Kritik der paranoiden Vernunft

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Allgemeine Verunsicherung im Informationsdschungel: Schwarze Utopien und neue Ordnung am Abgrund des Chaos

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Es kann kein Zufall sein. Bereits im letzten Winter schrieben zwei junge Wissenschaftlerinnen ein Buch über Verschwörungstheorien, das genau jetzt, in der letzten Woche erschienen ist. In der Woche, in der plötzlich alle Medien über das Thema sprachen. Offensichtlich wussten sie mehr.

Es kann auch kein Zufall sein, dass genau im März, das bisher wichtigste auf Deutsche erschienene Buch des Tübinger Amerikanisten Michael Butter, der ein EU-Forschungsprojekt über Verschwörungstheorien leitet, vergriffen war. Offenbar sollten wir nicht lesen, was darin steht.

Indiz eines Zusammenhangs

Diese Beispiele zeigen, wie die verschwörungstheoretische Rhetorik auf der Faktenebene funktioniert: Banalitäten, die für sich nichts miteinander zu tun haben, zum Teil einander gar widersprechen, werden kombiniert und mit raunenden Kommentaren versehen zum Indiz eines Zusammenhangs: Dass ein Buch zum Thema herauskommt, scheint diesen an der Oberfläche genauso zu bestätigen, wie die Tatsache, dass eines gerade nicht verfügbar ist. Fazit: Es kann kein Zufall sein.

Versehen wird diese "Erkenntnis" dann mit einer Begründungsstruktur, die ebenfalls weit hergeholt ist und als deren Ursache behauptet wird. In der Regel geht es um Personen, denen eine gewisse Macht und "ein größerer Plan" zugesprochen wird: Staatsmänner oder Superreiche. Oder Gruppen, denen geschlossenes Handeln im Verborgenen unterstellt wird: Bankiers, Juden, Freimaurer, Geheimbünde wie die Illuminaten.

Dabei muss es nicht zutreffen, dass die Gruppe tatsächlich derart mächtig ist, oder dass sie überhaupt existiert. Im Extremfall werden gar Außerirdische verantwortlich gemacht.

Die Queen, "eine jüdische Freimaurerin"

So handelt eine der berühmtesten Verschwörungstheorien von der Landung Außerirdischer in der Wüste von Nevada und von UFO-Sichtungen nahe Roswell, New Mexico zwischen 1947 und Mitte der 1950er Jahre, die von der CIA angeblich unterdrückt wurden. Das Bermuda-Dreieck ist dabei ein "Fenster" für Zeitreisen und andere Welten, in die immer wieder Fischerboote und gelegentlich Flugzeuge entführt werden.

Unzählige weitere solcher Verschwörungstheorien und -mythen lassen sich erzählen: Die Mondlandung habe nie stattgefunden; 9/11 sei ein "inside job" des US-Geheimdienstes oder des Mossad gewesen; Kennedy wurde von der CIA ermordet oder von Lyndon B. Johnson oder von der Mafia, jedenfalls nicht von Oswald; Hitler, Marilyn Monroe, Elvis und Lady Di leben noch; Obama ist Moslem, Obama ist nicht in den USA geboren - und die Queen, ist "eine jüdische Freimaurerin".

Ernsthafte Historiker haben die Theorie aufgestellt, dass etwa 200 Jahre des Mittelalters nie stattfanden, und Karl der Große nie existierte. 6 Prozent, also fast fünf Millionen Deutsche glauben, dass der Anschlag auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo im Jahr 2015 eine geheime Operation des französischen Geheimdienstes gewesen sei.

Eine repräsentative Umfrage in Frankreich zeigte, dass acht von zehn der befragten Personen an eine der größten Verschwörungserzählungen glaubt, wie etwa dass die Mondlandung ein fake ist oder dass Prinzessin Diana nicht bei einem Unfall gestorben sei.

Zu den Verschwörungstheorien mit der meisten Zustimmung zählt eine besondere Behauptung, wonach das französische Ministerium für Gesundheit sich angeblich mit Pharmafirmen verschworen habe, um die angeblichen gesundheitlichen Risiken von Impfungen zu verschleiern.

Die Geheimhaltungspolitik mancher Regierungen befördert derartige Vorstellungen. Politisches Framing kommt dazu: Etwa 60 Prozent der US-Republikaner-Wähler halten den Klimawandel für eine Verschwörung, 80% der Wähler der Demokraten widersprechen dieser Aussage.

Vieles ist auch komplexer und abstrakter: Linke wie Rechte glauben gern an eine Verschwörung "des" Kapitals, "der" Wall Street, oder gleich des "militärisch-Industriellen Komplexes". Genuin rechte Verschwörungstheorien sind die Auschwitzlüge, der antiliberale Glaube an den "Untergang des Abendlandes" oder des Verfalls durch zu viel Freiheit und die - wahlweise elitäre - Furcht vor dem "Aufstand der Massen" (Ortega y Gasset) oder umgekehrt die populistische Angst vor "den liberalen Eliten".

Eskalierende Gefühle

Furcht und Angst sind die Stichworte für die andere Seite der Verschwörungstheorie, die Paranoia, also die diffuse Angst "vor etwas" - oder in krankhafter Form der Verfolgungswahn- aus der erst die Antwort in Form einer Verschwörungsbehauptung erwächst. Solche Ängste sind weiter verbreitet, als man glauben möchte.

Auch unter braven Bürgern sind Skepsis gegenüber "Chemtrails" (Kondensstreifen), den Wirkungen von Handystrahlen und den Nebenwirkungen von Impfungen verbreitet, wie auch vor den weltweiten Verflechtungen des Vatikan, der Jesuiten und katholischer Geheim-Organisationen wie des "Opus Dei". Aber auch gegenüber der "Lügenpresse", den "Mainstreammedien" und der "Medienhörigkeit" der stupiden Mehrheit, also immer der Anderen - das sagen dann vorzugsweise Leute, die sich jeden Clip von Ken Jebsen reinziehen.

Das Misstrauen gegenüber "dem Staat" scheint gut begründet, ebenso vor den Verflechtungen der "Atommafia", und dem schwer durchschaubaren Internet, insbesondere seinem weniger offensichtlichen Teil, dem "Dark Web".

Nicht minder die Furcht vor der Macht des Organisierten Verbrechens und seiner Verbindungen zu "höheren Kreisen" und vor dem Treiben der Geheimdienste mit ihren V-Leuten, Überwachungsprojekten und gelegentlichen spektakulären Operationen, flankiert von nicht minder spektakulären Enthüllungen. Verständlich scheint erst recht die Angst vor Terroristen und den dazugehörigen Ideologien als den destruktiven Feinden unserer Lebensform.

Skepsis, Misstrauen, Furcht, Angst - am Ende dieser eskalierenden Gefühle steht die Gewissheit der eigenen Ohnmacht. All dem ist auch das Diffuse und Unsichtbare gemeinsam - Terrornetzwerke und Geheimdienste sind geheim, Handystrahlen so unsichtbar wie nuklearer Fallout, das Dark Web bleibt dunkel, und da sich fast nie klare Verantwortliche festmachen und die genannten Fragen aufklären lassen, bleibt der Eindruck des Flirrend-Vielfältigen, Verwirrend-Unfassbaren. Das Chaos der Eindrücke will aber geordnet, die Komplexität reduziert werden.

Hier nun greift die Verschwörungstheorie - sie schlägt Schneisen in den Dschungel der Informationen. Sie liefert vergleichsweise einfache, klare Erklärungen für das bislang Unerklärliche.

Schwarze Utopie und Feindbestimmung

Darin ähneln Verschwörungstheorien den Religionen, argumentiert der Experte Michael Butter (Tübingen). Verschwörungstheorien fungierten für moderne Menschen als eine Art Religionsersatz.

Denn sie erklären alles aus einer einzigen Einsicht, die sich, wie bei Religionen, nur Gläubigen offenbart. Sie "stiften Sinn und Identität" - also zwei Elemente, die viele Menschen, gerade Ungebildete und Angehörige abgehängter Teile der Gesellschaft in der "gott- und prophetenlosen Moderne" (Max Weber) vermissen.

Verschwörungstheorien sind Komplexitätsvermeidungsstrategien und Vereindeutigungsstrategien. Eine Abwehr des Zufalls. Der mit dem Zufälligen verbundene Kontrollverlust scheint eine der wesentlichen Ursachen für den Boom von Verschwörungstheorien zu sein. Katharina Nocun (siehe Literaturangaben am Ende des Artikels) schreibt:

"Es hat sich gezeigt, dass Menschen bei Elektroschocks weniger Schmerz empfinden wenn Sie das Gefühl haben, die Kontrolle über die Situation zu besitzen."

In einer zunehmend komplexer werdenden Welt bieten Verschwörungstheorien klare konsistente Erklärungen. Sie formen einen Raum, dieser Raum kann ein Generationsraum sein, er ist aber meistens ein Milieu- und Gesellschaftsraum.

Zum Beispiel eine Sekte, eine Partei, eine Klasse, eine regionale Herkunft. Verschwörungstheorie funktioniert als zusammenschweißendes und gemeinschaftskittendes Element, das zusammenführt - so wie es die Schwärmerei für einen Popstar tun kann oder das Fantum für ein Fußballclub.

Die Paranoia ist insofern auch eine Utopie, allerdings eine schwarze Utopie. Aber sie erfüllt die Hoffnung auf grundlegende Ordnung der Welt, auf das Anti-Chaos.

Feindbestimmung

Daher tauchen Verschwörungstheorien immer wieder besonders in Zeiten des Umbruchs auf: In der Spätantike (Heiden), im ausgehenden Mittelalter (Juden), im Zeitalter der bürgerlichen Revolutionen (Freimauer, Illuminaten, Rosenkreuzer). Im 18. Jahrhundert kursierte das Gerücht, dass Wolfgang Amadeus Mozart von Freimaurern ermordet worden sei.

Die Theorie, dass der Dauphin "Ludwig XVII." noch lebe, war schon im ausgehenden 18. Jahrhundert und dann im frühen 19. Jahrhundert überaus populär, ebenso die Theorie von der Wiederkehr von Napoleon Bonaparte.

Im deutschen Zusammenhang wäre auch an die absurde Episode zu erinnern, dass kein anderer als Heinrich Himmler einst eine deutsche Expedition in den Himalaya schickte, um dort nach dem heiligen Gral zu suchen.

Die wohl berühmteste Verschwörungstheorie ist längst als Fälschung entlarvt, aber ungebrochen wirksam: Die "Protokolle der Weisen von Zion", eine russische Schrift aus dem Jahr 1903, die ein fiktives Komplott der "Führer des Weltjudentums" konstruiert, wurde zur einflussreichsten Programmschrift des Antisemitismus. Einst beriefen sich die Nazis in ihrem Mordfuror auf die "Protokolle", heute ist es die palästinensische Hamas.

Gerade dieser Topos von der "Jüdischen Weltverschwörung" erlebt in den Tagen von Corona schlagartig eine überraschende Aktualität: In ihrem Buch "Corona und die Demokratie. Eine linke Kritik" schreiben die Verfasser zu dem "sich in diesen Tagen formierenden Querfront-Milieu aus rechten, rechtsextremen, neu-rechten und weiteren unappetitlichen Kräften":

Es gibt weltweit neo-nazistische, islamistische und weitere antisemitische Diffamierungen, die Juden oder Israel mit Covid-19 in Beziehung setzen, was man z.B. in Karikaturen sehen kann.

Gerald Grüneklee, Clemens Heni, Peter Nowak

Beispielhaft zeigt sich hier, dass jede Verschwörungstheorie auch der Mythos eines Feindes ist, der diesen Feind stärker macht, und zum großen Gegner aufbläst, gegen den jedes Mittel recht ist.

Distinktionsgewinn und die "Matrix"

Verschwörungstheorien sind aber nicht immer alternative Erklärungen und nicht immer eine Minderheitenmeinung. Mitunter sind sie sogar eine Mehrheitsmeinung. Andererseits sind sie vielleicht nur sektiererische Theorien.

Katharina Nocun und Pia Lamberty unterscheiden zwischen Verschwörungsmythos, also einem generellen Narrativ, Verschwörungserzählung, also einem konkreten Narrativ, und Verschwörungsmentalität, also der Bereitschaft an die beiden Narrative zu glauben.

Warum funktionieren Verschwörungstheorien außerdem? Zum einen wegen des Distinktionsgewinns. Der Wert einer Verschwörungstheorie besteht darin, sich von anderen zu unterscheiden. Zweitens wegen ihrer Schönheit: Eine Verschwörungstheorie kann ein attraktiver Lebensentwurf sein. Sie kann sexy sein, zugleich "geht es um mehr". Die Kombination aus Poesie und tieferem Wissen.

Der Träger der geheimen Botschaft und des höheren Wissens bekommt Aufmerksamkeit und Zustimmung, oft Gefolgschaft. Er wird zum Führer, zur Avantgarde einer Filterblase. Verschwörungstheorien sind anschlussfähig. Sie öffnen manche Türen, und sie hinterlassen ein Echo in der Mainstream-Kultur.

Die Verschwörung des Kinos

Eigentlich war das ganze 20.Jahrhundert eines der Verschwörungstheorien. Im Kalten Krieg, angesichts ständiger Angst vor dem Atomkrieg und Furcht vor kommunistischer Spionage und Infiltration boomten die Vorstellungen von unterwanderten Gesellschaften und "5. Kolonnen"; von großen Geheimplänen und Weltherrschaftsphantasien; von "Körperfressern" und "Gehirnwäschen", die die Menschen ihrer Individualität beraubten oder "umprogrammierten.

"Manchurian Candidate", auf Deutsch "Kandidat der Angst" von John Frankenheimer ist so eine prototypische Kalte-Kriegs-Paranoia: Ein Amerikaner wird zu einer kommunistischen Mordmaschine und um ein Haar US-Präsident. Eine böse Mutter ist auch noch mit von der Partie - private Paranoia zur Hoch-Zeit der Psychoanalyse. Glücklicherweise ist Frank Sinatra noch da, um das Schlimmste zu verhindern.

Ein gutes Jahrzehnt später dann, genau um das Ende des Vietnam-Kriegs und den Watergate-Skandal gab es eine zweite Welle: In Filmen wie "Die drei Tage des Condor" waren die Helden unschuldige, idealistische Identifikationsfiguren, die zufällig zum Opfer eines großen, anonymen, bösen Systems wurden.

Natürlich gab es auch Vorläufer. Denn das Kino liebt Verschwörungstheorien. Filme als Medium Nummer eins der Popkultur zeigen uns einen bestimmten Blick auf die Welt, eine spielerische Weltdeutung. Man könnte daher die komplette Kino-Geschichte entsprechend erzählen, seit Filmen wie der "Dr. Mabuse"-Trilogie von Fritz Lang oder "Birth of A Nation" von D.W.Griffith.

Der ultimative Film zu diesem sehr aktuellen Thema ist und bleibt für die heute Lebenden aber ein Film von 1999: "Matrix" von den Brüdern Wachowski. Der ist nun zwar auch schon über 20 Jahre alt, aber er wirkt kaum gealtert.

Denn "Matrix" hat nicht nur das Leben erklärt, und alle vor die insgeheime Wahl gestellt zwischen einem leckeren saftigen, wenn auch nur eingebildeten Steak, dem Wohlfahrtsstaat sozusagen, und einem Leben in der bitteren, harten, rauen, schmutzigen Wahrheit des neoliberalen Überlebenskampfes. Rote Pille oder blaue Pille - es schien unsere Entscheidung.

"Matrix" hat uns vor allem wieder an die Ästhetik der Paranoia erinnert: Irgendetwas ist da über einem, überall, man steht unter Verdacht; gleich aussehende entpersönlichte Männer in grauen Anzügen, verfolgen einen, und wir alle spüren es: Nichts ist wie es scheint. Alles ist Simulation.

Das Ende der Geschichte?

Das war am Ende der - lang ist's her - friedlichen, lustigen 1990er Jahre, und jener Epoche, als uns manche Philosophen und ideologische "Meisterdenker" (André Glucksman, Joachim C. Fest) für ein paar Jahre weismachen wollten, Utopien seien jetzt endgültig ausgestorben, und das "Ende der Geschichte" sei auch gekommen: Auf ewig würde man nun in einem liberalen, demokratischen Universum leben, friedlich und hedonistisch nebeneinander her. Alles war Spaßkultur, alles Erlebnisgesellschaft, nur der blöde Bürgerkrieg in Jugoslawien störte noch ein bisschen.

Alles war erlaubt - genau darum kamen nun plötzlich lauter Filme ins Kino, die behaupteten, dass es noch etwas anderes gäbe: Eigentlich, irgendwo da draußen. "Akte X" als Serie und dann im Kino machte daraus einen Slogan: "The Truth is Out There". Wir leben im falschen Leben, wir werden getäuscht, die Wahrheit ist da draußen. Im Kino hießen die Besten dieser Filme zum Beispiel "Fight Club", "Truman Show", "Lost Highway" oder gleich "Conspiracy Theory".

Eine Sehnsucht nach Bedeutung, ein Sinndefizit zeigt sich hier. Auch ein gewisser Überdruss. All das brauchte etwas von Draußen, um die Welt noch zu erklären: den großen Geheimplan, die "Matrix".

Warum liebt der Film, das Kardinalmedium der Popkultur, Verschwörungstheorien so sehr? Weil beide ein unzertrennliches Paar bilden: Erst Filme liefern der Paranoia ihr Design. Graue Tage, Neonnächte. Die leuchtend-grüne Matrix auf schwarzem Grund.

Schön und witzig

Das Kino liebt Verschwörungstheorien aber vor allem, weil sie schön und witzig sind. Weil sie spannende Geschichten erlauben. Weil sie die Welt aufregend umstürzen, und ihnen alles möglich ist. Weil sie Spaß machen. Man muss sie ja nicht ernst nehmen, nicht als ihr Anhänger, aber schon gar nicht als ihr Gegner.

Durch die Erfahrungen des Kinos könnten wir im Gegenteil lernen, das jede Paranoia relativ ist, und dass sie in der Regel weder irre ist noch gefährlich, sondern interessant, weil sie uns Werkzeuge liefern zur Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit.

Verschwörungstheorien sind kein Diskurs, sondern ein Effekt. Sie bieten ein Entwurf zur Welterklärung, der oft fertig und vereinfacht ist, manchmal aber auch fragmentiert und verkomplizierend. Man muss ihn annehmen oder ablehnen.

Verschwörungstheorien füllen ein Sinndefizit auf und reagieren auf die Entzauberung der Welt. Das tut auch das Kino. Es leistet die Wiederverzauberung der Welt. Wer hat wirklich Angst vor "Matrix"?

Gäbe es den Paranoiker nicht, dann müssten wir ihn erfinden

Schon vor Jahren machte der französische Soziologe Luc Boltanski auf den Zusammenhang von Popkultur und Paranoia aufmerksam. Sein Buch "Rätsel und Komplotte" zeigt die Geburt der Paranoia aus dem Detektivroman.

Denn die Detektivgeschichten des 19. Jahrhunderts erzählen uns immer wieder, dass nichts so ist, wie es scheint. Wir lernen also durch den Detektivroman einen Blick auf die Welt, der die Welt als eine rätselhafte zeigt, als eine, die von Verschwörungen und Geheimoperationen bestimmt ist.

Daran knüpfen aktuelle Verschwörungsgeschichten an. Auch "Corona" ist ungreifbar, schwer zu erklären, erfordert komplexe Reaktionen und speist die Sehnsucht nach einfachen Antworten. Und weil es nicht sein darf, dass "ein kleiner Virus", ein reiner Zufall, die ganze Welt erschüttert, muss ein "größerer Plan" dahinter stecken, eine geheime Ansicht, eine Verschwörung. Wer dem Zufall gegenüber ohnmächtig ist, der gewinnt Macht als "der Wissende", derjenige, der "die wahren Zusammenhänge durchschaut" hat.

Zugleich wird der Begriff "Verschwörungstheorie" schnell selbst zu einer Vereinfachung, zu einer leichten, bequemen, ja: paranoiden Antwort. Denn wer so bezeichnet wird, mit dem muss man sich nicht mehr ernsthaft auseinandersetzen. Gäbe es den Paranoiker nicht, dann müssten wir ihn erfinden.

Man kann beispielsweise Impfgegner mit ziemlich vielen guten Gründen für Schwachköpfe halten. Aber wenn die auch nicht gerade über alle Zweifel erhabene WHO Impfgegner als "globale Bedrohung" bezeichnet - ist das nicht selbst eine Art von Verschwörungstheorie?

Derzeit kann man die Tendenz beobachten, dass ein großer Teil der Kritik an den "Pandemie-Eindämmungsmaßnahmen" als Verschwörungstheorie bezeichnet und damit denunziert wird, um sie danach ohne weitere inhaltliche Auseinandersetzung abzutun.

Sehr erhellend schreiben dazu die Verfasser von "Corona und die Demokratie. Eine linke Kritik":

"Abweichende Argumente werden offenbar als Meuterei betrachtet und pauschal diffamiert. Diese Formierung der Gesellschaft macht ... mehr Angst als das Virus selbst."

Die Autoren kritisieren den "verheerenden Konsens" durch den jahrzehntelang erkämpfte Emanzipationsschritte in wenigen Wochen wieder massiv zurückgedreht werden: "Erzeugt wurde eine Atmosphäre von Angst und Massenpanik - verstärkt durch Maßnahmen wie der 'Maskenpflicht' -, vor deren Hintergrund autoritäres Staatshandeln schließlich als vermeintlich 'alternativlose' 'Lösung' verkauft wurde."

Und weiter: "von der BILD-Zeitung bis zur Antifa" scheinen allzu viele "bereit zu sein ..., einen Ausnahmezustand zu akzeptieren, der zum Normalzustand zu werden droht - inklusive eines nicht offiziell erklärten, faktisch aber umgesetzten Notstands, hoher Bereitschaft zu digitaler Überwachung, verbreiteter Denunziationen, in Vorbereitung befindlicher schärferer Polizeigesetze".

Eine kulturelle Gegenstrategie gegen den Mainstream. Avantgarde?

Es gilt also zunächst einmal festzuhalten: Der Begriff der Verschwörungstheorie ist ein Normierung-Begriff. Er dient dazu, bestimmte Ideen von vornherein in ein gewisses Licht zu rücken, sie von vornherein auch zu diffamieren und auszuschließen. In der Wissenschaft spricht man dann gern vom Fachfremden, Dilettantischen, Laienhaften.

Man sollte aber nicht unterschätzen, dass die derzeitige Aufmerksamkeit für Verschwörungstheorien ihr Erfolg ist. Wir sollten auch nicht unterschätzen, dass die Ablehnung, die ihr zum Beispiel jetzt gerade entgegenschlägt, ihr Erfolg ist, und ihre Bestätigung. Verschwörungstheorie wird hier zum sicheren Raum und Rückzugsort - eine kleine Teil-Öffentlichkeit neben der Öffentlichkeit. Sie ist eine kulturelle Gegenstrategie gegen den Mainstream. Eine Form von Avantgarde.

Aufklärung und Wissenschaft taugen als Gegengifte nur bedingt. Denn der Paranoiker braucht den Feind, und ruht in seinen eigenen Gewissheiten. So wie dem Aufklärer und "dem System" die schrecklichen Vereinfacher der Verschwörungstheorie nicht so ungelegen kommen. Ihr Irrsinn ist so offenkundig, dass er als Sinnbild paranoid gestörter Vernunft auch klügere Systemkritik neutralisiert.

Verschwörungstheorien und Paranoia sind ein untrennbarer Teil der Moderne. Langfristig hilft gegen sie vor allem Bildung und Wohlstand, denn ihre Anhänger sind vor allem die Ungebildeten und Abgehängten - oder jene wohlverrenteten Wutbürger, die sich dafür halten, obwohl sie materiell zum oberen Fünftel der Gesellschaft gehören, und nur im Zeitalter von Digitalisierung, political correctness und postkolonialer Vernunft plötzlich kulturell abgehängt sind.

Kurz- und mittelfristig könnte vielleicht am ehesten eine integrierende, charismatische Gegen-Erzählung helfen, die selbst einen Zusammenhang konstruiert, der auratisch ist, aber faktengestützt. Eine "Mythologie der Vernunft" (Hegel) also, die Ideen und Erkenntnisse ästhetisch scheinen lässt, ohne sie dumm zu machen.

Literaturhinweise

Luc Boltanski: "Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft" Suhrkamp, Berlin 2013

Michael Butter: "'Nichts ist, wie es scheint'. Über Verschwörungstheorien". Suhrkamp, Berlin 2020 (2te Auflage)

Gerald Grüneklee, Clemens Heni, Peter Nowak: "Corona und die Demokratie. Eine linke Kritik"; Edition Critic, Berlin 2020

Gerard Naziri: "Paranoia im amerikanischen Kino"; Remscheid 2003 (vergriffen)

Katharina Nocun/ Pia Lamberty: "Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen"; Quadriga, Berlin 2020