Krieg in den Städten
Die Aufstände im Irak entwickeln sich zum "worst case-Szenario" für die Koalitionstruppen
Ein Jahr und 121 Milliarden Dollar nach dem Fall von Bagdad stecken die Koalitionstruppen im Irak unter der Führung der Amerikaner in einer verzweifelten Lage. In mehreren Städten, vom Norden des Landes bis zum Süden, stehen die Alliierten zwei Lagern gegenüber: sunnitischen wie schiitischen Aufständischen. Washington und London leugnen bislang den Ernst der Lage, die "kleineren Verbündeten", ebenfalls von Verlusten heimgesucht, denken über den Rückzug nach. Ähnliche Stimmen sind aus dem amerikanischen Senat zu hören. Die amerikanische Bevölkerung deckt nach neuesten Umfragen die Bush-Politik im Irak weniger denn je. Im Generalstab dürfte größte Nervosität herrschen, da man sich jetzt in einer Auseinandersetzung befindet, die vor einem Jahr noch als "worst-case-Szenario" galt: dem Städtekrieg. Entgegen den öffentlichen Verlautbarungen scheint nichts unter Kontrolle. Stattdessen neigt sich die Situation zugunsten des Kalküls der Gegenseite: größtmögliches Chaos, Blutvergießen, Verluste, demütigende Bilder, alles, was die Besatzer und deren Öffentlichkeiten davon überzeugt, dass dieser Krieg nicht zu gewinnen ist.
Die Liste der Städte, in denen sich Koalitionstruppen und Aufständische Gefechte liefern, ist lang - Bagdad, Falludscha, Diwanja, Ramadi, Ammara, Kirkuk, Samawa, Baquba, Nasiriya, Kufa, Kerbela und Kut. Einiges spricht dafür, dass sich der Widerstand weiter ausbreitet. Die neue Dimension wurde von den Medien in den letzten Tagen schon herausgestellt: schiitische und sunnitische Widerstandsgruppen solidarisieren sich. Kein unkoordinierter, an mehreren Orten aufflammender spontaner Aufruhr, sondern gut organisiert, wie Zeugen im Land meinen:
Der Vertreter von Muqtada as-Sadr in Nadschaf hat die letzten Plünderungen und Tötungen in mehreren irakischen Städten im Süden als "Intifada" gegen die Besatzung erklärt..und er machte klar, dass sie mit den sunnitischen Brüdern in Ramadi, Falludscha und Adhamiya im Widerstand vereint sind. As-Sadr hat mehrere Büros und Ämter in beinahe jedem Dorf, in jeder kleinen wie großen Stadt im Süden etabliert... z.B. hat er die Kontrolle in dem kleinen Ort, wo ich arbeite, völlig übernommen; man hat IP-Offiziere terrorisiert, Zivilangestellte und Ärzte...Was mich am meisten überrascht, ist die beinahe professionelle Koordination der Aufstände in diesen Gebieten.
Zeyad, irakischer Blogger
Die USA befänden sich in der "gefährlichsten Phase" seit der Besatzung, so der Guardian heute.
33 Amerikaner sind in den letzten Tagen umgekommen, 12 Marines starben in Ramadi am Dienstag, dem schlimmsten Tag für die Amerikaner seit dem Krieg. Bei den alliierten Truppen gab es zwei Tote. Die größten Verluste erlitten die Iraker: mehr als 190. Im südlichen Kut haben sich die ukrainischen Truppen zurückgezogen. Die Waffengeschäfte der Stadt sollen in der Hand von Sadr-Anhängern sein. In Samawa (Südirak) wurden nach neuesten Meldungen japanische Truppen angegriffen. In Kerbela kämpfen polnische Truppen gegen die al-Mahdi-Armee von as-Sadr. Da sie einen Repräsentanten von as-Sadr verhaftet haben, geraten sie zunehmend unter Druck. In Nasiriya haben sich die italienischen Truppen zurückgezogen, um der irakischen Polizei das Kommando zu überlassen.
Zum ersten Mal ist in Ramadi eine Moschee mit einer Rakete beschossen und von einer Bombe getroffen worden. Nach irakischen Zeugenaussagen sollen 40 Iraker ums Leben gekommen sein, während es nach amerikanischen Angaben ein Todesopfer bei den Koalitionstruppen und keine "zivile Opfer" gegeben hat und "größere Löcher in der Mauer".
Der stellvertretende Befehlshaber für die Koalitionstruppen, General Kimmit, ließ gestern die für solche Fälle typische Formulierung verlauten, dass man mit "überlegten, präzisen und machtvollen Offensiven" gegen die Miliz von As-Sadr, der Al-Mahdi-Armee, vorgehen werde. Die Bombenattacke auf die Moschee rechtfertigte Kimmit damit, dass man gegen eine Truppe von Aufständischen vorgehen wollte, die sich hinter der äußeren Mauer der Moschee verschanzt hätte. Nach seinen Angaben zeigten Bilder der Moschee keine "signifikanten Schäden", eben nur ein größere Löcher in der Mauer, wofür Muslime in aller Welt sehr großes Verständnis haben werden.
Die übliche Beschwichtigungsrhetorik also, die der Wirklichkeit gerne mal aus dem Weg geht. Sowohl das Weiße Haus wie die Downing-Street erkennen keine Krise. Nur hinter den Kulissen gibt es Anzeichen von gesteigerter Unruhe. So sollen sich die Briten darüber beschwert haben, dass Bremer mehrmals den Rat des englischen Repräsentanten im Süden, Jeremy Greenstock, ignoriert habe; Greenstock galt als erfahrener und moderater Experte im Umgang mit Schiiten und hat sich mittlerweile von seinen Aufgaben zurückgezogen.
Man will offiziell keine Fehler eingestehen, wie etwa das stillschweigende Gewährenlassen von Milizen, die Bloggern zufolge seit Monaten mit Waffen herumlaufen. Verteidigungsminister Rumsfeld sieht in den gegenwärtigen Unruhen "keinen Volksaufstand", sondern das Werk einiger "Schurken, Gangs und Terroristen". Muqtada as-Sadr nannte er mehrmals einen "Mörder". Als Lösung des "ernsten" Problems sieht Rumsfeld, wie er gestern ankündigte, zum einen die Möglichkeit, dass manche der US-Truppen länger als vorgesehen im Irak bleiben müssten. Zum anderen die Jagd auf den nächsten großen Schurken und seine Truppe: Muqtada as-Sadr, der allem Anschein nach in der heiligen Imam-Ali-Stätte in Nadschaf Zuflucht gefunden hat und giftige Statements verlautbart, in denen er auch an die schiitischen Brüder im benachbarten Kuwait appelliert.
Der Irak wird für die Amerikaner und die Besatzer zum nächsten Vietnam
Muqtada as-Sadr
Das glauben mittlerweile auch einige Senatsabgeordnete. Gestern wurde das Thema im amerikanischen Senat diskutiert. Wie der Abgeordnete Byrd meinte, sollte die Bush-Regierung sich Gedanken zu einer "Exit-Strategie" machen. Nach einer PEW-Umfrage vom letzten Montag stimmen nur mehr vier von zehn Amerikanern für die Art wie die Bush-Regierung im Irak verfährt - die bislang schlechtesten Werte.
In den letzten Tagen hatte man vor allem auf eine Stellungnahme gewartet, nämlich auf die von Ayatollah Ali As-Sistani. Die Amerikaner versprachen sich moderierende Rückendeckung von dem Schiitenführer, der sich jedoch weigerte, den Aufstand von Muqtada as-Sadr wie gewünscht einseitig zu verurteilen. Stattdessen verurteilte er die Besatzungskräfte und die Aufrührerischen in allgemeinen Worten:
Wir verurteilen die Methoden der Besatzungsmächte, wie sie mit den Ereignissen umgingen, so wie wir die Überschreitungen gegen öffentliches und privates Eigentum kritisieren und alle Handlungen, die zum Zusammenbruch der Ordnung führen.
"Weisheit", fordert Sistani, der nichts mehr fürchtet als eine weitere Eskalation, in seiner Fatwa. Ob das Weiße Haus zuhört? Still ist es jedenfalls. "Iraq ... no problem", murmeln die Weisen dort. Immerzu.
Doch die Lage verschärft sich zusehends. Heute hat Saraya al-Mujahadin, eine bislang unbekannte Gruppe, bekannt gegeben, drei japanische Geiseln in Händen zu haben. Ein Videoband mit Bildern von den Geiseln wurde von al-Dschasira gesendet. Die Gruppe fordert den Rückzug der japanischen Soldaten aus dem Irak innerhalb von drei Tagen, sonst würde man die Geiseln töten. Von anderen Aufständischen sind offenbar acht Koreaner gefangen genommen worden.