Künstliche Intelligenz und Mensch

Seite 4: Stoßrichtung 2: Die Vermenschlichung der Maschine (Anthropogenisierung)

Der zweite Trend, der in vielerlei Hinsicht umgekehrt und komplementär zur Maschinisierung des Menschen erfolgt, ist die Vermenschlichung der Maschine. Seit einigen Jahren entsteht eine neue Generation von KI-Robotern mit menschenähnlichem Aussehen.

Sie erhalten zwecks besserer Akzeptanz oft weibliche Körperzüge – genauer gesagt Charakteristiken, die den Klischees von "Weiblichkeit" entsprechen. Analytiker nennen das den Übergang der humanen in eine post-humane Welt – mit schein-humanem (fake-human) und schein-geschlechtlichem (fake-gender) Antlitz.

Das wichtigste Beispiel, das aus Sicht vieler Beobachter die Richtung vorgibt, ist immerhin bereits mehr als fünf Jahre alt. Im Oktober 2017 wurde dem ersten "weiblichen", von der U.S.-Firma Hanson Robotics in China gebauten und angeblich mit "weicher" KI ausgestatteten Roboter "Sophia" bei einem Investorentreffen die Staatsbürgerschaft des Uno-Mitgliedsstaates Saudi-Arabien verliehen.

Der damit verbundene Status des Staatsbürgers gilt für die "Roboterin" seither mittels Uno-Wechselseitigkeitsprinzip grundsätzlich weltweit. Die Folgen für aktuelle und künftige Menschen- und Personenrechte, aktive und passive Wählerrechte, das internationale Recht sowie das juridische Grundsatzverhältnis zwischen Robotern, Menschen und KI sind ebenso vielfältig wie unklar.

Vertreter der Vereinten Nationen sprachen wiederholt Warnungen vor solchen Alleingängen am KI-Maschine-Mensch-Schnittpunkt durch autoritäre Regime aus. Dabei wiesen sie auf die indirekte Unterminierung bisher grundlegender humanistisch-anthropologischer Standards hin.

Der Fall beschäftigt seitdem das Europäische Parlament. Es hat mit zwei gegensätzlichen Motionen 2017 sowohl für wie gegen die Verleihung von Person-Rechten – die sogenannte "e-personality" – an bestimmte KI-Roboter gestimmt. Die Debatte ist über die Jahre durch die schnelle Entwicklung von Technik und KI in Einzelaspekten noch komplexer und differenzierter geworden, Lösungsmodellen aber wenig nähergekommen. Das EU-Parlament hat im September 2020 ein "Spezialkommittee zur Künstlichen Intelligenz im digitalen Zeitalter" (Aida) eingesetzt.

Roboter (16 Bilder)

Pepper ist darauf programmiert menschliche Gesten und Mimik zu erkennen. Bilder: © Xavier Caré  /CC-BY-SA-4.0

Aida hat im Mai 2022 eine "KI-EU-Roadmap bis 2030" vorgeschlagen. Dabei wird vor allem das KI-Fortschrittspotential in Bezug auf die Verrichtung wiederholungsorientierter Arbeiten in den Mittelpunkt gestellt, aber auch das Risiko der Überwachung. Die Mensch-KI-Beziehung wird darin, wie bislang fast immer, nur in wenig aussagekräftigen Standardsätzen guten Willens abgehandelt.

Wie sich diese Debatte auch weiterentwickelt: konkrete Fragen werden früher oder später behandelt werden müssen. Darunter sind die Herausforderungen: Wer haftet, wenn KI-Roboter immer intelligenter werden und vielleicht in absehbarer Zeit teil-, semi-autonom oder sogar sektoral autonom agieren? Wie ist ihre Verantwortungs- und Schuldfähigkeit? Wo liegen – als Effekt von Verantwortung – umgekehrt ihre Rechte?

Wird das menschenähnliche Aussehen von KI-Robotern selbst zum Sicherheitsrisiko, wie sogar die Erbauer von "Sophia" in Betracht ziehen? Und vor allem: Was kann und soll der juridische, der gesellschaftliche und der politische Status von in Aussehen und Verhalten immer menschenähnlicheren KI-Robotern im Vergleich zu Menschen sein – vor allem dann, wenn beide sich im Alltag immer stärker vermischen und Experten davon ausgehen, dass es in der zweiten Jahrhunderthälfte ähnlich viele menschenähnliche Roboter in unseren Gesellschaften geben könnte wie Menschen?

Der Begriff der "einzigartigen Identität" wird zunehmend ambivalent

Dazu wird für die kommenden Jahre laut Experten wie Andrea Bertolini vom RoboLaw Laboratorium der Hochschule Pisa und führenden interdisziplinären Wissenschaftlern wie Alain Bensoussan zwar weniger in autoritären Gesellschaften wie China, vor allem aber in den offenen Gesellschaften Europas und des Westens die Diskussion um Begriff, Inhalt und Perspektive von "einzigartiger Identität" (unique identity) zentral werden.

Laut Bensoussan, der die EU auf verschiedenen Ebenen beriet, sind alle Menschen Personen, aber künftig nicht mehr alle Personen Menschen. Verbunden seien in einigen Jahren beide: KI-Roboter und Menschen durch "einzigartige Identität". Laut Bensoussan stehen intelligenten KI-Robotern deshalb früher oder später Personenrechte zu. Das würde schon bald zu einer "neuen Robotermenschheit" führen, aus der eine "neue Zivilisation" hervorgehe.

Diese Sichtweise ist jedoch umstritten. Denn sie würde massive soziale, politische und kulturelle Folgen zeitigen – und die bisherigen humanistischen Grundlagen europäisch-westlicher Politik und Gesellschaft aufheben könnte. Deshalb hat die EU-Kommission in ihrer KI-Strategie vom April 2018 die Verleihung von (bisherigen) Personenrechten an Roboter grundsätzlich abgelehnt – vorerst.

Wesentliches Ergebnis dieser Auseinandersetzung ist bislang: die Entscheidungsträger auf allen Ebenen sind gefordert, sich mit dem Begriff "einzigartige Identität" und seiner Stellung in der Gesellschaft frühzeitig, umfassend und vertieft zu beschäftigen – weit mehr als bisher. Denn die offene Gesellschaft wird auf dem Weg in die hyper-technologische Zivilisation an zentraler Stelle Entscheidungen darüber treffen müssen, wer und was darunter fällt und wer und was nicht.

Das kann sie aber nur, wenn sie Zivilgesellschafter, Ökonomen, Techniker und Ingenieure, Kybernetiker, KI-Spezialisten, Politiker, Philosophen, Neurologen, Natur-, Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaftler und all jene, die in irgendeiner Weise am Identitätsbegriff denken und forschen, frühzeitig in "task forces" zusammenführt und sich um ein ganzheitliches, inter- und transdisziplinär zu gewinnendes Bild bemüht.

Weil aber in der sozialen und politischen Praxis ebenso wie im wissenschaftlichen und akademischen Mainstream immer noch technische Spezialisierung, Markt- und Produkterwägungen sowie Machbarkeit ausschlaggebend sind, ist eine solche Auseinandersetzung bisher nur ungenügend erfolgt. Das sollte sich angesichts der nun beginnenden – und in den kommenden Jahren erweitert bevorstehenden – Tragweite des Themas ändern.

Ein Vorbild dafür kann zum Beispiel die Unesco-Initiative "Ethik der Künstlichen Intelligenz" sein. Sie führte bei der Unesco-Generalkonferenz im November 2021 in Paris zur Unterzeichnung der "Empfehlung zur Ethik der Künstlichen Intelligenz". Es ist das erste Instrument global standardsetzender Regulierung seiner Art, das inmitten der KI-Revolution Menschenrechte und menschliche Würde schützen soll, während es sich dem sinnvollen Fortschritt nicht versagt.

Die Unesco-Initiative reagiert auf die Tatsache, dass derzeit – gewollt oder ungewollt – eine globale KI-Mensch-Synthese entsteht, deren Dimensionen noch gar nicht absehbar sind: dass auf der einen Seite "KI die Welt immer umfassender und tiefgehender verändert", während zugleich auf der anderen Seite "Menschen immer mehr innerhalb von KI-Feldern evolvieren".

Dass von den neuesten Durchbrüchen an der KI-Mensch-Schnittstelle "die Zukunft der Menschheit abhängt", scheint als ausgemacht. Doch bei genauer Betrachtung sind damit viele Fragen verbunden.

Roland Benedikter ist Co-Leiter des Center for Advanced Studies von Eurac Research Bozen, Unesco Chair für Interdisziplinäre Antizipation und Global-Lokale Transformation und Mitglied des Zukunftskreises des BMBF für die deutsche Bundesregierung. Homepages bei Eurac Research: Roland Benedikter und Unesco Chair. Kontakt: roland.benedikter@eurac.edu.