"Kränkung der parlamentarischen Idee"

Roger Willemsen über die Debattenkultur im Bundestag

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Wir beneiden ihn nicht darum: Der Journalist und Autor Roger Willemsen hat für sein neues Buch ein Jahr lang auf der Zuschauertribüne des deutschen Parlaments Platz genommen, das Gebaren der Abgeordneten studiert und ihren Reden gelauscht. Mit den Mitteln des Literaturwissenschaftlers, aber auch mit viel Emphase für die Menschen, die von den Entscheidungen der Parlamentarier betroffen sind, hat er mit Das hohe Haus eine Analyse darüber abgeliefert, wie im Reichstag die politischen Erfordernisse für das Wachstum der deutschen Wirtschaft diskutiert werden.

Herr Willemsen, was hat im Bundestag am wenigsten Ihren Vorstellungen entsprochen? Positiv und negativ.
Roger Willemsen: Positiv hat am wenigsten meiner Vorstellung entsprochen, dass ich im Parlament einen hohen Sachverstand, echte Beteiligung und ein bis zu Tränen reichendes Engagement vorgefunden habe. Auch einige Sentimentalitäten und so etwas wie Erfahrung konnte ich dort entdecken. Denn der Sachverstande war nicht nur auf das Allgemeine beschränkt, sondern dehnte sich auch auf die Sicht auf einen Stall, eine Schleuse, einen Betrieb, einen Schlachter, eine Krankenschwester aus. Das hat mich erstaunt, weil diese Reden so erfahrungssatt waren.
Was mich negativ überrascht hat war die Disziplinlosigkeit, mit der Parlamentarier nicht nur untereinander umgehen, sondern mit der sie eigentlich den Gedanken der parlamentarischen Auseinandersetzung selbst behandeln. Das kam mir manchmal wie eine Kränkung der parlamentarischen Idee vor und insofern ist das zusammen mit der ungemeinen Floskelhaftigkeit der Rhetorik das Überraschendste im negativen Sinne gewesen.
Wie viele rhetorischen Tricks haben denn die Volksvertreter bei ihren Reden und Zwischenrufen auf Lager?
Roger Willemsen: Die Tricks sind sehr überschaubar. Es ist in der Regel ein stereotypes Spiel mit schönreden innerhalb der Fraktion und schlechtreden gegenüber der Opposition und nachdem die große Koalition entstanden war, hatte sich auch das erübrigt. Der Begriff der Glaubwürdigkeit findet vielfach Verwendung, aber das heißt ja nicht, dass der Politiker sich selber glauben muss. Ich kann nicht sagen, dass ich im Bereich des Demagogischen, Polemischen und Ironischen besonders gefordert worden wäre und auch die Kanzlerin hält, wo es nicht um Fachfragen geht, am Liebsten - wie bei der Neujahrrede - Ansprachen, die einen Zehnjährigen geistig nicht überfordern würden.
Wie hoch ist hier der Anteil von Worthülsen und Botschaften aus dem Werbefernsehen?
Roger Willemsen: Das Werbefernsehen hat eine geringe Bedeutung. Eher kann man merken, dass sich die Talkshow mit ihren Effekten und Eröffnungsgags auch in der Parlamentsrede wiederfindet und manchmal wundert man sich, dass das Parlament unter seinen eigenen Bedingungen nicht raffinierter agiert, als in einer Talkshow. Insofern ist die Allianz, die beiden Formen der öffentlichen Verlautbarung anstreben, sehr harmonisch.

"Wir wünschen uns ja gute Redner und kaum haben wir einen, nennen wir ihn Rattenfänger"

Wie hoch ist der Einfluss des Showgeschäfts auf das Agieren der Politiker im Parlament?
Roger Willemsen: Der Einfluss nimmt vermutlich zu, wobei man sagen muss, dass im Parlament, der Charismatiker, der gute Redner, der witzig Auftretende gleich als Spektakeldarsteller und Effekthascher beargwöhnt wird. Das hat eine ziemlich negative Seite, denn wir wünschen uns ja gute Redner und kaum haben wir einen, nennen wir ihn Rattenfänger. Wir sind froh, wenn die Parlamentarier Stil und Eleganz besitzen, kaum haben sie es tatsächlich, werden sie suspekt, weil man ihnen Showmanship unterstellt. Aber es hat Zeiten gegeben, in denen ich feststellen konnte, dass Redner den Eröffnungsgag eines üblichen Comedymonologes durchaus versuchen. Das funktioniert zwar häufig nicht, aber manchmal doch, so bei Peer Steinbrück und natürlich bei Gregor Gysi.

"Weghören, Abwinken und demonstratives Desinteresse"

Wie gehen denn die Parlamentarier im Plenum miteinander um? Welche Verhaltenstypologien konnten Sie während Ihrer Forschungszeit bei den Abgeordneten analytisch extrahieren?
Roger Willemsen: Der Umgang miteinander ist insofern schamlos als man dem politischen Gegenüber signalisiert, dass es sich nicht lohnt seiner Rede zuzuhören. In dieser Beziehung war ein Weghören, Abwinken und demonstratives Desinteresse gerade auf der Regierungsbank zu beobachten. Wann immer ein Redner jemanden direkt angesprochen hatte, führte dies dazu, dass der Bezeichnete aufstand und ging, lachte, mit jemanden aus seinem Lager zu reden begann und auch die wüstesten Angriffe mit einer zur Schau gestellten guten Laune parierte. Das hat bei Parlamentariern, die ja keine professionellen Schauspieler sind, etwas von einer Laienspielgruppe oder einer Soap.
Die Bühne, die dahinter bespielt wird, ist aber eine ganz andere. Hier kann man sehen, wie die, welche sich gerade eben noch beharkt haben, sich wieder in den Armen liegen, sich wechselseitig auf Artikel aufmerksam machen und sogar Geschenke austauschen. Seit der Veröffentlichung des Buches habe ich immer wieder mit Parlamentariern gesprochen, die mir erzählt haben, wie gut man sich in den Ausschüssen verstehe, um dann giftend vor das Mikrophon zu treten, um anschließend untereinander zu behaupten, dass der Auftritt gerade eben nur ein Schauspiel gewesen wäre und nicht ernst zu nehmen sei. Das widerspricht meiner Vorstellung von dem was Haltung ist: Der Beglaubigung eines Standpunktes durch die ganze Person.
Verhalten sich in puncto Nichtachtung des politischen Gegners Regierung und Opposition gleich?
Roger Willemsen: Die Regierungsseite kann derlei natürlich offensiver vortragen und macht das auch. Das war besonders ärgerlich bei der FDP: Ich habe auf Seiten der FDP so viele substanzlose, auch verächtliche Reden gehört habe, dass ich mich wirklich über das Selbstvertrauen, welches diese von Dauerkrisen geschüttelten kleinen Partei im Parlament zur Schau stellte, wundern musste. Dass dies abgestraft wurde, werte ich als eine weise Einsicht des Volkes, die nicht anders ausfallen hätte können, wenn das Volk genauer auf das Parlament sehen würde und mitbekommen hätte, wie sich diese Partei dort darstellte.

"Gähnende Geistlosigkeit"

Funktioniert das Parlament denn überhaupt noch als Kontrollinstanz der Regierung?
Roger Willemsen: Man hat mehr das Gefühl, dass das Parlament diese Regierung wohlwollend begleitet. Dies wohl deshalb, weil auf der Regierungsbank viele von denen sitzen, die für die Karrieren der unten im Plenum Sitzenden mitverantwortlich sind. Insofern sind die Unterwerfungsgesten gegenüber den Ministern und der Kanzlerin vorherrschend und machen einen peinlichen Eindruck, weil man immer wieder das Gefühl hat, es muss jemand zur Beförderung der eigenen Karriere erst einmal seinen eigenen Minister loben, was allgemein zu einer permanenten Tautologisierung in den Reden führt. Im Grunde sagen alle pausenlos: Mia san mia, ich bin ich und ich bin kompetent, sozial und bin mit mir zufrieden. Das ist häufig von gähnender Geistlosigkeit.
Was ist Ihr Eindruck: Bekommen die Volksvertreter von der außerparlamentarischen Realität noch etwas mit?
Roger Willemsen: Sie bekommen durchaus etwas mit. Nachdem ja ein großer Teil von dem, was Abgeordnete tun, Wahlkreisarbeit ist, war ich anfänglich wirklich erstaunt darüber, wie genau man das Land in den Reden erkennen konnte. Die Lebensbedingungen beispielsweise der sogenannten Eimermenschen, die in Schlachtbetrieben unter unwürdigen Bedingungen arbeiten oder von Krankenschwestern und Hebammen werden durchaus präzise beobachtet. Das heißt nicht, dass diese Beobachtungen in parlamentarische Entscheidungen einfließen, aber ich würde das Parlament immer gegen den Vorwurf in Schutz nehmen, es wisse nichts von uns. Die Einschränkung liegt eher darin, dass die Berufstände, die das Parlament überrepräsentiert, Verwaltungsbeamte und Juristen sind und dort Ärzte, Künstler oder Intellektuelle deutlich fehlen.

"Die Nicht-Gewählten hatten keine Legitimationsprobleme"

Konnten Sie aus den Reden der Abgeordneten abschätzen, wie viel Einfluss die Wirtschaft auf das Parlament hat?
Roger Willemsen: Es hat bereits in meiner ersten Debatte eine offene Auseinandersetzung über Lobbyismus statt gefunden, dass ich mich gewundert habe, wie wenig heimlich dergleichen stattfindet: Im Januar begann nämlich die Grüne Woche und in der Debatte wurde der Opposition vorgeworfen, sie inszeniere jedes mal zu deren Auftakt einen Lebensmittelskandal. Da konnte einen zuerst einmal das Gefühl beschleichen, die einflussreichen Lobbies wären jene, die sich um die Reinheit unserer Lebensmittel kümmern.
Der Redner wurde aber sofort von der Gegenseite ausgebremst, die entgegnete, dass er sich heute Abend mit dem Agrarverband träfe, selber im Vorstand diesen oder jenen Verbandes sitze und selber der größte Lobbyist wäre, so dass es unmöglich sei, diese Tätigkeit noch von seiner Parlamentsarbeit zu trennen. Hier lagen unverhohlen alle Beziehungen zwischen Gewählten und Nicht-Gewählten auf dem Tisch und die Nicht-Gewählten hatten keine Legitimationsprobleme.
Wie beurteilen Sie das Zusammenspiel von Ökonomie, Militär und immateriellen Werten bei den Debatten um Rüstungsexporte?
Roger Willemsen: Das sind zwei getrennte Module. Es wird nicht von der Rüstungsindustrie geredet, sondern von der Sicherheitsindustrie, die in aller Welt die Menschenrechte bewahre. Eine derartige Beschönigung, die aus Rüstungsgütern etwas macht, was sich anhören soll, als würde man damit die freiwillige Feuerwehr ausrüsten, ist schamlos. Die Begriffe, mit denen die Kanzlerin ihre Neujahrsansprache bestücken kann: Frieden, Gemeinsinn, Engagement, Zukunft sind bei genauerem Hinsehen ein Thema, über das im Parlament am allerwenigsten verhandelt wird. Ressourcenknappheit, Migrationsbewegungen, Klimaerwärmung sind alles Bereiche, mit denen sich das Parlament lieber nicht beschäftigt, weil man damit keine Wahlkämpfe gewinnen kann. Gerade bei großen Perspektiven wird sich das Parlament hüten, zu beziffern, was wir auszugeben hätten, wenn wir eine Antwort finden wollten.
Bei der Rüstung ist dies insofern schamlos, weil sich alle vier Parteien, die alle schon einmal an einer Regierung waren, sich mit Bemerkungen überschlagen, wie extrem ihre Rüstungskontrollen seien. Dann muss dann tatsächlich einer von der Linken antreten, der diese für das Jahr 2011 überprüft hat und klarstellen, dass von 17.800 Anträgen auf Rüstungsexporte gerade mal 105 abgelehnt wurden. Das sind ungefähr 0,5 Prozent und das nennt man restriktive Rüstungskontrolle.
Wurden bei den Debatten um die Bundeswehreinsätze auch die "vitalen Interessen" der Bundesrepublik thematisiert?
Roger Willemsen: Das ist der Nachvollzug dessen, was Köhler seinerzeit gesagt hat: Dass es auch Wirtschaftsinteressen seien, die durch militärische Initiativen geschützt werden müssten. Es hat eine Debatte über die Unterstützung der französischen Soldaten in Mali gegeben, die in ihren Grundzügen durchaus auch wirtschaftliche Interessen rekurrierte. In der Krimkrise kann man ja sehen, wie weit Sanktionen gehen können und ab wann man sich lieber keine Probleme mehr macht, weil dies die "vitalen Interessen" der Wirtschaft betrifft.

"Das Parlament denkt sehr viel kurzfristiger als ich angenommen hatte"

Welche drängenden gesellschaftliche Probleme wurden im Parlament gar nicht mehr oder nur unzureichend debattiert?
Roger Willemsen: Ich glaube, dass der gesamte ökologische Komplex im Parlament viel zu knapp kommt: Gerade weil dessen politische Berücksichtigung empfindliche Einschnitte nach sich ziehen würde und alles, was Kosten erhöht und klar macht, dass die sogenannte Energiewende etwas darstellt, was alle bezahlen werden müssen, ist für das Parlament ganz schlecht darstellbar, weil man Angst um die Wiederwahl hat. Ich glaube, dass die Zukunft insgesamt in ihren dramatischen Perspektiven im Parlament nicht behandelt wird, weil man hier langfristige Maßnahmen bräuchte während das Parlament sehr viel kurzfristiger denkt als ich angenommen hatte.
Die beste Rede, die ich im Parlament gehört habe, war eine von Matthias Zimmer - ausgerechnet von der CDU -über die Grenzen des Wachstums, die ich im Buch am längsten zitiert habe. Sie war eine kluge philosophische Auseinadersetzung über die Ideologie des Wachstums, die von den eigenen Leuten weitgehend unbeklatscht gelassen wurde.
Wie wurde denn Hartz IV thematisiert?
Roger Willemsen: Zum Teil durch eine außerordentlich verächtlich vorgetragene Position der FDP, dargestellt durch Martin Lindner - wohlgemerkt nicht Christian Lindner - von dem der Satz stammt, es gebe keine Vermehrung von Armut, sondern nur von Armutsberichten. Man kann ja darüber streiten, was die Ursachen und Lösungen dafür sind, aber die Verachtung, die darin steckt, die Realität von Hartz IV-Empfängern zu verleugnen, hat schon etwas Obszönes.

"Wenn Sie Reden von Sigmar Gabriel vor der Wahl und nach der Wahl vergleichen, ist davon kaum irgendetwas mehr übrig"

Eingeführt haben Hartz IV SPD und die Grünen. Wie gingen die damit um?
Roger Willemsen: Die SPD hatte hier einen schwierigen Zick-Zack-Kurs zu absolvieren: Auf der einen Seite war die Last der Agenda 2010 von Gerhard Schröder, welche die Partei in die Mitte gebracht hat, weswegen ihr linker Flügel fast komplett gekappt wurde und auf der anderen Seite musste sie verstärkt dem sozialen Gewissen verpflichtete Positionen einnehmen. Sie rückte also nach links und das hatte strategische Bedeutung. Wenn Sie nun Reden von Sigmar Gabriel vor der Wahl und nach der Wahl vergleichen, ist davon kaum irgendetwas mehr übrig. Von einer glaubwürdigen und stringenten Haltung der Partei kann man eigentlich nicht mehr reden.
Denn es ist nicht nur absurd, dass Manuela Schwesig als Familienministerin jetzt das Betreuungsgeld durchsetzen muss, das sie im Wahlkampf als grundsätzlich falsch bezeichnet hat, sondern man kann auch sehen, dass von den sozialen Ansätzen nicht mehr viel übrig bleibt, wenn man mit der CDU in eine große Koalition geht.
Wie hoch ist der demokratische Substanzverlust innerhalb der repräsentativen bundesdeutschen Demokratie? Haben wir noch eine Demokratie oder besitzen wir nur mehr den Schein davon?
Roger Willemsen: Wir haben diese Demokratie durchaus noch und wir haben sie in einer im Vergleich zu anderen Ländern relativ transparenten Form. Seltsamerweise hat sich auch bei Journalisten der Glaube durchgesetzt, dass man dem Parlament nicht zuzuhören brauche, weil alles in den Ausschüssen stattfindet, die journalistisch nicht begleitet werden. Das ist eine eigenartig fatalistische Aussage, die letztlich bedeutet, dass wir eine Demokratie haben, die sich im Heimlichen abspielt und dass das, was wir zu sehen bekommen, nicht das Eigentliche und auf dies Eigentliche verzichten wir. Damit kann ich mich nicht abfinden, denn das würde letztlich bedeuten, dass wir eine Demokratie haben, die man ins Hinterzimmer verlegt hat.
Letzte Frage: Was haben Sie in dem Jahr gelernt?
Roger Willemsen: Ich habe gelernt, dass es sich lohnt die außerparlamentarische Opposition zu stärken. Das bedeutet, dass die Bürgerbeteiligung, die das Parlament als etwas Erstrittenes, Errungenes behandeln sollte, etwas außerordentlich Wichtiges ist. Wenn man irgendwie überhaupt noch glaubt, dass es wichtig sei, sich mit Politik zu beschäftigen, darf man die Politik nicht allein dem Parlament überlassen.

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