Künstliche Intelligenz und Mensch

Seite 3: Stoßrichtung 1: Die Maschinisierung des Menschen (Cyborgisierung)

Erstens eröffnet seit einigen Jahren die Möglichkeit der Maschinisierung des Menschen. Sie wird oft auch Cyborgisierung genannt. Dieser Trend erzielte seit 2016 mit der ersten Cyborg-Olympiade (Cybathlon) in der Schweiz, die 2020 ihre Fortsetzung fand und im Oktober 2024 das dritte Mal stattfindet, aber auch mit Emotiv-brain wearables (drahtlose tragbare Enzephalographen) zur Verbindung von menschlichen Gehirnaktivitäten mit Computern und zur Gedankensteuerung von Maschinen sowie mittels Firmengründungen wie 2016 Elon Musks "Neuralink" zur routinemässigen Implementierung von digitalem Leitermaterial in menschliche Gehirne Meilensteine.

Musks Firma präsentierte dazu bereits 2020 Anwendungen an Schweinen sowie im Dezember 2022 an einem Affen, der mittels eine Gehirnimplantats einen Cursor auf einem Computerbildschirm steuerte.

Zugleich kündigte Musk an, dass er angewandte Menschenexperimente mit solchen Gehirnimplantaten zur Mensch-Maschine-Steuerung und KI-Verknüpfung noch im Jahr 2023 erwarte.

Diese Meilensteine sind trotz ihrer symbolischen Aussagekraft für sich genommen noch keine techno-zivilisatorischen Durchbrüche. Sie entwickeln aber nach und nach das Momentum einer selbsterfüllenden Prophezeiung, indem sie Aufmerksamkeit und Geld anziehen.

Zudem bemühen sich aufsteigende Mächte wie China seit Jahren systematisch, auf dem damit verbundenen strategischen Feld: den KI-Humantechnologien zum Weltführer zu werden, um die Maschinisierung des Menschen auch für ihre staatlichen Zwecke auszunutzen.

Kritiker meinen, neben den Anwendungen im erweiterten Gesundheitsbereich sei die Ansammlung von Geld und Macht inzwischen ein ähnlich wichtiger Zweck dieser Stoßrichtung geworden. Ankündigungen von Durchbrüchen am Technologie-Mensch-Schnittpunkt blieben, so diese Kritik, oft so wie die Ankündigung von Qualitätssprüngen in der Anwendung von maschinellem Lernen auf Datenqualität und Datenvalidierung: "zu gut, um wahr zu sein".

Denn KI sei noch weit davon entfernt, tatsächlich intelligent im menschlichen Sinn zu operieren, um davon ausgehend tatsächlich Grundlagenmechanismen des Menschen direkt mit Maschinen zu verschalten.

Die Anerkenner und Befürworter der offenbar entstehenden neuen "Techno-Humanen Kondition" dagegen verorten sich bereits mitten im Geschehen hin zu einem Technikmenschen, der im Ansatz schon einen "Menschen nach dem Menschen" darstellt.

Dieser Mensch wird, so die Befürworter, durch die bisherige conditio humana hindurchstoßen in eine neue Dimension techno-biologischer Aufrüstung – und zwar dadurch, dass sich der Mensch in seiner körperlichen und geistigen Betätigung mittels KI-Prozessen mit Computern, Maschinen und technischen Prothesen verlinkt.

Als Folge davon müsse Identität in der hypertechnologischen Gesellschaft neu definiert werden – und damit auch die meisten kulturellen, sozialen, ethischen und politischen Begriffe. Es entstehe allmählich tatsächlich ein "Technikselbst" (technoself), das weder ganz Technik noch ganz menschliches Selbst sei.

Dieses werde sich angesichts der Verzögerung von Kultur- hinter Technikprozessen erst in einigen Jahren seiner Selbsterforschung zuwenden. Bis dahin hänge der Mensch in der Technologie in einer Art Übergangssituation, in der sein "neues Selbst" ungeklärt bleibt.

Ideologische Wegscheide

Zwischen Kritikern, Anerkennern und Befürwortern dieser Maschinisierung des Menschen entsteht heute nach und nach eine gewisse ideologische Wegscheide. Sie ist die zwischen Transhumanisten (beziehungsweise Biotransformativen) auf der einen Seite – und Humanisten (beziehungsweise Biokonservativen) auf der anderen Seite. Also zwischen denen, die – wie etwa der "Globale Zukunftskongreß 2045" (GF2045) bereits im März 2013 mit seinem programmatischen offenen Brief an den damaligen UN-Generalsekretär Ban Ki-moon – mit allen technischen Mitteln "über den bisherigen Menschen hinaus" wollen; und denen, die für mehr Denk- und Erkenntnisarbeit plädieren und empfehlen, die Entwicklung zumindest temporär zu verlangsamen.

Zu den Biotransformativen gehören auch Biohacker, die im Begriff sind, ihre eigene Subkultur auszubilden; zu den Biokonservativen Teile der zeitgenössischen Philosophie, der akademischen Zukunftsforschung und -lehre und der Religionen, einschliesslich der Kirchen.

Die Lager sind ideologisch gespalten – zwischen einander, aber auch in sich und nach innen. Flügelbildungen dominieren heute auf beiden Seiten. Und an den Flügeln geraten die üblicherweise ideologisch so stark hervorgehobenen Unterschiede zwischen Humanisten, Posthumanisten und Transhumanisten in der Realität politischer Haltungen und Verhaltensweisen ins Fliessen, weil sie sich in ihrer Radikalität ähneln. Sowohl Transhumanisten wie Neohumanisten neigen allzu oft zu einer "Wir gegen Sie"-Haltung, in der der Wille zur politischen Mitte, und damit auch Aspekte kompromißbereiter Vernunft, auf der Strecke bleiben.

Sicher scheint bei alledem nur eines: der Trend zur Maschinisierung des Menschen stößt immer deutlicher von der klassischen Mensch-Maschine-Interaktion zur Mensch-Maschine-Konvergenz vor. Er fördert diese Konvergenz jedoch nicht nur in der Technik, sondern auch in der Gesellschaft – nicht zuletzt im kollektiven Imaginären. In der derzeitigen Übergangssituation verschwimmen Begriffe von Evolution und Antizipation, Kontinuität und Disruption, erkenntnis- und gewinnorientierte Visionen.

Von den Befürwortern wird die Entwicklung zur Cyborgisierung meist als unvermeidliche Einbahnstraße dargestellt: der Mensch soll mittels Gedanken Maschinen steuern, Körperteile austauschen und damit seine Begrenzungen überwinden und seine Befähigungen ausdehnen können.

Den Skeptikern stellen sich dabei jedoch ethisch und politisch hoch relevante Fragen: Wird es wegen der zunehmenden Verschmelzung von Technik mit menschlichem Körper und Geist umgekehrt möglich, von außen auf intime innere Vorgänge des Menschen zuzugreifen – zum Beispiel mittels des Einsatzes fortgeschrittenster KI Gedanken und Körperfunktionen zu hacken?

Und wenn ja: Wer beschützt Gesellschaft und Individuum davor? Wer definiert sie in ihren Eigenrechten unter neuen Bedingungen neu? Wie soll das entstehende Feld der Cyborgisierung überhaupt geregelt werden, wenn es rasch an anthropologischer, psychologischer, wirtschaftlicher und sozialer Bedeutung gewinnt? Reicht dazu die von den Befürwortern für die kommenden Jahre angestrebte "Cyborg Bill of Rights" oder auch "Universale Erklärung der Cyborgrechte" analog zur "Universalen Erklärung der Menschenrechte" aus?