Kullernde Augen und die Suche nach den wahren Bildern

Steven Spielberg hat in "Minority Report" Philip K. Dicks zentrale Motive in Bilder übersetzt

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Vor kurzem kam sein Feelgood-Movie E.T. zum zwanzigsten Jubiläum erneut ins Kino. Jetzt hat ausgerechnet Steven Spielberg einen Film gemacht, der zum "Wag the dog" der Bush-Regierung werden könnte. Jener Film beschrieb 1997, wie ein Hollywood-Produzent mit einem kleinen Krieg von einem Sexskandal des US-Präsidenten ablenkt. 2002 zeigt nun Spielbergs Minority Report eine Zukunft, in der Verbrechen aufgeklärt, verhindert und gesühnt werden, bevor der Täter sie überhaupt begangen hat. Genau das ist derzeit erklärtes Ziel des US-Justizministers John Ashcroft. Auch in Deutschland tönte etwa der bayerische Innenminister Günther Beckstein im Wahlkampf, man müsse etwaige Terroristen bereits abschieben, noch bevor überhaupt ein Gericht über Schuld oder Unschuld entschieden hat.

Foto: 20th Century Fox

Zumindest das ist im Jahr 2054 Spielbergs kein Problem mehr. Die Schuld jedes Mörders ist im Vorhinein - scheinbar - zweifelsfrei erwiesen. Drei Menschen, dank genetischer Experimente mit den Fähigkeiten eines Orakels gesegnet, träumen in einer Art Koma die Morde der Zukunft. Die Visionen dieser so genannten Precogs werden vom Sicherheitsunternehmen Precrime angezapft, unter Aufsicht zweier Richter ausgewertet, Ort und Beteiligte des Mordes identifiziert und die Täter anschließend verhaftet. Das alles erklärt Spielberg in einer schnellen und energiegeladenen Exposition von etwas mehr als einer Viertelstunde. An deren Ende sagt Tom Cruise dann den grandiosen Satz: "Im Auftrag der Precrime-Division von Washington DC verhafte ich Sie wegen der zukünftigen Morde an Sarah Marks und Donald Doobin, die heute am 15. April um acht Uhr vier Minuten stattfinden sollten." Der Verhaftete stammelt "Nein, ich habe nichts getan", was stimmt, aber natürlich absolut irrelevant ist.

Bei allen Parallelen, etwa zum Fall Abdullah al-Muhajirs, hat Steven Spielberg keinen politischen Kommentar der Gegenwart abgefilmt. Wie auch: Das Drehbuch wurde vor dem 11. September fertiggeschrieben. Spielberg geht es mit "Minority Report" vielmehr ähnlich wie Philip K. Dick - auf dessen gleichnamiger Kurzgeschichte von 1956 der Film auch beruht - mit den meisten seiner Bücher.

Die Science-Fiction-Kulisse eines privaten Unternehmens, das nahezu totale Macht erlangt, ist nicht besonders neu oder überraschend. In den sechziger Jahren ähnelten die holzschnittartig skizzierten totalitären Verhältnisse in Dicks Geschichten stark dem amerikanischen Law-and-order-System der damaligen Gegenwart. Ähnlich ist es in "Minority Report". Wobei die erstaunliche Kongruenz von Dicks Vorstellungen mit der heutigen Gegenwart mehr über diese als über die visionäre Kraft des Autors aussagt. Vor solchen Hintergründen kreisten Philip K. Dicks eigentliche Geschichten immer um einen Menschen, der mit seiner Umwelt, mit seinem Schicksal, mit der Realität hadert. Und so ist es auch bei Spielberg.

Tom Cruise hat als John Anderson seinen Sohn - wahrscheinlich an einen Kinderschänder - verloren, seine Frau hat ihn verlassen. Geblieben sind ihm allein Erinnerungen, Bilder, Drogen, sein Job als oberster Cop der Precrime Division und der Glaube an ein System, das Verbrechen wie das an seinem Sohn absolut verhindern kann.

Foto: 20th Century Fox

Das meiste davon verliert Anderton im Verlauf des Films. Das System macht offenbar Fehler, Anderton stößt auf verschwundene Berichte und seltsame Lücken in Falldaten. Doch er weiß nicht, wie diese Fehler entstehen. Absichtlich? Unabsichtlich? Wer begeht sie? Liegen sie im Design des Systems? Mit solchen Fragen wird gerade derjenige konfrontiert, der sein gesamtes Leben auf den Leitsatz von Precrime aufgebaut hat: "Can you imagine a world without murder? Precrime - it works." Nur soll jetzt Anderton den nächsten Mord begehen. Ihm bleibt die Wahl: Entweder ein Schicksal akzeptieren, das all seinen Überzeugungen nach nicht sein eigenes sein kann, oder aber die Grundlage seines Lebens aufgeben und gegen das System kämpfen, an das er glaubte.

Beide Alternativen sind für die Figur Andertons so düster wie das Licht im gesamten Film. Wie es sich im Kino mit Mainstream-Anspruch gehört, wird der innere Kampf Andertons um sein Schicksal und die ihn umgebende Realität als Hetzjagd mit viel Action inszeniert. Wie schon in "Blade Runner" rennt die zentrale Figur. Wie bei Deckard kann man nicht entscheiden, ob Anderton nun Jäger oder Gejagter ist. Jedenfalls muss er in Bewegung bleiben - und leiden. Als äußere Stigmata des inneren Kampf trägt Harrison Ford in "Blade Runner" gebrochene Finger und ausgeschlagene Zähne davon. Tom Cruise sieht in "Minority Report" nach einiger Zeit die Welt mit anderen Augen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Die Bilder einer solchen Operation haben von Spielberg wohl nur wenige erwartet.

Ähnlich wie das Hadern des Individuums um die Grundlagen seiner Existenz hat Spielberg auch die bei Philip K. Dick zentrale Frage nach der Beschaffenheit von Realität sehr gut in die Filmsprache übersetzt. Nämlich in Bilder, die Zweifel an Bildern wecken. Tom Cruise arbeitet als oberster Cop bei Precrime vor allem mit dem Bildmaterial aus den Köpfen der Precogs. Er muss die richtigen Bilder heraussuchen, sie richtig sehen und lesen. Ein raumfüllender, transparenter Monitor lässt die Bilder im Kontrollraum von Precrime schweben. Wie der Dirigent die Töne führt Cruise mit leicht schwingenden Armen die Bilder durch den Raum zu einer Art Symphonie zusammen. Cruise schneidet aus den Träumen von der Zukunft einen Film über die Zukunft. Doch sein Ausgangsmaterial kann täuschen. Nicht weil es gefälscht ist, sondern weil man es falsch betrachtet, weil bereits zusammengeschnitten ist, was man für Rohmaterial hält.

Foto: 20th Century Fox

Cruise lebt auch außerhalb seines Jobs in Bildern. Abend für Abend kehrt er in die Artefakte seines früheren Lebens zurück. Nicht die Drogen sind sein Verhängnis. Es ist eine andere Sucht. Wie ein Dealer am Anfang sagt, als er Cruise seine leeren Augenhöhlen entgegengestreckt: "Unter den Blinden ist der Einäugige ein Sehender." Cruise jagt im Film den wahren Bildern nach. Die Berichte der Precogs, die Reste von Andertons Familienglück, sogar die per Irisscan individualisierten Werbespots in der Alltagsumwelt von 2054 sind in mehren Realitätsebenen geschichtete Bilder. Und das Balancieren zwischen diesen Ebenen ist weit gefährlicher als das zwischen fliegenden Gleitern.

Die Bilder des leidenden Tom Cruise und der übereinandergeschichteten visuellen Informationen erzählen in "Minority Report" also die eigentliche Geschichte - und das erstaunlich nah an den zentralen Motiven von Philip K. Dick. Der Plot des Films hingegen schlägt einige allzu scharfe Haken. Anders als der Titel vermuten lässt, spielen die Minority Reports in Andertons ganz eigener Geschichte eine eher untergeordnete Rolle. Hätte Spielberg sich stärker auf dieses Motiv konzentriert, hätte sein Film tatsächlich jener politische Kommentar werden können, den einige Kritiker zu erkennen glauben. Doch "Minority Report" erzählt in erster Linie nicht die Geschichte des Precrime-Systems, sondern die John Andertons. Und das tut der Film fast perfekt.

Trotz fast zweieinhalb Stunden spürt man keine Längen. Außer beim Ende, das wenige Minuten zu spät kommt. Nach der eigentlichen, im positiven Sinn offenen Schlussszene kommt ein überdeutlichen Erklärstück mit einigen Wohlfühlbildern von Sonnenuntergang, Natur und Hüttenleben. Allerdings wecken diese überdeutlichen Bilder einen Zweifel, der den Film womöglich von hintenher auflöst. Zu jener Stelle, an der die Hauptfigur Drogen gespritzt bekommt. Oder zu jener Stelle, wo sie mit schönen Worten über schöne Träume in den Kälteschlaf geschickt wird. Beide Szenen erinnern sehr deutlich an zentrale Motive bei Philip K. Dick.

So wird sogar der einzige Moment relativiert, der an Steven Spielbergs Feelgood-Movies erinnert. Ansonsten wirken Spielbergs Bilder trotz fast 500 visuellen Effekten - anders als bei George Lucas - keineswegs perfekt, sondern organisch. Die Farben sind verblasst, das Filmmaterial grobkörnig. Spielberg dreht nicht auf digitalem Video, sondern auf Film. Und überhaupt: Hat man je einen Mainstreamhelden seinen davonkullernden Augen hinterherlaufen sehen?