Läutet der Nahles-Rücktritt das Ende der Merkel-Ära ein?

Seite 2: Neues grünes Akkumalationsmodell

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Selbst die Klimadebatte führt bei der Mehrheit der Aktiven nicht zur Hinterfragung einer Gesellschaft, die Mensch und Natur vernutzt, sondern zum Ruf nach Klimarettung und Klimanotstand. Staat und Politik werden so in die Pflicht genommen und maßgebliche Vertreter des deutschen Kapitals sehen in einer Umstellung auf scheinbar klimafreundliche Produkte eine große Chance für den Standort Deutschland. Daher ist für sie ein Regierungseintritt der Grünen keine Drohung, sondern eine Chance.

Sie sehen im technokratischen scheinbar garantiert ideologiefreien Regierungsstil der grünen Wirtschaftssenatorin Ramona Pop ein Modell auch für die Bundesregierung. Denn auch bei ihr heißt "ideologiefrei" "nah an den Wirtschaftsinteressen", wie Pop in einem Taz-Interview deutlich machte.

taz: Easyjet bietet seit Anfang Mai eine Direktverbindung Berlin-Sylt an. Dagegen müssten Sie als Grüne eigentlich protestieren.

Das ist nicht politisch zu entscheiden. Die Airlines legen selbst fest, welche Strecke sie anbieten, was für sie wirtschaftlich ist. Aber hier würde mich tatsächlich die Flugscham packen.

Ramona Pop, Taz

Der Flugscham ist für die grüne Seele, aber an Regularien für die Airlines denkt die Politikerin der Grünen nicht.

taz:Als Wirtschaftssenatorin sind Sie auch für Tourismus zuständig. Die wachsende Zahl von Flügen hat zur Folge, dass immer mehr BesucherInnen in die Stadt kommen. Viele BerlinerInnen sehen das kritisch.

Zunächst einmal: Berlin versteht sich als Stadt der Freiheit und Offenheit. Das ist wichtig, auch für die Wirtschaft. In den Digitalunternehmen sind rund 50 Prozent der Belegschaft nichtdeutscher Herkunft. Die Stadt ist mit ihrer Internationalität attraktiv und profitiert davon. Lange wurde beim Tourismus allerdings nur auf Quantität gesetzt. Das wollen wir so nicht mehr.

Ramona Pop, Taz

Auch Immobilienkonzerne haben von ihr nicht viel zu befürchten. Stellt Pop doch klar, dass sie keinesfalls - wie Teile ihrer Partei - das Volksbegehren "Deutsche Wohnen und Co. enteignen" unterstützt:

taz: Es macht Ihnen Probleme, als Wirtschaftssenatorin mit dem Schlagwort Enteignung in Verbindung gebracht zu werden.

Das Schlagwort Enteignung kommt im grünen Beschluss des Landesausschusses überhaupt nicht vor. Im Gegenteil: Darin steht, dass man in so eine Situation gar nicht geraten will, weil sie eine Polarisierung bewirkt. Die Welt ist nicht immer schwarz und weiß. Wir Grüne bieten komplexere Antworten als: Bist du dafür oder dagegen? Das finde ich auch angemessen angesichts der komplexen Problematik. Alle wären gut beraten, die Debatte zu versachlichen und Lösungen zu finden.

taz: Wirtschaftsvertreter sagen, Sie hätten sich mit der Unterstützung des Volksbegehrens für Ihren Job disqualifiziert.

Ich bedaure es, dass man auf so einer symbolischen Überschriftenebene miteinander spricht. Ich würde mich über eine differenziertere Debatte freuen. Wir müssen uns alle Gedanken darüber machen, warum Menschen überhaupt so verzweifelt sind, dass sie anfangen, Unterschriften für ein solches Volksbegehren zu sammeln. Wenn der Eindruck entsteht, dass der Staat handlungsunfähig ist und die Menschen in zentralen Lebensbereichen nicht mehr absichern kann, dann ist das auch eine Gefahr für die soziale Marktwirtschaft und die Demokratie an sich.

Ramona Pop, Taz

Droht mit den Grünen eine Agenda 2020?

Allein, dass eine Politikerin der Grünen Menschen, die von einem demokratischen Grundrecht Gebrauch machen und Unterschriften für ein Volksbegehren sammeln, als verzweifelt bezeichnet, qualifiziert sie in den Augen der Immobilienwirtschaft. Vor einer solchen Partei haben sie keine Angst, sie wünschen sich vielmehr, dass die schnell mitregieren kann. Getragen auch von Teilen der Bevölkerung scheinen die Grünen zurzeit auf einer Erfolgswelle zu schwimmen, die sie sogar zur Kanzlerpartei machen könnte.

Daher werden die Grünen auch nicht ohne Neuwahlen in die Regierung wechseln. Da wird es noch einige Kontroversen mit den anderen Parteien geben. So ist auch noch nicht ausgemacht, ob mit dem Nahles-Rücktritt auch die Ära Merkel zu Ende ist. Die SPD hat schließlich in Gestalt von Martin Schulz nach der letzten Wahl den Gang in die Opposition angekündigt, um dann mit der Union weiter zu regieren.

Ob die Basis es noch wagt auszusteigen, ohne dass eine erkennbare andere Machtoption oder auch nur ein Konzept für eine Opposition vorliegt, muss bezweifelt werden. Erst einmal geht in der SPD der große Streit weiter, wer für die Demontage Nahles verantwortlich ist und wer sie beerben soll. Dass auch einige einen schnellen Koalitionsaustritt favorisieren, sagt noch nichts über die realen Mehrheitsverhältnisse in der Partei auf den unterschiedlichen Ebenen.

Schließlich gab es ja die entschiedenen Gegner eines Weiterregierens nach den letzten Wahlen und die verschaffen sich jetzt wieder Gehör. Es kann aber sein, dass die SPD so handlungsunfähig wird, dass mit ihr keine Regierung mehr geführt werden kann. Dann könnte es zu Wahlen kommen und die Grünen dürften die Gewinner sein. Darauf sollten wir uns mittelfristig auf jeden Fall einstellen.

Denn wichtiger als die Personalie Nahles ist, dass hinter der liberal-grünen Kooperation, die seit Jahren von Publizisten herbeigeschrieben wird, ein bestimmtes kapitalistisches Akkumalationsmodell steht, dass von ihren Befürwortern wie dem Taz-Kommentator Peter Unfried als sozial-ökologische Modernisierung bezeichnet wird.

Was das für einen Großteil der einkommensschwachen Bevölkerung bedeutet, ist erst in Umrissen bekannt. Immer häufiger wird in Kommentatoren oder auch in Leserbriefen gefordert, auf Arbeiterrechte und "Sozialklimbim" weniger Rücksicht zu nehmen. Droht da nach der Agenda 2010 eine Agenda 2020?