Läutet der Nahles-Rücktritt das Ende der Merkel-Ära ein?
- Läutet der Nahles-Rücktritt das Ende der Merkel-Ära ein?
- Neues grünes Akkumalationsmodell
- Auf einer Seite lesen
Kommentar: Die Grünen könnten die Gewinner sein
Nie hat die langjährige SPD-Politikerin Nahles so viel Lob und Respekt-Bezeugungen bekommen wie in den Stunden ihres Rücktritts. Selbst der SPD-Senior Franz Müntefering, für dessen Rücktritt die aufstrebende Jung-Sozialdemokratin Nahles 2005 mit verantwortlich war, verliert jetzt einige gute Worte über seine "Intimfeindin".
Nun gehört es in allen Parteien zum guten Ton, den Politikern, die man erst mit Intrigen weggemobbt hat, dann noch nachzurufen, dass sie ja so integer waren. Dieses Schauspiel erleben wir jetzt im Fall von Nahles, die sich bestens in Sachen parteiinterner Intrigen auskannte.
Auch die Linke keine Option mehr für Nahles
Lange Zeit galt sie als Verbündete von Oskar Lafontaine. Nachdem der die Linke begründet hatte, rätselten manche auch über einen Parteiübertritt von Nahles. Doch sie entschied sich für eine Karriere in der SPD. Dass aktuell niemand ernsthaft fragt, ob Nahles ihren politischen Weg nicht bei der Linken fortsetzen könnte und wollte, zeigt auch den Bedeutungsverlust dieser Partei.
Lafontaine wird als grantelnder Opa aus dem Saarland gerade noch zur Kenntnis genommen. Und auch Sahra Wagenknecht, die eine ähnlich mit Hindernissen versehene Karriere bei der PDS/Linke hinter sich hatte wie Nahles bei der sozialdemokratischen Schwesternpartei, hat erst einmal den Rückzug angetreten. Im Unterschied zum Fall Nahles verweigerten manche der innerparteilichen Gegner Wagenknechts sogar die Respektbekundungen beim Rückzug.
Tatsächlich gibt es einige Parallelen bei den Personalien Wagenknecht und Nahles. Beide begannen ihre Karriere in den jeweils linken Flügeln ihrer sozialdemokratischen Parteien, wurden auf dem Weg an die Spitze immer wieder von Männern mit guten Kontakten ausgebremst, eigneten sich selber gute Kontakte an und als sie schließlich an der Parteispitze waren, unterschieden sie sich kaum noch von denen, die dort vorher waren.
Dafür gaben beide ein kurzes Gastspiel und befanden sich praktisch von der ersten Stunde ihrer Wahl im Dauerclinch mit Teilen ihrer Partei. Es gelang weder Wagenknecht noch Nahles in ihren jeweiligen Parteien einen Zustand herzustellen, in dem sie die Führungsaufgaben hegemonial ausüben konnten. Es wäre eine wissenschaftliche Untersuchung wert zu erforschen, ob es daran liegt, dass Frauen noch immer, selbst wenn sie es schaffen aufzusteigen, von vor allem männlich geprägten Netzwerken bekämpft werden.
Zumindest ist auffällig, dass vor allem Wagenknecht auch aus der eigenen Partei häufig in die rechte Ecke gesteckt wurde, obwohl ihre Politik sich nur dem sozialdemokratischen Mainstream immer mehr anpasste. Auch bei Nahles fällt auf, dass ihre bekundete Abkehr von Hartz-IV, so halbherzig sie auch war, kaum im Gedächtnis ist. Dafür wird ihr vorgeworfen, was am wenigstens zu kritisieren wäre: Dass sie mal Ausdrücke gebrauchte, die in den Schulhöfen, Jobcenter-Warteräumen und Friseursalons der Republik verstanden werden.
Eine Sprechweise, die sich im Stil, nicht im Inhalt, vom manierierten Politsprech abhob, hat Nahles nichts mehr genutzt, weil die, die davon vielleicht vor 20 Jahren noch hätten angesprochen werden können, schon längst die Kopfhörer aufgesetzt und alle Politikerreden abgeschaltet haben.
Ende der Regierung Merkel?
Mit dem Nahles-Rücktritt kommt erneut die Stunde der Auguren, die nun im Kaffeesatz lesen, dass die SPD vielleicht die Koalition mit der Union verlassen könnte, die aus Bequemlichkeit fälschlich noch immer mit dem Adjektiv "groß" bezeichnet wird. Die Union gibt sich mehrheitlich staatstragend und betont, sie stehe dafür, dass alles so weitergehen muss wie bisher. Dabei weiß jeder, dass der kapitalistische Normalbetrieb auch bei einer nur geschäftsführenden Regierung weitergeht, das zeigte sich nach den letzten Wahlen.
In Belgien war die Zeit ohne amtierende Regierung noch länger. Doch auch in der Union gibt es unterschiedliche Akzente bei der Frage des Umgangs mit der SPD. Während vor allen die Unterstützer der neuen CDU-Vorsitzenden Kramp-Karrenbauer eher das staatstragende "Weiter so" ventilieren, hat der wirtschaftsnahe Flügel, der sich noch immer nicht mit der Niederlage von Friedrich Merz abgefunden hat, schon mal daran erinnert, dass die Union auch Optionen ohne die SPD habe.
Da gibt es schon einige, die in einer Einbindung der Grünen - möglichst mit der FDP - in eine neue Regierung bessere Verwertungsbedingungen für das deutsche Kapital sehen. Die SPD ist ja nun bekanntlich seit über 100 Jahren keine Gefahr mehr für das Kapital, trotzdem wurde sie von führenden Kapitalkreisen immer noch so behandelt. Selbst zaghafte soziale Zugeständnisse wurden als Zumutung empfunden.
Da teilt die SPD das Schicksal mit den ihr nahestehenden staatstragenden Gewerkschaften. Die müssen heute in manchen Branchen regelrecht darum betteln, doch als Tarifpartner auch für den Wirtschaftsfrieden sorgen zu dürfen. Trotzdem gibt es genügend Branchen, für die selbst ein braver DGB-Gewerkschaftler im Betriebsrat eine Einschränkung des Herr-im-Haus-Standpunkts ist.
Übertriebene Diskussion um Rezo-Video
In der Union sind die Machtkämpfe, die vor allem durch die Kandidatur von Merz für den Parteivorsitz offensichtlich wurden, nur vermeintlich beendet. Allein die völlig übertriebene Diskussion um das Rezo-Video zeigt, dass da manche in der Union einen Anlass suchen, Kramp-Karrenbauer die innerparteilichen Grenzen zu zeigen. Allerdings haben auch Linke der unterschiedlichen Couleur nach Kramp-Karrenbauers Rezo-Kritik gleich den großen Zensur-Hammer geschwungen.
Etwas mehr Gelassenheit und Analyse hätte doch zumindest zur Erkenntnis geführt, dass YouTuber und Influencer heute tatsächlich einen enormen Einfluss auf Menschen haben, von denen nicht nur viele Politiker träumen können. Vor dem Rezo-Aufreger hat der Kulturkritiker Guillaume Paoli einen kritischen Blick auf diese Szene geworfen.
Die gegenwärtige Gesellschaft teilt sich mehr und mehr in diese zwei Klassen: Influencer und Follower. Längst wurde vom Marketing das Potenzial von Selbstdarstellern erkannt, die auf Social-Media-Kanälen die Aufmerksamkeit ihrer Anhängerschar auf sich ziehen. So wird für die postalphabetische Jugend der alte amerikanische Traum aktualisiert: vom Youtuber zum Millionär. Vergiss das Tellerwaschen, berühmt und reich kannst du werden, indem du dein Privatleben authentisch und identifikationsstiftend öffentlich machst.
Guillaume Paoli, Verdi Publik
Später beschäftigt sich der Autor auch mit dem ambivalenten Verhältnis von Politik und Kommerz in dieser Szene:
Die meisten Influencer haben ja eine Botschaft. Sie werben zugleich für Kosmetika und Toleranz, gegen Übergewicht und Rechtspopulismus. Manchmal vermischen sich beide Anliegen. Einem AfD-Politiker kontert die prominente Influencerin Enissa Amani mit dem merkwürdigen Argument: "Meine Netflix-Gage ist dein ganzer Lebenslohn!" Neulich hat selbige Amani ihre halbe Million Instagram-Abonnenten mobilisiert, um eine Journalistin zu beschimpfen, die sie in einem Artikel verspottet hatte. Denn die Botschafter und Botschafterinnen des Guten verfügen über eine schmutzige Waffe. So wie das Führerprinzip auf Sturmabteilungen, beruht das Influencerprinzip auf Shitstorms.
Guillaume Paoli, Verdi Publik
Dieser zweifellos polemische Beitrag sollte zumindest anregen, nicht gleich von Zensur zu reden, wenn die nun wirklich einflussreiche Szene mal kritisiert wird. Seltsamerweise haben die meisten derjenigen, die jetzt gleich in den Kampf für die angeblich von Zensur und Schlimmeren bedrohten YouTuber in die Schlacht ziehen, gar nicht bemerkt, dass ein linkes Internetforum wie Indymedia Linksunten tatsächlich seit fast zwei Jahren in Deutschland verboten ist.
Würde nur ein Bruchteil der zensurkritischen Verve, die bei der Diskussion um das Rezo-Video deutlich wurde, auf ein tatsächlich zensiertes Medium abstrahlen, wäre das Verbot vielleicht schon Geschichte. Doch solch grundlegende Widersprüche, bei denen man sich auch mit den Staatsapparaten anlegen müsste, werden in der Gesellschaft kaum diskutiert.