Kriegsängste

Wie Kinder die drohende Kriegsgefahr wahrnehmen

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Die ewigen Wiederholungen der schrecklichen Bilder aus New York rufen insbesondere bei jüngeren Kindern und Senioren diffuse Ängste hervor. Kinder können die Terror-Bilder und die inzwischen immer martialischer werdenden Nachrichten nicht in ihren bisherigen Lebenskontext einordnen. Sie können die Bedrohung nicht räumlich distanziert betrachten, da die Medien den Eindruck vermitteln, als seien sie hautnah dabei. Senioren haben vielfach noch die Schrecken des 2. Weltkrieges vor Augen. Sie spüren ihre aufkeimende Angst angesichts der selbst erlebten Bombardierungen, Zerstörungen, Vertreibungen oder Verletzungen. Viele erinnern sich an das nächtliche Fliehen in die Bunker und die Zeit der Leiden und Entbehrungen. Besonders für diese beiden Gruppen sind die Planungen eines Vergeltungsschlages als Kriegbeginn unerträglich und kaum rationell zu verarbeiten.

Die Bilder aus New York werden sich in die Seelen der Kinder einbrennen. Verbunden mit den Nachrichten, dass tausende Tote zu beklagen sein werden, reihte sich in der Berichterstattung der Dauer-Nachrichtensendungen eine Schreckensnachricht an die nächste. Wie gebannt verfolgte man in den Familien die unfassbaren Nachrichten. Immer wieder wurden die Bilder der Flugzeuge, der einstürzenden Wolkenkratzer, der herumirrenden Passanten und weinenden Polizisten oder Feuerwehrleute gezeigt.

Als Kind haben sie uns beigebracht nicht zu prügeln, um Konflikte zu lösen - jetzt greifen sie selbst zu den Waffen.

Tanja, 15 Jahre, in der Broschüre "Ich denke immer an diesen blöden Krieg", Verein für Friedenspädagogik, Tübingen

Bilder, die man so schnell nicht vergisst. Bilder, die viele nur mit Szenarien aus Filmen oder Computerspielen in Verbindung bringen können. Und sie bestätigen, dass die Medien von der Wirklichkeit dieses Terroranschlages überholt wurden. Besonders jüngere Kinder können die Schreckensnachrichten nicht einordnen. Erst ungefähr ab dem 9. Lebensjahr spielt in der kindlichen Erlebniswelt eine räumliche Distanz eine Rolle. Aus diesem Grund empfinden die jüngsten Kinder Kriegs- oder andere schreckliche Nachrichten auch als konkrete Bedrohung. Für die älteren wird die räumliche Distanz allerdings durch die Neuen Medien aufgelöst, denn sie vermitteln dem Betrachter oder Internetnutzer eine Nähe zum Geschehen. Im Fall von New York mussten viele den Einschlag des zweiten Flugzeuges als Augenzeuge miterleben.

Ängste ernst nehmen

Kinder und Jugendliche werden bei derartigen Ängsten in der Regel nicht ernst genommen. Sie gelten als zu klein oder zu jung, um zu dieser Problematik überhaupt schon Stellungnahmen abgeben zu können. Doch selbst Erwachsene finden kaum vernünftige Erklärungen, warum denn Vergeltungsmaßnahmen zu einer kriegerischen Auseinandersetzung führen werden, die letztlich auch das Leben in Deutschland beeinflussen kann. In Amerika scheint man sich klar zu sein, dass man im Fall von militärischen Maßnahmen mit weiteren terroristischen Vergeltungen rechnen muss. Nur selten wird der Auffassung widersprochen, es gebe ein Recht auf Vergeltung mit Waffengewalt. Fast ohnmächtig erscheinen die Antwortmuster der Erwachsenen, denn irgendwie sollen die Terrorakte nicht ohne Folgen bleiben. Niemand glaubt, sich in Zukunft noch sicher sein zu können und viele finden darin die Rechtfertigung der militärischen Pläne der US-Streitkräfte.

Nun haben insbesondere die Kinder in den Schulen in den letzten Jahren sehr viel über Konfliktlösungen gelernt und mussten sogar zum Teil Gewaltverzichtserklärungen in Form von Verträgen abgeben. Dagegen begegnet ihnen jetzt eine Einstellung, dass manchmal eben doch nur eine Gewaltanwendung helfe, um den Frieden und die Sicherheit wieder herzustellen. Kein Wunder, wenn die Kinder in diesem Zweispalt zerrissen werden.

Der Verein für Friedenspädagogik gibt in seiner Broschüre "Ich denke immer an diesen blöden Krieg" Tipps, wie Eltern etwas über die Kriegsängste ihrer Kinder erfahren können:
Achten Sie auf Zeichnungen und Bilder ihrer Kinder
Achten sie auf Körpersymptome wie Nervosität, Beklemmung, Gespanntheit, Aufregung, Schrecken, Panik usw.
Lassen Sie sich die Träume Ihrer Kinder erzählen
Sprechen Sie mit Ihren Kindern über deren Ängste.

Ängste müssen Ernst genommen werden, denn die Auseinandersetzung mit dem Krieg beginnt schon zwischen dem vierten und achten Lebensjahr, führen die Friedensforscher aus. Oft werden diese Ängste zuerst mit den Freunden besprochen. Die Eltern sind oft nur als zweite Ansprechpartner gefragt. In den letzten 10 Jahren ist die Kriegsangst unter den Angstgefühlen immer noch die am meisten dominierendste. Wenn Kinder diese Angst äußern, haben sie ein Recht auf eine unverfälschte Wahrheit. Vor allen Dingen müssen sie deutlich wahrnehmen, dass sie mit ihren Ängsten nicht allein sind und immer einen Ansprechpartner in den Elternteilen finden. Lügen oder Verfälschungen der Realität sind absolut Tabu, denn Kinder sind durchaus in der Lage, solche Gespinste zu entzerren und verlieren damit das Vertrauen zu den wichtigsten Bezugspersonen.

Um zu verhindern, dass Kinder von ihren Ängsten eingenommen werden, rät die Tübinger Friedensinitiative, auf den Fernsehkonsum zu achten und Fernsehsendungen kommentierend zu begleiten. Entscheidend ist es, dass Kinder dieses in der Geborgenheit der Familie verarbeiten können. Es kann also auch nicht schädlich sein, wenn Eltern ihre eigenen Ängste eingestehen, denn in der Einigkeit der Gefühle entsteht auch wieder Verbundenheit.

Jüngere Kinder drücken schmerzliche Erfahrungen oder Angst oft noch in archaischen Symbolen wie King-Kong, Dracula und großen aggressiven Tieren aus (...) Ältere Kinder dagegen benutzen die ihnen aus der Erwachsenenwelt angebotenen Symbole realer Kriege in Film und Fernsehen.

Christian Büttner (Zitat aus Broschüre Verein für Friedenspädagogik)

Erinnerungen an eine längst vergessene Vergangenheit

"Tot oder lebendig" lautet die neuste Forderung von US-Präsident Bush. Damit wird das Ziel von geplanten Vergeltungsmaßnahmen gegen Osama bin Laden und andere Terroristenführer verdeutlicht. In den Medien wird seitdem von zunehmenden Flüchtlingsströmen in Afghanistan berichtet. Die Sprache der Vergeltung wird martialischer. Die Nachrichtenagentur Reuter meldet: "US-Präsident George W. Bush sagte, die Attentäter hätten einen 'mächtigen Giganten' geweckt, der sich nun auf den Vergeltungsschlag gegen 'die Barbaren' vorbereite." Alle Welt wird von den Machthabern mit propagandistischen Mitteln auf einen furchtbaren Gegenschlag gegen das vermeintlich Böse eingestimmt. Offen wird inzwischen darüber spekuliert, noch schlimmeren Attentaten mit Giftgas, biochemischen oder atomaren Waffen zuvorzukommen. Zwar wird immer betont, dass sich alle angedachten Maßnahmen nicht gegen die Muslime an sich richten, die Terroristen aber aus dem fundamentalen islamischen Lager stammen.

Solche offensichtliche Kriegspropaganda ist den Senioren geläufig und sie empfinden die derzeitige Situation als äußerst bedrohlich. Schließlich gehören sie einer Generation an, die hetzerische Maßnahmen gegen eine Menschengruppe kennen und die Folgen eines Krieges am eigenen Leib erfahren haben. Sie haben oft selbst gekämpft, die Bombenangriffe miterlebt, physische und psychische Verletzungen erlitten, Hunger gehabt oder mussten sich vor dem Feind Hunderte von Kilometern durchschlagen. Das erlebte Elend wurde im Laufe der Jahre verdrängt und oft tauchte es nur als Abenteuer in den Erzählungen auf. Doch je schmerzlicher die Erfahrungen waren, umso schneller kann es jetzt zu massiven Stimmungsschwankungen kommen. Zumindest in Deutschland sind 50 Jahre ins Land gegangen, in denen es Frieden gab. Die Kriege in der Welt waren weit weg, so dass die Erlebnisse aus dem Alltag verdrängt werden konnten. Doch mit dem 11. September 2001 hat sich die Situation gewandelt.

Die Terroranschläge werden als massive Bedrohung empfunden und die angekündigten Vergeltungsmaßnahmen unter Einbeziehung oder zumindest Absegnung der NATO schüren die Kriegsängste. Längst verschüttete Erinnerungen sind plötzlich wieder da und lassen die Ängste zu einer akuten Bedrohung werden. "Ich habe das ganze Elend schon einmal mitgemacht", gehört zu den Standardkommentaren. Dies verdeutlicht die aktuelle Stimmungslage, auch wenn es in den Seniorenforen vereinzelte Stimmen gibt, das sei alles nur eine Gefühlsduselei. Diejenigen, die ein Zeichen von Trauer und Anteilnahme zeigten, wurden als "Heuchler" beschimpft. In einem Forum wurden vom Betreiber daraufhin sogar die Beiträge gelöscht, weil die Diskussion in Beleidigungen ausuferte. Darin wurden wohl immer wieder die Amerikaner als selbst verantwortlich bezeichnet. Doch eine Schuldzuweisung wird die Welt wohl kaum von den befürchteten Vergeltungsschlägen gegen die angeblichen Terroristen bewahren. Auch in diesem Krieg werden Zivilisten die Leidtragenden sein und genau davor fürchten sich viele ältere Mitbürger zu Recht. Doch darf die empfundene Betroffenheit nicht zum ohnmächtigen Schweigen, zum Innehalten oder zum Dulden von weiterem, von neuem Unrecht führen.

In Diskussionen hört man immer wieder die Hoffnung, dass der Gegenschlag nicht allzu heftig ausfallen möge. Diese Formulierungen stehen für einen verzweifelten Versuch, etwas zu rechtfertigen, was letztlich dennoch als Bedrohung wahrgenommen wird. Hier schließt sich auch der Kreis der Argumente, denn auch den Kindern sagt man, dass manchmal eben nur Gewalt helfe. Die Situation zeigt die armseligen rhetorischen Rechtfertigungen und psychischen Verarbeitungsmuster im Angesicht einer versagenden Friedenserziehung. Die Kriegsangst ist gerechtfertigt und kaum überwindbar.