Lämmer und Wölfe der neuen Weltordnung
Jacques Derrida über den 11. September, die USA und Schurkenstaaten
Noam Chomsky war einer der schnellsten. Sein Buch 9-11 besteht größtenteils aus Interviews, die er noch im September 2001 gegeben hat. Die Pointe seiner "Reflexionen" über die Attentate besteht darin, erstens Terrorismus ganz in Übereinkunft ("exactly in the sense") mit offiziellen Regierungsdokumenten zu definieren als "der kalkulierte Einsatz von Gewalt, um Ziele zu erreichen, die ihrem Wesen nach politisch, religiös oder ideologisch sind". Zweitens wendet er dann diese Definition auf die US-Außenpolitik der letzten drei Jahrezehnte an, um zu dem Schluss zu kommen, "dass die USA selbst ein führender Terrorstaat sind". Der von Bush deklarierte "war against terror" sei tatsächlichen ein Terrorkrieg, der auf beiden Seiten: Staaten und Netzwerken ohne Rücksicht auf Völker- und Menschenrecht geführt werde. Der Unterschied, den mancher noch zwischen Al-Qaida und den USA, zwischen Bin Laden und Bush ziehen mag, schwindet hier bis zur Unkenntlichkeit. Der versierte Linguist Chomsky benötigt nur ein paar Seiten, um nachzuweisen, dass die Terroristen im Weißen Haus sitzen und die USA ein Schurkenstaat sind.
Die USA: ein Schurkenstaat
Der perverseste und gewalttätigste, der destruktivste der rogue states: das wären also die Vereinigten Staaten und gelegentlich ihre Verbündeten. Die Masse der Beweisindizien ist beeindruckend.
Die USA und andere "hegemoniale Staaten" erheben Vorwürfe "gegen sogenannte Schurkenstaaten", um dann gegen sie "zu Felde zu ziehen, ohne sich sonderlich um das Völkerrecht zu kümmern." Um beliebig Kriege zu führen, die sich gelegentlich auch Intervention, Prävention oder Polizeiaktion nennen, wird dem Feind zuerst das Schurkische aus "strategischen Motiven zugeschrieben", dann wird er dafür "bestraft". Die klassische Kriegserklärung, die heute kaum noch eine Rolle spielt, obschon Bomben fallen und Panzer rollen, wird ersetzt von der Attribution des Schurken.
Die Eigenschaft "schurkisch" ist eine Auslegung, eine Zuschreibung, die bereits einer gerichtlichen Vorladung gleichkommt, also eigentlich stets eine Denunziation, eine Klage oder Anklage, ein Vorwurf, eine abwertende Beurteilung. Als solche ist sie Ankündigung, Vorbereitung und erster Schritt zur Rechtfertigung einer Sanktion. Der Schurkenstaat muss bestraft, eingedämmt, daran gehindert werden, Schaden anzurichten, notfalls mit der Gewalt des Rechts und dem Recht der Gewalt.
Jemanden zum Schurken erklären, um ihn dann zu strafen. Das, was man "dunkel den '11. September' nennt", war eine "eindrucksvoll kalkulierte Medieninszenierung", die den weltweiten Operationen gegen den Schurken vorausging. Die Souveränität des Staates schlägt so um in "Staatsterrorismus", denn die USA begehen am sog. Schurken "Rechtsverletzungen und Rechtsverstöße", weil sie ganz einfach "die Macht dazu haben". Sie verhalten sich als "outlaw", der seine "Macht missbraucht" und "das internationale Recht verletzt", wenn es ihm gerade paßt. Aufgrund ihrer überragenden Atommacht und der Beherrschung des UN-Sicherheitsrates streben die USA eine "imperiale Hegemonie" an, längst herrschen sie auf der Welt in "faktischer Diktatur". Unentwegt missbrauchen sie ihre Macht und "üben Verrat" an den Grundsätzen der Menschen- und Völkerrechte.
Wer nach dem Muster einer alten Polemik bei Derrida immer noch an Derridada denkt und von der Dekonstruktion etymologische Spielereien und scholastische Sophismen erwartet, der wird überrascht sein zu hören, dass all diese doch sehr handgreiflichen Statements nicht von Chomsky stammen, sondern aus Jacques Derridas neuestem Buch über Schurken. Derrida hat uns schon im Frühsommer damit frappiert, ein langes und langweiliges Paper über "Die Wiedergeburt Europas" (FAZ vom 31. Mai 2003) einfach zu unterzeichnen und so gleichsam eine Phase der Kollaboration mit Habermas einzuleiten (Vision reloaded: Das spätaufgeklärte Europa der Philosophen). Heute kann man sich über die Unbekümmertheit wundern, mit der Derrida die letzten Publikationen Chomskys (Rogue States, 9-11) pauschal absegnet ("überzeugend") und seine zentrale These ohne jeden Konjunktiv übernimmt. Klartext Derrida:
Der erste und gewalttätigste rogue state ist derjenige, der das Völkerrecht, als dessen Vorkämpfer er sich ausgibt, missachtet hat und fortwährend verletzt, jenes Völkerrecht, in dessen Namen er spricht und in dessen Namen er gegen die sogenannten rogue states in den Krieg zieht, wann immer es sein Interesse gebietet. Nämlich die USA.
Was vielleicht am meisten verblüfft an einem Denker, der sonst kein Zitat ohne ausgiebige Kommentierung lässt, der keiner Position ohne eine Verschiebung zustimmt, ist die Schlichtheit mancher Passagen, die dem Arsenal des Antiamerikanismus und Neogaullismus zu entstammen scheinen. "Die Vereinigten Staaten und die Staaten, die sich ihren Aktionen anschließen, sind rogue states." Ob er auch die Attentäter des 11. September für Schurken hält, lässt Derrida offen.
"Terroristen" setzt er ganz vorsichtig in Anführungszeichen. Er legt sogar nahe, dass die Anschläge "vielleicht nicht ohne eine gewisse autoimmunisierende Billigung einer Administration" stattfinden konnten, "die weniger kurzsichtig war, als man angenommen hätte". Die "Terroristen" des 11. September jedenfalls seien "mit Gewissheit amerikanische Staatsbürger" gewesen. Und sie wurden "von amerikanischen Bürgern unterstützt, sie haben amerikanische Flugzeuge gestohlen, sie sind in amerikanischen Flugzeugen geflogen, sie sind von amerikanischen Flughäfen aufgestiegen". Trainiert haben sie "vor den Augen der CIA und des FBI". Was kann dies anderes bedeuten, als dass Derrida andeuten möchte, das ganze sei im Grunde ein amerikanischer Anschlag gewesen, gewissermaßen ein Akt der "Autoimmunisierung"?
Das Recht des Stärkeren oder Wolf und Schaf
Schurken enthält zwei zu Essays erweiterte Vorträge aus dem letzten Jahr, die La Fontaines Fabel über Wolf und Schaf dekonstruieren. Die Lehre, die aus ihr zu ziehen sei, lautet: "Des Stärkern Recht ist stets das beste Recht gewesen." Derridas fragt: "Aus welcher politischen Geschichte können wir heute, in derselben Tradition, diese fabelhafte Moral ziehen?" Die Lehre ist also schon gezogen, man muß sich nur noch in der aktuellen Geschichte umsehen.
Jede alte Fabel, schreibt Herder, erzählt ihre Geschichte neu für "ihre Gesellschaft". Die Geschichte, die heute zu La Fontaines Fabel paßt, ist bekannt: Es ist die des Endes des Nationalstaates und des Aufgangs einer neuen Weltordnung. Beide Phänomene sind in der letzten Dekade unter den Stichworten Globalisierung oder Empire abgehandelt worden.
"Des Stärkern Recht ist stets das beste Recht gewesen." Warum nur? Für Rousseau ist das Recht des Stärkeren überhaupt kein Recht und das "beste Recht" schon gar nicht. Der Stärkere vertraut allein seiner Macht, seine Ziele willkürlich mit Gewalt durchzusetzen. Wer zwingen kann, benötigt keinen Instanzenweg. Ein Rechtsverhältnis ist dies nicht, wenn der Stärkere den Schwachen dazu bringt zu tun, was er will. Vor allem fehlt die für die Funktion des Rechts typische Erwartungssicherheit. Denn sobald sich die Machtverhältnisse ändern, wird der neue Starke "sein Recht" erzwingen, wie immer dies dann aussehen mag. Diese Position der Stärke nennt Derrida die "unbedingte Souveränität", eine Souveränität, die sich von keinen Bedingungen einschränken lasse und daher "unbedingt, absolut, und vor allem, gerade deshalb, unteilbar" sei. Unteilbar und absolut, und damit ungünstig für jede Form der politischen Partizipation, sei sie, weil der Souverän, wie Derrida in völliger Übereinstimmung mit Carl Schmitt schreibt, das Recht bei sich habe, "über die Ausnahme zu entscheiden", er nehme sich das "Recht, das Recht aufzuheben."
Man könnte hier einwenden, ob moderne politische Systeme überhaupt noch solche Entscheidungsspitzen ausbilden, die man dann als Souverän bezeichnen könnte. Wer in der Lage wäre, hierzulande einen locus decisionis zu benennen, verdiente einen Lehrstuhl. Wie auch immer: Die "supermächtigen" USA (Der Präsident? Der nationale Sicherheitsrat?) sind für Derrida solch ein Souverän, ja der Souverän einer neuen, globalen Weltordnung, weil sie sich das Recht nehmen, weltweit ihre "vitalen Interessen" zu verfolgen, sprich: "zu intervenieren", auch "ohne vorherige Zustimmung der UNO oder des Sicherheitsrats". Sie agieren souverän, weil sie sich vom Völkerrecht ausnehmen. Man könnte, so Derrida, "Faschismus und Nationalsozialismus [...] leicht als Schurkenherrschaft beschreiben." Heute aber sind die USA der Wolf. Von der Wolfsschanze zu Wolfowitz, könnte man kalauern.
Wer "das Recht setzt" und "sich recht gibt", ist ein "Wolf", erklärt uns Derrida die Fabel La Fontaines. Ist nun der Wolf deshalb ein Schurke? Nein, er sei sogar "prinzipiell kein Schurke, da er die souveräne Macht darstellt." Der Souverän kann kein Schurke sein, da der Souverän immer recht hat, weil er selbst das Recht setzt. Alle Handlungen des Souveräns haben Gesetzeskraft. Diese Überzeugung Hobbes' hat 1934 ein berüchtigtes Echo in Schmitts Pamphlet Der Führer schützt das Recht gefunden: Der Führer übertritt das legale Recht, wenn es zum Schutz des Staates gegen die Feinde Deutschlands, "Meuterer und Staatsfeinde", nötig ist, und schafft mit dieser Tat "im Augenblick" der Ausnahme "unmittelbar Recht". Dieses Ausnahmerecht führt, wie Agamben gezeigt hat, den Derrida laufend zitiert und kommentiert, geradewegs in die Vernichtungslager. Derrida hat leider keinen Platz für die nötige "endlose Diskussion über Schmitt und mit Schmitt", doch haben sich Schmitts Überzeugungen allenthalben in Derridas Diskurs eingenistet.
Auctoritas non veritas facit legem
So lautet wohl der von Schmitt meistzitierte Satz Hobbes. Der Stärkere hat recht, könnte man frei übersetzten. "A rogue State is whoever The United States says it is", zitiert Derrida Robert S. Litwaks aktuelle Variante der Formel. Die Souveränität dieser Entscheidung, den Anderen zum Schurken zu erklären, macht die USA selbst zu einem Schurkenstaat. Diese Erklärung - Hors la loi-Setzung, würde Schmitt sagen -, die nur auf der größeren Macht basiert, nicht aber auf besserem Recht, illustriert "heute" das "Recht des Stärkeren".
Der Souverän wird so notwendig selbst zum Schurken, da er sich durch den Ausschluss des Schurken infiziert. Die Maßnahmen, Kontrollen, Einschränkungen, Überwachungen die die USA im Kampf gegen den Terrorismus ergriffen haben, leiten zugleich ihre Anverwandlung an den Feind ein. Wer Krieg im Namen der Menschheit führt, behält sich vor, den Kriegsgegner als Unmenschen zu behandeln und wird folglich selbst zum Verbrecher an der Menschheit, hatte Schmitt diese Logik einst beschrieben. Für Derrida lautet Schmitts Logik so: Wer Kampf im Namen der Demokratie führt, trifft auf der Seite des Feindes nur auf Nicht-Demokraten, die keinerlei Ansprüche auf demokratische Spielregeln zu erheben haben. Feinde der Demokratie oder der Menschheit werden weder nach Menschenrecht noch nach Bürgerrecht behandelt, sondern an beliebigen Nicht-Orten interniert. Diese Kritik trifft zwar, aber es nicht Derridas eigene Klinge.
Schurkische Demokratien, Weltbürgerkrieg
Jede Demokratie, generalisiert Derrida nun, konstituiert sich durch den Ausschluss des Anderen und Fremden, um sich zu schützen und zu erhalten. Tut sie es nicht, wie die Weimarer Republik ab 1932, geht sie an die Schurken verloren. Die Exklusion des Schurken ist eine Funktion der "Autoimmunisierung". Das Erschreckende, Selbstzerstörerische, ja Selbstmörderische dieser Autoimmunität ist, dass sie zerstört, was sie zu schützen versucht.
Um sich zu immunisieren, um sich gegen den (inneren oder äußeren) Angreifer zu schützen, sonderte die Demokratie also ihre Feinde beiderseits der Frontlinie ab, und es blieb ihr scheinbar keine andere Wahl als die zwischen Mord und Selbstmord.
Man möchte hier einwenden, dass diese Wahl ungleich gewichtet ist und 1933 für die Demokratie "Mord" womöglich besser gewesen wäre als "Selbstmord". Um die Demokratien "überall auf der Welt" vor dem "sogenannten internationalen Terrorismus" zu schützen, ergreifen die USA "alle für notwendig erachteten Maßnahmen". Gerade die USA als "einziger und letzter Hüter der Weltordnung normaler und souveräner Staaten" verwandeln sich in einer Art globaler Immunreaktion gegen echte oder vermeintliche terroristische Bedrohungen in einen "Schurkenstaat". Man hat also, könnte man folgern, keine andere Wahl als die zwischen Schurken und Schurkenstaaten. Ein Unterschied zwischen einem Staatsbürger der USA und einem Untertanen Nordkoreas wird nicht gemacht. "Es gibt also nur Schurkenstaaten."
Im letzten Jahr hatte auch Emmanuel Todd in seiner seltsamen Schrift Weltmacht USA. Ein Nachruf die These erhoben, dass "mit dem Verweis auf die al-Quida jede Strafaktion an jedem beliebigen Ort der Erde und zu jedem beliebigen Zeitpunkt" gerechtfertigt wird. Der "Terrorismus", in Anführungszeichen, die Erhebung des "Terrorismus" in "den Status einer universellen Kraft institutionalisiert einen permanenten Kriegszustand auf dem gesamten Planeten." Es sind selbstredend die USA, denen "daran gelegenen" ist, "ein bestimmtes Niveau internationaler Spannungen zu erhalten, einen begrenzten, aber endemischen Kriegszustand".
Der "Terrorismus" oder auch "die Rede vom weltweiten Terrorismus" diene nur den USA dazu, ihre globalen Einsätze zur Unterdrückung der Welt zu rechtfertigen, wenn man sich jedoch "den tatsächlichen Zustand der Welt anschaut, gibt es keinerlei soziologische und historische Rechtfertigung für die Rede vom weltweiten Terrorismus". Wir können also aufatmen und wieder nach Bali oder Djerba reisen. Danke Emmanuel Todd.
Von dem, "was man dunkel den '11. September' nennt", jener "theatralischen Medieninszenierung", kommt auch Derrida schnell zur Behauptung, die USA und ihre Alliierten, diese "hegemonialen Staaten", führten einen globalen Nicht-Krieg gegen einen nicht identifizierbaren Feind. Es klingt, als gäbe es den "Terrorismus" nur in Gestalt amerikanischer "Rhetorik" und ihrer "kriegerischen Mobilisierungen".
Der permanente Kriegszustand, von dem Todd spricht, schafft den Unterschied zwischen Krieg und Frieden ab. Mit der weltweiten Intervention der unbedingten Souveränität gegen den beliebigen Feind ist auch das Ende des Staates gekommen. Nicht nur kann zwischen Innen- und Außenpolitik nicht länger unterschieden werden (wie Virilio oder Clinton schon vor Jahren behaupteten), wenn die ganze Welt zu einem Interventionsraum eines "supermächtigen" Hegemons geworden ist, auch der für den alten Nationalstaat wesensmäßige Kriegsbegriff verliert seinen Sinn.
Mit dem "klassischen Krieg zwischen Nationen", die sich gegenseitig als ebenbürtige Feinde behandeln, ist es vorbei (das wissen sogenannte "Bodin- und Hobbes-Spezialisten" freilich schon seit Jahrzehnten). Mit dem Krieg nach "gutem alteuropäischen Recht": also der Trennung von Kombattanten und Zivilisten ebenfalls. Im permanenten Ausnahmezustand ergreift ein unbedingter Souverän dank seiner schieren Macht beliebige Maßnahmen, die sich "jeder begrifflichen Unterscheidung für immer entziehen: nämlich Armee oder Polizei in Operationen einzusetzen, die sich als Krieg, Bürgerkrieg, Staatenkrieg oder Partisanenkrieg, als friedenserhaltende Maßnahme oder auch als Staatsterrorismus ansprechen lassen."
Muss man hier noch darauf hinweisen, dass Derrida wiederum Schmitt ausschreibt? Wenn man aber Polizei und Armee, Krieg und Frieden, "militärisch und zivil" nicht mehr unterscheiden kann, ist vom Ende des Staates auszugehen. "Dieses Ende des Kriegsbegriffs mag alles bedeuten, nur nicht Frieden", schreibt Derrida mit Recht - und wiederum mit Schmitt. Den neuen Zustand könnte man einen globalen Nicht-Krieg nennen.
Der Feind ist nicht länger ein Nationalstaat mit fest umrissenen "Territorium" und einer identifizierbaren Armee, sondern virtuell überall. Er ist der Schurke, der überall und in jeder Gestalt auftreten kann, den der Souverän überall nach eigenem Ermessen verortet und der überall und mit allen Mittel zu bekämpfen ist. Das Resultat dieser "autoimmunitären" Globalisierung: der Weltbürgerkrieg. Es ist auch deshalb ein Weltbürgerkrieg, weil dies ein totaler, globaler Krieg ist, der jeden zwingt, Partei zu ergreifen.
"No nation can be neutral in the struggle between civilization and chaos", formulierte Präsident Bush dieses neue Vae Neutris im August auf der 85th American Legion Convention. "Our only goal, our only option, is total victory in the war on terror." Wer wird diesen ungehegten Krieg gewinnen, wenn nicht der Stärkere? Daran, ob der Stärkere neben seiner Stärke noch ein anderes Recht hat, zweifelt Derridas Essay.
Die unzähligen Kollateralschäden des Krieges gegen den Terror - rechtliche, materielle, humanitäre - machen es leicht, Derridas Zweifel zu teilen, doch muss man deshalb nicht unbedingt die amerikanischen Reaktionen auf die tödlichen terroristischen Attacken als "betäubendes Getöse" einer "wild herumfuchtelnden bewaffneten Rhetorik" denunzieren. Dass Derrida seine Vorwürfe gegen die USA ausgerechnet mit einer Verallgemeinerung relativiert, jeder "Einsatz staatlicher Macht ist ursprünglich exzessiv und missbräuchlich", macht sie nicht plausibler.
Das Schweigen der Lämmer
1759 hat auch Lessing eine Fabel erzählt über einen Wolf, der versprach, nur tote Schafe zu fressen.
Spare der Worte! sagte der Schäfer. Du müsstest gar keine Schafe fressen, auch nicht einmal tote, wenn ich dein Feind nicht sein sollte. Ein Tier, das mir schon tote Schafe frißt, lernt leicht aus Hunger kranke Schafe für tot, und gesunde für krank ansehen.
Gesunde willkürlich für krank zu erklären und Kranke für tot, ist die Macht der unbedingten Souveränität. Aus Beliebigen schafft der Souverän nach Belieben den Anderen, den er dann frisst. Der Wolf ist eben doch ein Schurke. Prinzipiell. Lessings Wolf allerdings muss abrücken, ohne sich an der Herde gütlich getan zu haben. Er ist ausgeschlossen worden, gewiss, aber die Alternative hätte den Lämmern kaum gefallen. Sie kommen allerdings nicht zu Wort.
Jacques Derrida: "Schurken". Suhrkamp: Frankfurt/Main 2003. 220 S., € 24,90