Kyotos Schloss und Potemkins Shopping Mile

Als Tourist in digitalen Städten V

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Digitale Verdoppelungen bestehender Städte scheinen immer dann lohnend, wenn die touristische Qualität des Ortes außer Frage steht. Kyoto ist sicher so eine Stadt - kein Japaner, der nicht einmal im Leben in die alte Kaiserstadt fährt; kein Europäer oder Amerikaner, der den Ort nicht als Teil seiner Pflichtroute durchs Land einplant. Mit ihrer Mischung aus weihevoller Ruhe, gro€artiger Vergangenheit und einer quirlig unübersichtlichen Geschäftigkeit im Gegenwärtigen ist die Stadt beim ersten wie nach mehrfachem Anschauen eindrucksvoll.

Doch das Portal des digitalen Kyotos wirkt mit seiner Lotosblüte zwischen Fernsehturm und Pagode samt kleinen Schaltern drumherum nicht gerade so, als ob ein Besuch des Klons auf dem heimischen Bildschirm wirklich lohne. Wer es dennoch tut - und darum geht es hier -: Für die LeserInnen, die des Japanischen nicht mächtig sind, ist das Schalterchen unten rechts bestimmt. Im Augenblick regnet es allerdings gerade im digitalen Kyoto.

Was dann kommt, vermag auch nicht direkt zu begeistern. Eine lange Liste voller kleiner Streifen, immer links ein winziges, in aller Naivität witzig sein sollendes Bildchen und daneben kurze Texte zu Themen, die dem Touristen wenig interessant erscheinen mägen, aber immerhin für ein funktionierendes Kulturleben in der Stadt sprechen: Bibliotheken, Museen, Theater, Musik, Verkehrsbetriebe mit Fahrplan und vieles Andere mehr. Aber selbst bei der jüngst positiven Bewertung der japanischen Graphik muss die Aufzählung von Bildern und Texten nicht begeistern. Weit unten, kurz vor Ende der Liste, gibt es einen kleinen Kasten mit drei Angeboten, die Kyoto einen Platz im digitalen Baedeker sichern. Für alle drei muss man zunächst wieder ein Plug-In laden - noch sind mir keine zwei Städte mit gleicher Zugangssoftware bekannt geworden. Es ist wie im Mittelalter, wo die Stadttore vor allem zum Währungstausch dienten und den Orten die passenden Zinseinnahmen bescherten.

Auch diese Hürde ist einmal genommen, und übrig bleibt der Zugang zur virtuellen Stadttour. Die Rundfahrt unter Leitung eines quietschenden Papageis ist allerdings nur den notorischen Liebhabern der neuesten japanischen Comic-Serien im Privatfernsehen zumutbar; mir verbietet sich hier jeder Kommentar. Bleiben zwei Touren, und die können unterschiedlicher kaum gedacht werden. Zusammen bilden beide jedoch die Stadt Kyoto in genau der Weise ab, die dem touristischen Besuch entspricht. Ein Rundgang führt durch das alte Kaiserschloß, ein anderer über die Einkaufsstraßen neuerer Stadtviertel. Wer mit welchem Weg anfangen möchten, sollte dies unter der Maßgabe entscheiden, tatsächlich beide zu besuchen - wie bei der japanischen Küche liegt im Kontrast die Wirkung.

Der Ninomaru-Palast wird durch die drei Haupträume repräsentiert, und zwar von innen. Als Eröffnungsbild der Tour baut sich eine Diagonalsicht des kaiserlichen Empfangsraumes auf, zunächst aus Mattengeflecht und Holzbalken, dann mit zwei Ausschnittfiguren des Herrschers und seiner Frau - die anfangs etwas lächerlich plaziert wirken, was sich aber beim endgültigen Aufbau des Bildes wieder relativiert -, und schließlich kommen die Wandgemälde und Deckenornamente zum Vorschein. Ist dieser Aufbau erst abgeschlossen, kann der Rundgang beginnen. Orientierung verleiht ein schmaler Streifen rechts neben dem Bildraum, der den Grundriss der Anlage mit den drei dargestellten Räumen zeigt; der Raum, in dem man sich befindet, wird gelb unterlegt. Die Navigation mit dem gegebenen Programm ist einfach; wer von anderen, langsameren 3D-Darstellern gewohnt ist, alle Touren mit dem linken Zeigefinger auf der 'Shift'-Taste zu durchfahren, sollte dies hier lassen, denn sonst fliegt er in Sekundenschnelle aus dem Fenster. Und das wäre schade.

Die quadratischen Raumgrundrisse und die seitlichen Gänge erlauben nämlich eine virtuelle Wanderung an jeder Wand entlang, gelegentliches Vor- und Zurücktreten, Zur-Seite-Gehen und ein ruhiges Umdrehen für den Blick zu einer anderen Fensterfront oder auf ein weiteres Wandbild. Das große Erstaunen mag kommen, wenn man sich von einem Raum zum anderen begibt: die schmalen Verbindungsräume - Flure mag man sie nicht nennen in ihrer Gliederung - sind ebenfalls einprogrammiert. Der Weg durchs Schloss ist ein kontinuierlicher, zwar in der Reihenfolge geführt wie sonst die Schlossbesichtigungen auch, aber doch so, dass BesucherInnen sich selbst bewegen können, stehen bleiben, umdrehen und dergleichen mehr. Alle Räume lohnen die Besichtigung in gleichem Maße, und hat man den Aufbau des ersten Bildes abgewartet, werden weitere Veränderungen in der Geschwindigkeit der Bewegung durchgeführt. Selbst die farbliche Abstimmung von Holz und Textil ist bemerkenswert; so viele differenzierte Braun- und Gelbtöne sieht man auf Computern selten.

Der radikale Gegensatz dazu ist, wie erwähnt, die Fahrt durch die Innenstadt mit ihren Geschäften. Drei verschiedene Auflösungen derselben Ansicht werden auf der Web-Site angeboten. Die höchste sollten nur solche Nutzer nehmen, die mehr als die laut Text erforderlichen 128 MB RAM zur Verfügung haben - sonst ruckelt die Anwendung fürchterlich. Bei 32 MB RAM und weniger kann man allein die gröbste Auflösung einsetzen - und die finde ich ohnehin die Spannendste. Ihr ist die Entstehungsweise auch am besten anzusehen: Ein Straßennetz von Magistralen durch drei Stadtviertel wird zur Navigation programmiert, und an den Straßenrändern stehen die Fassaden als photographische Abwicklung. Kein Volumen ist angedeutet, kein singuläres Gebäude zu erkennen. Dem Einfall des Fürsten Potemkin gleich werden die planen Fassadenbilder an den Straßen aufgereiht, und wer direkt darauf zufährt, wird mit einer Geschäftsansicht ausgebremst.

Am unteren Bildrand dieser Tour sind jeweils zwei Email-Adressen oder URLs angegeben, die zu den gerade mitten im Blickfeld befindlichen Geschäften gehören. Die Virtualität dieser Tour bezieht sich damit auch auf den Einkaufsgang und das Warenangebot: Was das Flanieren auf städtischen Straßen angeht, gibt es zur fleischlichen Realität nur noch einen Unterschied - da sind keine Mitmenschen. Die Künstlichkeit, die das Arrangement fotografischer Fassadenbilder an einer blankgeputzten Straßenkante evoziert, referiert bereits bekannte Ansätze aus der bildenden Kunst und städtebaulicher Theorie. Ed Rusha's Arbeit 'Sunset Boulevard' aus dem Jahre 1966 lieferte das bildnerische Modell, Robert Venturi's 'Learning from Las Vegas' (der sich direkt auf Rusha bezog) die theoretische Grundlage einer Analyse.1 Gerade die Rauhheit eines Vorbeifahrens an den gering aufgelösten Bildstrecken verweist auf die mittelmäßige Bildqualität der amerikanischen Konzeptkünstler, die wiederum die Distanz zwischen Kunst und Leben verkleinern sollte. Hier ist also das künstliche Leben zum Einkaufsbummel geronnen.

Bei der fotografischen Registrierung der vorhandenen Fassaden zur †bernahme in die digitale Städtetour hat sich niemand die Mühe gemacht, unterschiedliche Wetterverhältnisse anzugleichen und eventuelle Straßenpassanten aus den Bildern zu entfernen. Das trägt nicht nur zum beschriebenen Eindruck der Bildabwicklung bei. Es ergibt auch ein eigenes Element der Verfremdung: Bilder von realen Menschen sind in die Fassade eingedrückt wie gestanzte Figurinen.

Das wiederum ist ein Element allerneuester Photo-Computer-Montage-Kunst2 - nur von anonymen japanischen Designern schlüssiger, furchterregender und damit erkenntnisreicher gelöst. In zehn Minuten digitaler Städtetour auf Kyotos Einkaufsstraßen erfährt man mehr über Schein und Sein urbanen Lebens von heute als durch die großartigen Ausstellungen und teuren Bilder künstlerischer Zeitenwenden, wie sie derzeit im Schwange sind.

Die Serie 'Als Tourist in digitalen Städten' erschien zuerst in der db. deutsche bauzeitung und wurde für 'telepolis' geringfügig überarbeitet.