Europäischer Gleichgewichtssinn
Wie viel Nationalität verträgt ein politisch starkes Europa?
Zwischen nüchternen Erwartungshaltungen und persönlichem Wunscheuropa liegen wohl ähnliche Welten wie zwischen der bürokratischen Bürgerferne in Brüssel und politischen Sonntagsreden, die Europas Identität, die gemeinsamen Tradition beschwören. Gewiss, Europa ist mehr als eine kulturell-kulinarische Erlebnisgesellschaft zwischen Paella, Pizza, Weißwurst, hot dogs oder haute cuisine, aber längst nicht das furiose "Ende der Weltgeschichte", von dem Hegel sprach.
Nach Jahrhunderte langen blutigen Fehden beruft man sich auf das kollektive Gedächtnis, entdeckt die transnationale Werte- und Traditionsgemeinschaft aus individuellen Freiheitsrechten und parlamentarischer Demokratie. Ein emphatisches Europabewusstsein der Bürger, das sich in einem einheitlichen europäischen Grundgesetz (Werner Weidenfeld) niederschlägt, verbindet sich damit indes noch lange nicht. Anlässlich von Donald Rumsfelds törichter Differenzierung von Alteuropa und dem Europa der Erweiterung plakatierten die T-Shirts: "Ich bin stolz, ein alter Europäer zu sein". Doch dieser Stolz, der gerade kein Nationalstolz sein will, sondern eine alteuropäische Wertegemeinschaft reflektiert, markiert längst keine identisch starke Position, sondern grenzt sich vor allem gegenüber dem so nationalstolzen wie machtverliebt überheblichen Amerika ab.
"Herzlich willkommen beim Forum des Auswärtigen Amts zur 'Zukunft Europas'! Was erwarten Sie von Europa? Wie sollte 'Ihr' Europa aussehen?"
Abgrenzung immerhin ist eine europäische Tradition. Ob nun gegen die Araber bei Tours und Poitiers, gegen die Mongolen oder Türken, oder schließlich gegen die Tyrannen Hitler und Stalin, immer entstand das europäische "Wir-Gefühl" im Widerstand gegen Bedrohungen, "nie für etwas" (Hagen Schulze). Ein mächtiges Europa als Gegengewicht zu einem Amerika hegemonialer Prägung hat mit den jüngsten Entwicklungen, den Differenzen im Kampf gegen Terrorismus und Schurkenstaaten, an Attraktivität gewonnen. Doch anlässlich dieses Streits demonstrierte sich andererseits die Uneinigkeit Europas Nicht nur operierten Franzosen und Deutsche gegen Briten und Spanier, sondern auch diverse osteuropäische Ergebenheitenadressen an Bushs Amerika präsentierten exemplarisch das politisch schlecht vernähte patchwork Europas.
Vereinigte Staaten von Europa?
Inzwischen geht es um die Frage, wie aus dem erweiterten Europa mehr als ein wirtschaftliches Zweckbündnis werden könnte, sondern eben eine politisch handlungsfähige Einheit, die nationale Interessen gleichermaßen respektiert wie beschränkt. Eine Identifikation europäischer Verfassungspatrioten mit diesem Gemeinwesen wäre viel schwerer herzustellen, als es den Nationalstaaten mit deutlicher konturierten Eigeninteressen gelang (Europa: (ver)fassungslos?).
Die europäische Idee, die sich auf gemeinsame Werte, Grund- bzw. Menschenrechte, Demokratie und Liberalismus zurückführt, bleibt so blässlich, weil das Pathos eines besonderen Gemeinschaftsgeistes darüber bisher kaum herzustellen ist. Der politischen Reklame für die Europaidee fehlte immer der zündende Gedanke, auch die emotionale Dimension des Einigseins zu schaffen. Die nationalen Kulturen, der so gepflegte Partikularismus der Regionen, sind eher Hypotheken als Bindungsmasse gewesen.
Dass Menschen von politischen Ideen hinweg getragen werden - oftmals in den eigenen Untergang - ist zwar keine wünschbare Perspektive, wenn man den Typus des aufgeklärten Bürgers nicht hintergehen will. Aber welche Zukunft hat ein politisch einiges Europa, das die Nationalstaaten nicht aufgeben will? Läuft es auf Umwegen schließlich doch auf die von Churchill schon 1946 so bezeichneten "Vereinigten Staaten von Europa" ohne nationale Souveränität hinaus, wenn die hinlänglich bewiesenen Schwächen und Zwistigkeiten in der Lenkung des schwerfälligen Monstrums nur so dauerhaft ausgeglichen werden könnten?
Von einem europäischen Superstaat, einer bundesstaatlich straff formierten Eurokratie will freilich niemand etwas hören. Inzwischen gibt es zahlreiche Bestimmungen die Staatlichkeit dieses Machtzwitters zwischen Bundesstaat und Staatenbund zu definieren. Der nun vorliegende Giscard d'Estaing-Entwurf Gerüst für einen Verfassungsvertrag formuliert "eine Union europäischer Staaten unter Wahrung ihrer nationalen Identität, die ihre Politiken auf europäischer Ebene eng abstimmen und die nach föderalem Modus bestimmte gemeinsame Zuständigkeiten wahrnehmen."
Außenminister Fischers avantgardistische Europa-Lokomotive
Außenminister Fischer sprach bereits zuvor vom "Gravitationszentrum" einer Staatengruppe, die einen neuen europäischen Grundvertrag schließen, der eigene Institutionen wie eine Regierung, ein starkes Parlament und einen direkt gewählten Präsidenten vorsieht. Fischer sieht darin eine avantgardistische Lokomotive für die Vollendung der politischen Integration. Und einer dieser lenkstarken Lokführer will er wohl selbst als europäischer Außenminister werden.
Doch wie will der europäische Grüne vermeiden, dass diese Lokomotive auf dem Weg zur Macht nicht an jeder nationalen Schranke so lange warten muss, bis schließlich die Kohle ausgeht oder der Fahrplan auf den St.Nimmerleins-Tag verschoben wird? Dem Außenminister schwebt eine Souveränitätsteilung von Europa und Nationalstaat vor, wie es bereits das europäische Fundamentalprinzip der Subsidiarität formuliert. Hinter der "Souveränitätsteilung" zwischen dem Europa der Nationalstaaten und dem Europa der Bürger verbirgt sich ein gewaltiges Programm, das schließlich der Regel folgen könnte: "Wasch mich, aber mach mich nicht nass."
Denn wie sollen nach Fischers Vision sowohl die nationalen politischen Eliten wie auch die diversen Öffentlichkeiten der einzigen Mitgliedsstaaten so zusammenkommen, dass von einer echten politischen Integration zu sprechen ist, ohne die allenthalben in den Mitgliedsstaaten beklagten Souveränitätsverluste nicht noch schmerzlicher und unattraktiver werden zu lassen? Fischer erklärt dazu:
"Dies alles wird aber nicht die Abschaffung des Nationalstaates bedeuten. Denn auch für das finale Föderationssubjekt wird der Nationalstaat mit seinen kulturellen und demokratischen Traditionen unersetzlich sein, um eine von den Menschen in vollem Umfang akzeptierte Bürger- und Staatenunion zu legitimieren."
Aber das klingt sehr nach einem rhetorischen Formelkompromiss - geschaffen, um europäische Zauderer zu überzeugen, und geeignet, schließlich doch mit Interessengegensätzen zu kollidieren, die durch die EU-Erweiterung noch größer werden. Dieses politische Mega-Gebilde wäre nur dann zu realisieren, wenn nationale, lokale, regionale Interessen so bescheiden blieben, wie es einem föderalen Prinzip entspricht. Um den Nationalstaat freilich wäre es in historischer Perspektive nicht schade, weil dessen Existenz immer mit dem höchsten Preis erkauft wurde. Und welchen Sinn sollte eine eigene politische Agenda der Nationalstaaten machen, wenn sich nur noch die großen Einheiten dauerhaft politisch, wirtschaftlich und militärisch durchsetzen können?
Der europäische Nationalstaat hat als politische Handlungseinheit längst abgewirtschaftet, nicht aber als ein Identitätsmoment, das immer noch die meisten Menschen weitgehend prägt. Dass ein transnationales Machtgebilde, das alle Kompetenzen an sich zieht, nur aus der Einsicht in seine politische Notwendigkeit erfolgreich sein könnte, ist zweifelhaft. Amerikas Größe etwa - im Guten wie im Schlechten - ist mehr als ein gut geschmiertes Betriebssystem der Macht, ein politisches Unternehmen reiner Funktionalität. Immer geht es, und davon ist auch die Europaidee von Anbeginn beherrscht gewesen, um die gemeinsamen Visionen, um echte oder prätendierte Mythen der Gemeinsamkeit, um Ideen, die erst die Solidaritäten der Bürger begründen, so ideologisch und temporär diese mitunter auch sein mögen.
Außendruck könnte neue Visionen entstehen lassen
Vermutlich ist also ein zukünftiges Europa auch nur im Blick auf ein Menschenbild zu definieren, von dem gegenwärtig noch niemand sagen kann, wie es aussehen könnte. Ist auf diesen aufgeklärten, rationalen Bürger zu hoffen, dem die Trennung zwischen den verschiedenen Interessenformen, zwischen seiner politischen, kulturellen und religiösen Identität gelingt? Der Politologe Werner Weidenfeld spricht von einer "balancierte(n) Schichtung...aus europäischer, nationaler und regionaler Wahrnehmung".
Ein politisch stärker formiertes Europa wäre nicht einfach der logische Schluss aus einer gemeinsamen Tradition, sondern eine neue Erfahrungsgeschichte, die wohl noch einige Zeit benötigt, um ihre eigene Bedeutung im politisch globalen Handeln zu finden. Ob dieser politische Zusammenschluss schließlich dann in einer "Nation Europa" (Hagen Schulze) mündet, mag den Visionären vorbehalten bleiben. Neue Ideen dürften dabei eine weniger große Rolle spielen als der Außendruck auf Europa, heute durch Amerika, morgen vielleicht durch andere Machtgebilde, die sich in der asiatischen oder arabischen Welt bilden könnten.
Amerika hat im Blick auf Europa nie eine eindeutige politische Linie verfolgt. Einerseits wird ein starkes Europa als vorteilhaft für die eigenen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Belange angesehen. Andererseits gilt ein solches Europa als Konkurrent, der insbesondere gegenwärtig die von Bush verschärfte Hegemonialpolitik Amerikas provoziert. Amerikas neokonservativer Anspruch könnte ein heilsamer Druck sein für einen politischen Integrationsprozess, der nicht auf ein neues Imperium "Europa", sondern auf eine imperiale Demokratie mit allen damit verbundenen freiheitlichen Momenten hinausläuft.
Auch für Europa wird es angesichts zahlreicher politischer Integrationstheorien noch viele Kämpfe um die "road-map" geben, die Fischers Kerneuropa-Lokomotive den Weg weist. Oder sollte ohnehin die Systemdynamik, dass sich langfristig größere politische Gebilde mit immer stärkeren Funktionsdifferenzierungen durchsetzen, wichtiger sein als politische Absichtserklärungen und Gemeinschaftsgeist. Auch das Europa der Bürger wäre dann nichts anderes als ein Exemplum des politischen Darwinismus in globalen Zeiten.