht reflektiert.
Das wird dann relativ dramatisch, wenn man sich wie gesagt die gesellschaftliche Verantwortung klar macht, die sich für Philosophen gerade aus der Ernährungsthematik ergibt. Und wenn man dann bedenkt, dass man mit der Philosophie, etwa Kant, Hegel, Nietzsche, Heidegger und Adorno, in Deutschland einiges erreicht hat, dann steckt in der Behauptung, Essen sei nichts Philosophisches, ein echtes Armutszeugnis.
Doch wir stehen vor einem gastrosophical return: Wir müssen diesem ganzen Bereich eine größere Relevanz zumessen, um auch philosophisch weiterzukommen.

"Der Protestantismus ist das extreme Resultat dieser allmählichen religiösen Essensverdrängung"

Der Katholizismus wird im Vergleich zum Protestantismus durchaus zu Recht mit dem Mittelalter identifiziert, aber in katholischen Ländern wird in puncto Essen in sinnlichen Genüssen geschwelgt, ganz im Gegensatz zur Knäckebrotkultur in protestantischen Ländern: Haben Sie eine Erklärung hierfür?
Harald Lemke: Erst einmal sind Katholizismus wie auch Protestantismus Teil des Problems, weil beide einen himmlischen Gott anbeten. Das Frühchristentum konkurrierte noch mit den Epikuräern, die einen ganz anderen Gott huldigten. Das höchste Gut und die wahre Weisheit des Bauches, eines guten Essens.
Insgesamt haben Sie aber schon recht: Innerhalb dieser christlichen Ausrichtungen gibt es Nuancen und im Protestantismus gibt es in seiner historischen Gestalt eine verschärfte Tendenz zur Asketisierung. Doch richtig ist: Die Geschichte von Jesus als himmlisches Brot und die frühchristlichen Mahlvergemeinschaftung verweisen durchaus auf interessante gastrosophische Ursprünge und Hintergründe, die sich aber im Laufe der Entwicklung des Christentums komplett verlieren.
Wenn man so will, ist der Protestantismus das extreme Resultat dieser allmählichen religiösen Essensverdrängung.
Wie sieht Ihre Utopie des Essens aus?
Harald Lemke: Ich denke dabei gerne an meinen Kollegen Kant und seine Mittagsgesellschaft: Es ist von ihm eine sehr weise Entscheidung gewesen, dem Essen eine große alltägliche Bedeutung beizumessen. Er versammelte Tag für Tag eine Anzahl von Leuten bei sich zuhause und er schätzte diese Praxis als Inbegriff von wahrer Humanität und moralischem Wohlleben. Dieses "gute Essen in guter Gesellschaft" ist das Symposienwesen, das die Philosophie früh in die Kulturgeschichte des Abendlandes - man denke an das sokratische Gastmahl - einbringt.
Was zu Kants Zeiten allerdings noch kein Thema war, sind die ökologischen Angelegenheiten. Über zweihundert Jahre später ist uns klar: Das Essen muss so produziert sein, dass alle auf diesem Planeten davon leben können, und so, dass die Menschen mit ihrem Essen den Planeten nicht bis auf seine Knochen auffressen, sondern ihn umgekehrt sogar durch ihr Essen bereichern. Man kann Essen beispielsweise auch so anbauen, dass die Humusschicht der Erdkrume und die Artenvielfalt nicht weniger, sondern mehr wird.
Trotz seiner utopischen Mittagsgesellschaft hat Kant die Humanität des Selbst-Kochens noch nicht erkannt. Immerhin hat der Philosoph, wenn man einer Anekdote Glauben schenkt, seinen Senf, den er sehr gerne aß, selbst gemacht. Zwar lehrt Friedrich Nietzsche in "Also sprach Zarathustra" die Lebenskunst des Selberkochens und es gibt das schöne Video von Peter Singer, der sich kochend auf youtube zeigt. Dennoch gibt es kaum kochende Philosophen, die damit unter Beweis stellen, dass zu philosophieren auch heißt, gutes Essen machen zu wissen.
Dabei gibt es in der Philosophie durchaus Ansätze des Selbstkochens und des Selbstanbauens wie bei Epikur mit seinem Garten oder bei Rousseau, der sich einen eigenen Bauernhof wünscht und Nietzsche, der sich bereits einen Garten gemietet hatte, bis zur aktuellen Urban-Gardening-Bewegung, in der Städter zu Teilzeitbauern werden. Das gehört alles zu meiner Utopie einer besseren Gesellschaft und eines guten Lebens und Essens.
Das alles muss so ins Leben greifen, wie es Marx vorschwebte: Morgens gehe ich zum Acker beziehungsweise zum Nachbarschaftsgarten, dann an den Computer und treibe ein wenig Kritik oder bilde mich, dann koche und genieße ich mit anderen und so weiter. Ich finde, es sollte genau darum gehen, um eine solche vielseitige Lebensweise, in der das Essen neben anderen freien Tätigkeiten eine zentrale Rolle spielt. Der historisch erreichte Wohlstand unserer Zivilisation könnte in Zukunft genau dafür genutzt werden, um diese schöne Utopie endlich für alle einzulösen.

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