Kritik der paranoiden Vernunft
Allgemeine Verunsicherung im Informationsdschungel: Schwarze Utopien und neue Ordnung am Abgrund des Chaos
Es kann kein Zufall sein. Bereits im letzten Winter schrieben zwei junge Wissenschaftlerinnen ein Buch über Verschwörungstheorien, das genau jetzt, in der letzten Woche erschienen ist. In der Woche, in der plötzlich alle Medien über das Thema sprachen. Offensichtlich wussten sie mehr.
Es kann auch kein Zufall sein, dass genau im März, das bisher wichtigste auf Deutsche erschienene Buch des Tübinger Amerikanisten Michael Butter, der ein EU-Forschungsprojekt über Verschwörungstheorien leitet, vergriffen war. Offenbar sollten wir nicht lesen, was darin steht.
Indiz eines Zusammenhangs
Diese Beispiele zeigen, wie die verschwörungstheoretische Rhetorik auf der Faktenebene funktioniert: Banalitäten, die für sich nichts miteinander zu tun haben, zum Teil einander gar widersprechen, werden kombiniert und mit raunenden Kommentaren versehen zum Indiz eines Zusammenhangs: Dass ein Buch zum Thema herauskommt, scheint diesen an der Oberfläche genauso zu bestätigen, wie die Tatsache, dass eines gerade nicht verfügbar ist. Fazit: Es kann kein Zufall sein.
Versehen wird diese "Erkenntnis" dann mit einer Begründungsstruktur, die ebenfalls weit hergeholt ist und als deren Ursache behauptet wird. In der Regel geht es um Personen, denen eine gewisse Macht und "ein größerer Plan" zugesprochen wird: Staatsmänner oder Superreiche. Oder Gruppen, denen geschlossenes Handeln im Verborgenen unterstellt wird: Bankiers, Juden, Freimaurer, Geheimbünde wie die Illuminaten.
Dabei muss es nicht zutreffen, dass die Gruppe tatsächlich derart mächtig ist, oder dass sie überhaupt existiert. Im Extremfall werden gar Außerirdische verantwortlich gemacht.
Die Queen, "eine jüdische Freimaurerin"
So handelt eine der berühmtesten Verschwörungstheorien von der Landung Außerirdischer in der Wüste von Nevada und von UFO-Sichtungen nahe Roswell, New Mexico zwischen 1947 und Mitte der 1950er Jahre, die von der CIA angeblich unterdrückt wurden. Das Bermuda-Dreieck ist dabei ein "Fenster" für Zeitreisen und andere Welten, in die immer wieder Fischerboote und gelegentlich Flugzeuge entführt werden.
Unzählige weitere solcher Verschwörungstheorien und -mythen lassen sich erzählen: Die Mondlandung habe nie stattgefunden; 9/11 sei ein "inside job" des US-Geheimdienstes oder des Mossad gewesen; Kennedy wurde von der CIA ermordet oder von Lyndon B. Johnson oder von der Mafia, jedenfalls nicht von Oswald; Hitler, Marilyn Monroe, Elvis und Lady Di leben noch; Obama ist Moslem, Obama ist nicht in den USA geboren - und die Queen, ist "eine jüdische Freimaurerin".
Ernsthafte Historiker haben die Theorie aufgestellt, dass etwa 200 Jahre des Mittelalters nie stattfanden, und Karl der Große nie existierte. 6 Prozent, also fast fünf Millionen Deutsche glauben, dass der Anschlag auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo im Jahr 2015 eine geheime Operation des französischen Geheimdienstes gewesen sei.
Eine repräsentative Umfrage in Frankreich zeigte, dass acht von zehn der befragten Personen an eine der größten Verschwörungserzählungen glaubt, wie etwa dass die Mondlandung ein fake ist oder dass Prinzessin Diana nicht bei einem Unfall gestorben sei.
Zu den Verschwörungstheorien mit der meisten Zustimmung zählt eine besondere Behauptung, wonach das französische Ministerium für Gesundheit sich angeblich mit Pharmafirmen verschworen habe, um die angeblichen gesundheitlichen Risiken von Impfungen zu verschleiern.
Die Geheimhaltungspolitik mancher Regierungen befördert derartige Vorstellungen. Politisches Framing kommt dazu: Etwa 60 Prozent der US-Republikaner-Wähler halten den Klimawandel für eine Verschwörung, 80% der Wähler der Demokraten widersprechen dieser Aussage.
Vieles ist auch komplexer und abstrakter: Linke wie Rechte glauben gern an eine Verschwörung "des" Kapitals, "der" Wall Street, oder gleich des "militärisch-Industriellen Komplexes". Genuin rechte Verschwörungstheorien sind die Auschwitzlüge, der antiliberale Glaube an den "Untergang des Abendlandes" oder des Verfalls durch zu viel Freiheit und die - wahlweise elitäre - Furcht vor dem "Aufstand der Massen" (Ortega y Gasset) oder umgekehrt die populistische Angst vor "den liberalen Eliten".
Eskalierende Gefühle
Furcht und Angst sind die Stichworte für die andere Seite der Verschwörungstheorie, die Paranoia, also die diffuse Angst "vor etwas" - oder in krankhafter Form der Verfolgungswahn- aus der erst die Antwort in Form einer Verschwörungsbehauptung erwächst. Solche Ängste sind weiter verbreitet, als man glauben möchte.
Auch unter braven Bürgern sind Skepsis gegenüber "Chemtrails" (Kondensstreifen), den Wirkungen von Handystrahlen und den Nebenwirkungen von Impfungen verbreitet, wie auch vor den weltweiten Verflechtungen des Vatikan, der Jesuiten und katholischer Geheim-Organisationen wie des "Opus Dei". Aber auch gegenüber der "Lügenpresse", den "Mainstreammedien" und der "Medienhörigkeit" der stupiden Mehrheit, also immer der Anderen - das sagen dann vorzugsweise Leute, die sich jeden Clip von Ken Jebsen reinziehen.
Das Misstrauen gegenüber "dem Staat" scheint gut begründet, ebenso vor den Verflechtungen der "Atommafia", und dem schwer durchschaubaren Internet, insbesondere seinem weniger offensichtlichen Teil, dem "Dark Web".
Nicht minder die Furcht vor der Macht des Organisierten Verbrechens und seiner Verbindungen zu "höheren Kreisen" und vor dem Treiben der Geheimdienste mit ihren V-Leuten, Überwachungsprojekten und gelegentlichen spektakulären Operationen, flankiert von nicht minder spektakulären Enthüllungen. Verständlich scheint erst recht die Angst vor Terroristen und den dazugehörigen Ideologien als den destruktiven Feinden unserer Lebensform.
Skepsis, Misstrauen, Furcht, Angst - am Ende dieser eskalierenden Gefühle steht die Gewissheit der eigenen Ohnmacht. All dem ist auch das Diffuse und Unsichtbare gemeinsam - Terrornetzwerke und Geheimdienste sind geheim, Handystrahlen so unsichtbar wie nuklearer Fallout, das Dark Web bleibt dunkel, und da sich fast nie klare Verantwortliche festmachen und die genannten Fragen aufklären lassen, bleibt der Eindruck des Flirrend-Vielfältigen, Verwirrend-Unfassbaren. Das Chaos der Eindrücke will aber geordnet, die Komplexität reduziert werden.
Hier nun greift die Verschwörungstheorie - sie schlägt Schneisen in den Dschungel der Informationen. Sie liefert vergleichsweise einfache, klare Erklärungen für das bislang Unerklärliche.