Vision reloaded: Das spätaufgeklärte Europa der Philosophen

Vom angezettelten zum verzettelnden Diskurs einiger Meisterdenker

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Seit dem Irak-Krieg muss bekanntlich Carl Schmitts Kernaussage neu formuliert werden: Der Freund ist die Frage unser eigenen Gestalt. Die Bemühungen um eine europäische Verfassung, die eine politisch handlungsfähige transnationale Gemeinschaft projektieren soll, stehen im Zeichen der beispiellosen Zerwürfnisse der USA mit den europäischen Freunden. Wer heute von europäischer Zukunft spricht, kommt nicht umhin, das Selbstverständnis Europas zu Bushs Amerika hegemonialer Prägung zu bestimmen.

Nun schalten sich erneut Meisterdenker verschiedener Gewichtsklassen in diesen offenen Streit ein, der durch Bushs unerwartetes Händeschütteln mit Bundeskanzler Gerhard Schröder längst nicht beigelegt ist.

Das diskursive Aufschlagspiel für ein zukunftstaugliches Europa haben Jürgen Habermas und Jacques Derrida am Wochenende in der FAZ, Richard Rorty in der SZ begonnen. Weitere Meisterreflexionen über die Zukunft Europas sind angekündigt. Habermas trommelt bereits seit einiger Zeit für eine europäische Verfassung (Europa: (ver)fassungslos?), die vom besseren Erbteil der Aufklärung zehrt und die Tugenden des herrschaftsfreien Gesprächs zum transnationalen Selbstverständnis europäischer Völker macht.

Noch eine Geste

Habermas' Kollaboration mit Derrida muss auf den ersten Blick verwundern, weil das Verhältnis zwischen dem rationalistischen Diskurstheoretiker und den diversen Vertretern der Postmoderne, zumal den schwergängigen, wenn nicht obskurantistischen Dekonstruktivisten, eher eines der Sprachverweigerung bzw. Kommunikationsschwäche zu sein schien. Die über den gemeinsamen Kurs gegen den angloamerikanischen Irak-Krieg neu entdeckte deutsch-französische Freundschaft affiziert nun also auch die Philosophen.

Der von der FAZ vorgelegte Essay "Unsere Erneuerung" ist aber auch nicht mehr als eine Geste in einer verästelten Europa-Konstruktion, die nicht gerade an Gesten, sondern an Taten arm ist. Derrida hat also den habermasianischen Essay im Wesentlichen umzirkelt, denn dessen Diktion ist diskursiv verfassungspatriotisch mit einigen Einsprengseln französischen Differenzdenkens. Wer nun, wenn schon nicht den Stein der beiden Weisen, so doch zumindest ein Europa-Konzept erwartet, das sich von der politischen Sonntagsfaçon abhebt, wird enttäuscht.

Das Dilemma der europäischen Vision sehen die beiden Meisterdenker darin, dass die europäischen Errungenschaften längst kein "proprium" Europas mehr sind, sondern das viel größere Feld des "Westens" prägen. Will sagen: Für ein länder- und kontinenteübergreifend eingesetztes Betriebssystem begeistert man sich nicht, man wendet es eben an - oder nicht. Also sucht man nach einer Identität, die sich nicht mehr allein im allgemeinen Rekurs auf die hehren Werte des Westens erschließt. Für diese Vision gilt:

Heute kann sie nur aus einem beunruhigenden Gefühl der Ratlosigkeit geboren werden... Und sie muss sich in der wilden Kakofonie einer vielstimmigen Öffentlichkeit artikulieren.

Die "aufgeklärte Ratlosigkeit" beschreibt auch keine ganz neue Qualität (Aufgeklärte Ratlosigkeit), sondern eher ein altes Europa-Dilemma, dass die wilde Kakofonie nicht zu einem viel-harmonischen Konzert mit einem demokratisch gewählten Dirigenten werden will. Insbesondere der von Habermas herausgestellte Auftritt der "Acht", die Bush für seinen völkerrechtswidrigen Krieg eine Ergebenheitsadresse spendeten (Die Achse des neuen Europa konstituiert sich), wird ja zu Recht als beredtes Zeichen, wenn nicht als einer von vielen Dolchstößen für die europäische Sache gewertet. Europa lebt mindestes so sehr von Konflikten wie von Gemeinsamkeiten, ohne dass diese Konflikte einfach als fruchtbare Diskurse schön geredet werden könnten.

Anämische Vision der Nichtvision

Vor allem scheint es, als habe der Begriff der "Vision" selbst inzwischen kategorial so sehr gelitten, dass es sich auch bei seiner philosophischen "Erneuerung" eher um eine anämische Vision der Nichtvision handelt. Was also haben die beiden so verschiedenen Denker an konkretisierbarer, handlungsorientierter Gemeinsamkeit gefunden? Habermas und Derrida plädieren für ein Kerneuropa, das als avantgardistische Lokomotive dem großen Resteuropa voranfahren soll und mit eben den Ideen angeheizt wird, die Europas gemeinsame Wertewelt bestimmen. Telepolis-Leser konnten diese Vision bereits Tage vor ihrer philosophischen Grundierung studieren. Denn dieser Ansatz übernimmt weitestgehend die Konzeption von Außenminister Joschka Fischer, der expressis verbis von der avantgardistischen Lokomotive sprach (Europäischer Gleichgewichtssinn).

Früher war die Philosophie die Magd der Theologie. Ist sie heute die Magd der Politik? Hätten wir von Philosophen nicht einen kühneren Entwurf einer transnationalen Republik des Geistes erwartet, die sich über europäische Kleinstaaterei, Nationalegoismen, ethnische wie religiöse Vorurteile majestätisch erhebt? Unter Avantgardismus verstand man jedenfalls in Europa zuvor etwas fundamental anderes. Darunter firmierten jene wild entschlossenen bis anarchischen Kunst- und Kulturstürmer, die die überlieferten Behäbigkeiten der Bürgerkultur mit revolutionärem Geist wegspülen wollten. Sie waren erfolglos bis zu ihrer Beerdigung im Museum - aber visionär!

Festtagsreden

Die avantgardistische Lokomotive Kerneuropas ist dagegen kein im philosophischen Windkanal entwickeltes schnittiges Gefährt, das den Enthusiasmus der wankelmütigen Gefährten bei der Fahrt ins Ungewisse befördern könnte. Habermas bezieht die jüngsten Erfahrungen in der Abgrenzung Europas von Amerika auf das alte Ziel einer stärkeren Völkergemeinschaft als jene, die im UN-Sicherheitsrat die angloamerikanischen Weltvermachtungsansprüche nicht stoppen konnte. Alles richtig - aber visionär?

Eine Vision, die den beiden Chefdenkern angelegen ist, entsteht nicht allein dadurch, dass man über sie spricht, sondern dass sie greifbar wird - in Handlungen, in Texten, in Gesprächen. Visionen müssen nicht antidiskursiv sein oder gar gefährlichen Mythen folgen, aber ohne ein starkes Gefühl, das selbstgewiss und motiviert Zukunft gestalten will, geht es nicht. Man kann sich kaum vorstellen, dass die französische Revolution von 1789 an einem großen Tisch erfunden worden wäre und die grenzenüberschreitenden Parole "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" als Ergebnis eines diskursiv abwägenden Gesprächs entstanden wäre.

Wenn Jürgen Habermas von "Diskurs anzetteln" spricht, klingt das ohnehin immer so, als sei dieser bereits zuvor in Frankfurt gebrauchsfertig abgeschlossen worden. Wie die europapolitische Ernüchterung eines komplexen Philosophiestrangs, der maßgeblich von Derrida repräsentiert wird, klingt auch diese Feststellung:

Auch die Anerkennung von Differenzen - die gegenseitige Anerkennung des anderen in seiner Andersheit - kann zum Merkmal einer gemeinsamen Identität werden.

Nur sollte man - wider dekonstruktivistische Anmutungen - meinen, dass der Anerkennung einer Differenz bereits eine Identität vorgelagert ist und nicht als Folge identitätsloser Differenzen entstehen kann. Positionslosigkeit als Position (Wo ist Europa?)? Das ist alles sehr vage, abwägend, unemotional formuliert und unterscheidet sich von der typischen europäischen Festtagsrede allenfalls in der Diktion.

Den Fehdehandschuh von Bush II. aufnehmen

Vielleicht sollte man also weniger von Visionen reden - und stattdessen von Macht. Richard Rorty, der zeitgleich in der SZ über Demütigung oder Solidarität räsonniert, fordert den konsequenten europäischen Widerstand gegen amerikanischen Unilateralismus, amerikanische Hegemonie und Bushs Abenteurertum. Rorty visioniert außenpolitische Initiativen, "auf die Washington mit fassungsloser Empörung reagieren wird".

So könnte also in der Tat die eigentliche weltpolitische Verantwortung bei Europa und nicht bei Amerika liegen, das so endgültig wie irreal unter Bushs Führung glaubt, bereits in der Nachgeschichte angelangt zu sein, die nur noch ein Imperium und dessen Friedens- wie Kriegsbedingungen kennt - und das auf ewig. Und auch wenn Habermas und Derrida noch reichlich erhaben von der kosmopolitische Ordnung auf der Basis des Völkerrechts reden, die gegen konkurrierende Entwürfe zu verteidigen und voranzubringen sei, heißt das im politischen Alltagsgeschäft doch nichts anderes, als den Fehdehandschuh aufzunehmen, den Bush II. in die globale Arena der Völkergemeinschaft geworfen hat.

Hier geht es um Macht, die man hinter der unverbindlicheren Kategorie "Vision" verstecken mag. Amerikanische Falken werden ohnehin kein Übersetzungsproblem haben, auch die Sprüche aus der transnationalen Gelehrtenrepublik als Kampfansage zu verstehen. Dass diese künftige Auseinandersetzung zwischen Amerika und Europa annäherungsweise den Konditionen eines herrschaftsfreien Diskurses folgen wird, wird niemand erwarten. Handeln wir also lieber zukünftig über Macht, so wie Michel Foucault die Probleme der Macht begreifen wollte: im Sinne der konkreten Bedingungen ihrer Ausübung.

Der von Habermas vertretene Fundamentalanspruch des Gesprächs hat sich im Falle von Bush, Blair und den amerikanischen Falken als völlig fruchtlos erwiesen. Wenn inzwischen nach Paul Wolfowitz' originellen Einblicken selbst Colin Powell und Jack Straw mehr oder weniger zugeben, das Gespräch im UN-Sicherheitsrat mit unlauteren Mitteln geführt zu haben, ist es um die Geltungsansprüche des herrschaftsfreien Gesprächs äußerst schlecht bestellt. Alle Äußerungen Washingtons und Londons stehen inzwischen unter dem Vorbehalt rein strategischen Handelns.

Versöhnungsgesten, ob nun freiwillige oder aufgedrängte, würden diese Sprachlosigkeit nur kaschieren, die regelmäßig bei Amerikas Falken in Empörung und antieuropäische Ressentiments umschlägt. Oder wie sollen Bushs und Don Rumsfelds Provokation verstanden werden, osteuropäischen Ländern Avancen zu machen und "Alteuropa" dagegen bestrafen oder ignorieren zu wollen? Wer wie Bush seine Appelle an die europäischen Freunde im Wesentlichen nur nutzt, um Spaltungstendenzen zu fördern, kann kein wahrer Freund Europas sein, so sehr er Feiertagsauftritte auch nutzt, das in aller gebotenen Ambivalenz zu bekräftigen (Mit Sicherheit unsicher).

Alles das gilt selbstverständlich nur auf Widerruf. Richard Rorty ist unbedingt darin zu folgen, dass das hegemoniale Auftreten der Bush-Regierung ein kontingenter "Unglücksfall" sein könnte, der das amerikanische Verhältnis zu Europa nicht endgültig beschreibt. Bis auf weiteres müssen wir aber mit diesen visionsschwachen Wirklichkeiten leben, die noch weit von Immanuel Kants "Hoffnung auf eine Weltinnenpolitik" (Habermas) entfernt zu sein scheinen.