Künstliche Intelligenz und Mensch
Ab wann gestaltet KI den Menschen um – statt in seinem Dienst zu stehen? (Teil 1).
Künstliche Intelligenz gilt seit einigen Jahren als das Schnittpunkt- und Konvergenz-Thema von Zeitentwicklungen schlechthin. Angesichts der beispiellosen Vielfalt von Anwendungsmöglichkeiten wohl zu Recht. Noch wird KI aber mit zu wenig Bezug zur Umgestaltungsmöglichkeit von Mensch und Menschsein thematisiert.
Doch die Beispiele für diese Möglichkeit häufen sich. Damit sind philosophische, ethische und Sicherheitsfragen verbunden. Obwohl vieles in der Perspektive spekulativ bleibt, sollten sich Gesellschaft und Entscheidungsträger frühzeitig mit Szenarien von kapillar und transdisziplinär wirksamen Hyper-Technologien wie KI hinsichtlich humaner Veränderung auseinandersetzen.
Zusammenfassung
- Die Revolution in maschinellem Lernen ermöglicht trotz derzeit erst "weicher" Künstlicher Intelligenz Entwicklungen und Perspektiven am Schnittpunkt zwischen Mensch und Technologie, die noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wären.
- Diese Entwicklungen sind in ihrer gemeinsamen Tendenz dadurch gekennzeichnet, dass sie das Verhältnis zwischen Mensch und intelligenter Maschine von der Interaktion (Zusammenwirken) in die Konvergenz (Verschmelzung) überführen.
- Das könnte mittel- bis langfristig Veränderungen von Bild und Begriff des Menschseins begünstigen. Weil Gesellschaft letztlich stets vom zugrundeliegenden Menschenbild abhängt, sind die Entscheidungsträger aufgefordert, für die heute in den Raum tretenden Szenarien frühzeitig neue Regeln und Werte-Grundlagen zu finden.
- Notwendig sind insbesondere gesellschafts- und wissenschaftspolitische sowie ethische Initiativen. Dazu gehört die Ergänzung der Ethik der Umkehrbarkeit (Ethik der Reversibilität) um eine Ethik der Zukunfts-Vorwegnahme (Ethik der Antizipation).
Die Verschmelzung "Neuer Humantechnologien" mit Künstlicher Intelligenz
Jenes Menschenbild, das in demokratischen Gesellschaften in mehreren historischen Schüben im Zeichen von Humanismus und Aufklärung konzipiert wurde und an der Verfassungs- und zivilreligiösen Grundlage Europas und des Westens steht, steht in den kommenden Jahren möglicherweise vor Veränderungen. Daran könnte Künstliche Intelligenz (KI) Anteil haben. Dies vor allem in ihrer Verbindung mit neuen Humantechnologien, von denen wir einige im folgenden beschreiben.
Zu diesen neuen Humantechnologien gehören an hervorragender Stelle Gehirn-Maschine-Verschaltungen (Brain-Machine-Interfaces, BMIs) und Gehirn-Computer-Verschaltungen (Brain-Computer-Interfaces, BCIs).
Beide Schnittstellentechnologien sollen Mensch, Maschinen und Computer miteinander direkter als je zuvor verschalten und dadurch eine höhere Stufe von Intelligenz und Leistung hervorbringen. Dies, indem sie den Menschen durch das Hereinholen von Technologie in sein Selbst, also mittels faktischer Hybridisierung, profund aufrüsten. Wie Experten schreiben, ist eine Gehirn-Maschine-Schnittstelle (BMI)
ein System zum schnellen Lesen und Dekodieren von Gehirnaktivitäten, das es einer Person ermöglicht, eine Maschine oder eine Computerschnittstelle allein mit ihren Gedanken zu bedienen. Diese Technik, die gelegentlich als ‚Gedankenlesen‘ bezeichnet wird, hat das Potenzial, gelähmten Menschen ihre Bewegungsfähigkeit zurückzugeben. Jüngste Experimente an Affen und Menschen zeigen bereits die klinischen Auswirkungen der BMI-Technologie.
Das heute vorwiegende Legitimations-Narrativ für solche intrusive oder invasive Humantechnologie bezieht sich meist auf den Gesundheits- und Optimierungsbereich:
Millionen von Menschen auf der Welt sind von Störungen des motorischen Systems betroffen. Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), Schlaganfall und Rückenmarksverletzungen sind nur einige der Beeinträchtigungen, die dazu führen, dass die Patienten trotz ansonsten intakter Gehirne nicht in der Lage sind, sich effektiv zu bewegen oder physisch mit ihrer Umgebung zu interagieren.
Durch die Umleitung von Signalen aus dem Gehirn direkt in Maschinen, unter Umgehung von beschädigten Rückenmarks- oder peripheren Motoneuronen, können BMIs die Fähigkeit gelähmter Patienten wiederherstellen, direkt mit ihrer Umgebung zu interagieren und sie zu manipulieren.
Ein BMI empfängt neuronale Signale aus dem Gehirn des Patienten, in der Regel von chirurgisch implantierten Elektroden. Das System dekodiert diese Signale und sendet sie an einen Computer oder ein Hilfsmittel, so dass der Patient das Gerät allein durch seine Gehirnaktivität steuern kann. Wenn sie erfolgreich sind, haben BMIs das Potenzial, die Lebensqualität von Patienten mit motorischen Beeinträchtigungen erheblich zu verbessern.
Viele Gehirn-Maschine-Schnittstellen sind zweiseitig gerichtet (bidirectional), fördern also einen multiplen Aktion-Reaktion-Rückkoppelungsaustausch. Das soll unter anderem zu einem "Internet der Gedanken" führen – also zu einer Welt, in der Dinge, Maschinen und Computer direkt mit menschlichen Gedanken interagieren.
Dabei spielt Künstliche Intelligenz – also die Simulation menschlicher Intelligenzprozesse durch Maschinen – bereits heute eine entscheidende Rolle, die in den kommenden Jahren massiv ausgebaut werden soll. Schlüsselwörter dabei sind intelligente Prothetik mittels Kodierung und Dekodierung, Computerisierte Neurowissenschaft (computational neuroscience) und maschinelles Lernen.
Die Zusammenführung der verschiedenen Komponenten dieser neuen Humantechnologien schreitet rasch voran. Dazu schrieben chinesische Wissenschaftler bereits 2020 unter dem Titel "Die Kombination von Gehirn-Computer-Schnittstellen mit Künstlicher Intelligenz: Anwendungen und Herausforderungen":
Gehirn-Computer-Schnittstellen (BCIs) haben sich als bidirektionale Echtzeitverbindungen zwischen lebenden Gehirnen und Aktoren als vielversprechend erwiesen. Künstliche Intelligenz (KI), die die Analyse und Dekodierung neuronaler Aktivitäten verbessern kann, hat dem Bereich der BCI in jüngster Zeit neue Impulse verliehen.
In den letzten zehn Jahren ist ein breites Spektrum von BCI-Anwendungen mit KI-Unterstützung entstanden. Diese "intelligenten" BCIs, einschließlich motorischer und sensorischer BCIs, haben bemerkenswerte klinische Erfolge gezeigt, die Lebensqualität gelähmter Patienten verbessert, die sportlichen Fähigkeiten gewöhnlicher Menschen erweitert und die Entwicklung von Robotern und neurophysiologischen Entdeckungen beschleunigt.
Trotz der technologischen Verbesserungen bestehen jedoch nach wie vor Herausforderungen im Hinblick auf die langen Trainingszeiten, das Echtzeit-Feedback und die Überwachung von BCIs.
Die meisten Autoren der hohen Innovationsleistung und Dynamik im Bereich des Zusammenwachsens von Schnittstellen-Technologien und Künstlicher Intelligenz sind sich klar darüber, dass das ein hohes Potential zur Veränderung der Beziehung zwischen Mensch und Technologie einerseits, aber andererseits auch des Menschenbildes an sich mit sich bringt:
Mit der großen Explosion der Technologie hat sich die Grenze zwischen Mensch und Maschine zu verringern begonnen. Unsere spektakulären wissenschaftlichen Fiktionen, die die "Gedankenkontrolle" beschrieben, werden mit Hilfe von Maschinen allmählich wahr. Die Grenzen dieser neuen Techniken sind Gehirn-Computer-Schnittstellen (BCI) und künstliche Intelligenz (KI).
Experimentelle Paradigmen für BCI und KI wurden normalerweise unabhängig voneinander entwickelt und angewandt. Inzwischen ziehen es die Wissenschaftler jedoch vor, BCI und KI zu kombinieren, was es ermöglicht, die elektrischen Signale des Gehirns effizient zur Steuerung externer Geräte zu nutzen.
Für schwerbehinderte Menschen könnte die Entwicklung von BCIs der wichtigste technologische Durchbruch seit Jahrzehnten sein. BCIs, also Technologien, die mit dem zentralen Nervensystem und den neuronalen Sinnesorganen kommunizieren, können Menschen mit neurodegenerativen Erkrankungen wie… erworbenen Hirnverletzungen einen muskelunabhängigen Kommunikationskanal bieten…
Die Methoden zur Erfassung verschiedener Arten von Gehirnsignalen können als invasiv oder nicht-invasiv eingestuft werden. Zu den invasiven Aufzeichnungssystemen gehören die Elektrokortikographie (EKoG), Mikroelektroden-Arrays (MEAs) usw. Nichtinvasive BCIs wie Elektroenzephalographie (EEG), Magnetenzephalographie, funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRI) und funktionelle Nahinfrarotspektroskopie bergen nicht das Risiko einer Gewebeschädigung und können relativ einfach eingesetzt werden.
Mit Hilfe dieser elektrophysiologischen Techniken können BCIs schnell eingesetzt werden, um das Gehirn zu "lesen", seine Aktivität aufzuzeichnen und ihre Bedeutung zu entschlüsseln, und um in das Gehirn zu ‚schreiben‘, das heisst die Aktivität in bestimmten Regionen zu manipulieren und ihre Funktion zu beeinflussen.
Vor allem letzteres: die Option zum "Schreiben in Gehirne", ist bislang noch eine Art unerforschter Kontinent. Die meisten Akteure auf dem Gebiet Neuer Humantechnologien sind sich jedoch im Klaren darüber, dass damit auch das bisherige Menschsein in intimen Bereichen zur Disposition steht. Die diesbezügliche Effizienz schreitet trotz vieler Schwierigkeiten in bidirektionaler Richtung voran:
Glücklicherweise haben die jüngsten Fortschritte in der KI-Methodik große Fortschritte gemacht und bewiesen, dass die KI den Menschen bei der Dekodierung und Kodierung neuronaler Signale übertrifft. Dies bietet der KI eine große Chance, zu einem idealen Helfer bei der Verarbeitung von Gehirnsignalen zu werden, bevor sie die Prothesen erreichen.
Insgesamt lässt sich laut Fachleuten das Zusammenwachsen von "Neuen Humantechnologien" mit Künstlicher Intelligenz wie folgt in Kürzestform zusammenfassen:
Bei der KI handelt es sich um eine Reihe allgemeiner Ansätze, bei denen ein Computer intelligentes Verhalten mit minimalen menschlichen Eingriffen modelliert und schließlich die menschliche Leistung bei aufgabenspezifischen Anwendungen erreicht oder sogar übertrifft.
Bei der Anwendung von KI in BCIs werden den Algorithmen ständig interne Parameter zur Verfügung gestellt, z. B. Impulsdauer und -amplitude, Stimulationsfrequenzen, Energieverbrauch des Geräts, Stimulations- oder Aufzeichnungsdichte und elektrische Eigenschaften des Nervengewebes.
Nach Erhalt der Informationen können die KI-Algorithmen nützliche Teile und Logik in den Daten identifizieren und dann gleichzeitig die gewünschten funktionellen Ergebnisse erzeugen. Obwohl diese Studien noch weitgehend im präklinischen Forschungsbereich angesiedelt sind, könnte die weitere Entwicklung klinisch umsetzbare Veränderungen bei BCIs aufzeigen.
KI dient also als zunehmend wichtige Treiberin der neuen, invasiven Humantechnologien. Ob sie dabei zum Dreh- und Angelpunkt tiefer und bleibender Veränderung von Mensch-Technologie-Interaktion, und damit – eben wegen ihrer Invasivität – möglicherweise auch von Menschenbild und Mensch selbst wird, ist derzeit noch weitgehend offen.
Es zeigen sich aber Tendenzen an der Schnittstelle zwischen Neuen Humantechnologien, KI und Mensch, die Mensch und das bisherige humanistisch-aufklärerische Menschenbild beeinflussen oder gar verändern könnten.
Weil damit Implikationen auch für die Grundlagen offener Gesellschaften und ihrer Wertesysteme verbunden sind, sollten demokratische Gesellschaften diese Tendenzen genau beobachten und in ihren Richtungsentscheidungen mit berücksichtigen.