Kritik der paranoiden Vernunft

Seite 4: Gäbe es den Paranoiker nicht, dann müssten wir ihn erfinden

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Schon vor Jahren machte der französische Soziologe Luc Boltanski auf den Zusammenhang von Popkultur und Paranoia aufmerksam. Sein Buch "Rätsel und Komplotte" zeigt die Geburt der Paranoia aus dem Detektivroman.

Denn die Detektivgeschichten des 19. Jahrhunderts erzählen uns immer wieder, dass nichts so ist, wie es scheint. Wir lernen also durch den Detektivroman einen Blick auf die Welt, der die Welt als eine rätselhafte zeigt, als eine, die von Verschwörungen und Geheimoperationen bestimmt ist.

Daran knüpfen aktuelle Verschwörungsgeschichten an. Auch "Corona" ist ungreifbar, schwer zu erklären, erfordert komplexe Reaktionen und speist die Sehnsucht nach einfachen Antworten. Und weil es nicht sein darf, dass "ein kleiner Virus", ein reiner Zufall, die ganze Welt erschüttert, muss ein "größerer Plan" dahinter stecken, eine geheime Ansicht, eine Verschwörung. Wer dem Zufall gegenüber ohnmächtig ist, der gewinnt Macht als "der Wissende", derjenige, der "die wahren Zusammenhänge durchschaut" hat.

Zugleich wird der Begriff "Verschwörungstheorie" schnell selbst zu einer Vereinfachung, zu einer leichten, bequemen, ja: paranoiden Antwort. Denn wer so bezeichnet wird, mit dem muss man sich nicht mehr ernsthaft auseinandersetzen. Gäbe es den Paranoiker nicht, dann müssten wir ihn erfinden.

Man kann beispielsweise Impfgegner mit ziemlich vielen guten Gründen für Schwachköpfe halten. Aber wenn die auch nicht gerade über alle Zweifel erhabene WHO Impfgegner als "globale Bedrohung" bezeichnet - ist das nicht selbst eine Art von Verschwörungstheorie?

Derzeit kann man die Tendenz beobachten, dass ein großer Teil der Kritik an den "Pandemie-Eindämmungsmaßnahmen" als Verschwörungstheorie bezeichnet und damit denunziert wird, um sie danach ohne weitere inhaltliche Auseinandersetzung abzutun.

Sehr erhellend schreiben dazu die Verfasser von "Corona und die Demokratie. Eine linke Kritik":

"Abweichende Argumente werden offenbar als Meuterei betrachtet und pauschal diffamiert. Diese Formierung der Gesellschaft macht ... mehr Angst als das Virus selbst."

Die Autoren kritisieren den "verheerenden Konsens" durch den jahrzehntelang erkämpfte Emanzipationsschritte in wenigen Wochen wieder massiv zurückgedreht werden: "Erzeugt wurde eine Atmosphäre von Angst und Massenpanik - verstärkt durch Maßnahmen wie der 'Maskenpflicht' -, vor deren Hintergrund autoritäres Staatshandeln schließlich als vermeintlich 'alternativlose' 'Lösung' verkauft wurde."

Und weiter: "von der BILD-Zeitung bis zur Antifa" scheinen allzu viele "bereit zu sein ..., einen Ausnahmezustand zu akzeptieren, der zum Normalzustand zu werden droht - inklusive eines nicht offiziell erklärten, faktisch aber umgesetzten Notstands, hoher Bereitschaft zu digitaler Überwachung, verbreiteter Denunziationen, in Vorbereitung befindlicher schärferer Polizeigesetze".

Eine kulturelle Gegenstrategie gegen den Mainstream. Avantgarde?

Es gilt also zunächst einmal festzuhalten: Der Begriff der Verschwörungstheorie ist ein Normierung-Begriff. Er dient dazu, bestimmte Ideen von vornherein in ein gewisses Licht zu rücken, sie von vornherein auch zu diffamieren und auszuschließen. In der Wissenschaft spricht man dann gern vom Fachfremden, Dilettantischen, Laienhaften.

Man sollte aber nicht unterschätzen, dass die derzeitige Aufmerksamkeit für Verschwörungstheorien ihr Erfolg ist. Wir sollten auch nicht unterschätzen, dass die Ablehnung, die ihr zum Beispiel jetzt gerade entgegenschlägt, ihr Erfolg ist, und ihre Bestätigung. Verschwörungstheorie wird hier zum sicheren Raum und Rückzugsort - eine kleine Teil-Öffentlichkeit neben der Öffentlichkeit. Sie ist eine kulturelle Gegenstrategie gegen den Mainstream. Eine Form von Avantgarde.

Aufklärung und Wissenschaft taugen als Gegengifte nur bedingt. Denn der Paranoiker braucht den Feind, und ruht in seinen eigenen Gewissheiten. So wie dem Aufklärer und "dem System" die schrecklichen Vereinfacher der Verschwörungstheorie nicht so ungelegen kommen. Ihr Irrsinn ist so offenkundig, dass er als Sinnbild paranoid gestörter Vernunft auch klügere Systemkritik neutralisiert.

Verschwörungstheorien und Paranoia sind ein untrennbarer Teil der Moderne. Langfristig hilft gegen sie vor allem Bildung und Wohlstand, denn ihre Anhänger sind vor allem die Ungebildeten und Abgehängten - oder jene wohlverrenteten Wutbürger, die sich dafür halten, obwohl sie materiell zum oberen Fünftel der Gesellschaft gehören, und nur im Zeitalter von Digitalisierung, political correctness und postkolonialer Vernunft plötzlich kulturell abgehängt sind.

Kurz- und mittelfristig könnte vielleicht am ehesten eine integrierende, charismatische Gegen-Erzählung helfen, die selbst einen Zusammenhang konstruiert, der auratisch ist, aber faktengestützt. Eine "Mythologie der Vernunft" (Hegel) also, die Ideen und Erkenntnisse ästhetisch scheinen lässt, ohne sie dumm zu machen.

Literaturhinweise

Luc Boltanski: "Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft" Suhrkamp, Berlin 2013

Michael Butter: "'Nichts ist, wie es scheint'. Über Verschwörungstheorien". Suhrkamp, Berlin 2020 (2te Auflage)

Gerald Grüneklee, Clemens Heni, Peter Nowak: "Corona und die Demokratie. Eine linke Kritik"; Edition Critic, Berlin 2020

Gerard Naziri: "Paranoia im amerikanischen Kino"; Remscheid 2003 (vergriffen)

Katharina Nocun/ Pia Lamberty: "Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen"; Quadriga, Berlin 2020