Latente Fingerabdrücke können nicht zur zweifelsfreien Identifizierung verwendet werden
Ein von der AAAS, der weltweit größten wissenschaftlichen Gesellschaft, in Auftrag gegebener Bericht kommt zu dem Schluss, dass die Daktyloskopie keine wissenschaftliche Grundlage für Rechtssicherheit besitzt
Seit fast 120 Jahren werden Täter anhand ihrer Fingerabdrücke überführt. Die Daktyloskopie gilt als zuverlässige biometrische Identifizierung. In Deutschland wurde sie 1903 eingeführt, 1952 wurde mit einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs der Beweiswert der Daktyloskopie im Strafverfahren uneingeschränkt anerkannt. In den USA werden seit 100 Jahren Fingerabdrücke als Beweismittel verwendet, auch für Todesstrafen. Weiterhin ist der Fingerabdruck weltweit eine der am meisten verwendeten forensischen Methoden zur Identifizierung von Personen.
Umstritten war der Fingerabdruck als Beweismittel immer einmal wieder. Jetzt sät ein Bericht einer von der American Association for the Advancement of Science (AAAS) eingesetzte Arbeitsgruppe neue Zweifel. Danach sei wissenschaftlich nicht haltbar, dass sich mit Fingerabdrücken nur eine einzige Person identifizieren lässt. Danach dürften sie eigentlich auch vor Gericht nicht als unbezweifelbares Beweismittel zur Identifizierung einer einzigen Person verwendet werden.
Der Statistiker Joseph Kadane, einer der Autoren des Berichts von der Carnegie Mellon University, erklärt: "Unsere Durchsicht der wissenschaftlichen Veröffentlichungen ergab, dass es keine wissenschaftliche Möglichkeit gibt, die Zahl der Menschen in einem Gebiet - in einer Stadt, einem Staat, einem Land oder der Welt - abzuschätzen, die die gefundenen Merkmale gemeinsam haben. Daher gibt es keine wissenschaftliche Grundlage der Identifikation." Nach dem Bericht liegen nicht genügend Daten vor, um sagen zu können, wie einzigartig bestimmte Fingerabdruckmerkmale sind. Deswegen sei es wissenschaftlich nicht statthaft zu behaupten, man habe "die Menge der Quellen auf eine einzige Person verengt".
Angestoßen wurde die Untersuchung durch einen Bericht des National Research Council aus dem Jahr 2009, in dem festgestellt wurde, dass die "meisten forensischen Disziplinen keiner strengen wissenschaftlichen Überprüfung unterzogen wurden". Die Gerichte hätten auch keine konsistenten und klaren Maßstäbe für die Anwendung einer wissenschaftlich gültigen Argumentation und einer verlässlichen Methodik in Kriminalfällen". Überdies würden vielfach in forensischen Gutachten subjektive Beurteilungen und Interpretationen gemacht, "wissenschaftliche forensische Experten" neigten zudem zu "kognitiven und kontextuellen Vorteilen", die forensische Wissenschaftlergemeinschaft habe diese Probleme nicht wirklich aufgegriffen. Zwar seien mit Fingerabdrücken Straftäter überführt worden, die sonst nicht hätten belangt werden können, aber fehlerhafte forensische Wissenschaftsanalysen hätten auch zu Verurteilungen von unschuldigen Menschen geführt.
Kritisch werden daher automatisierte Fingerabdruck-Identifizierungs-Systeme (AFIS) gesehen. Die Forschung habe gezeigt, dass Vergleiche mit allen 10 Fingern (ten-print to ten-print identification") sehr genau seien, wenn alle Finger gerollt oder gedrückt werden. Sehr viel weniger genau sei AFIS für latente Fingerabdrücke, hier seien Forseniker genauer, aber zum Abgleich vieler Fingerabdrücke sei AFIS dennoch notwendig. Eines der Hauptprobleme sei aber, dass die Firmen, die AFIS entwickelt und vermarktet haben, die Details, wie die Systeme arbeiten, als Geschäftsgeheimnisse betrachten. Daher hätten Wissenschaftler Schwierigkeiten, die Richtigkeit bestimmter Ergebnisse zur Identifizierung von einer einzigen Person zu beurteilen oder festzustellen, wie und warum diese Systeme zu falschen Ergebnissen kommen. Dazu kommt die Schwierigkeit, dass mehrere AFIS-Systeme auf dem Markt konkurrieren und es fraglich ist, inwiefern sie kompatibel sind.
Es gebe zwar Ansätze für quantitative Methoden zur Beurteilung von Fingerabdrücken als Beweismittel. Die seien aber noch nicht gerichtstauglich und müssten dringend weiter entwickelt werden. Als sehr wichtig erachten die Autoren die Entwicklung von Vorgehensweisen, um sicherzustellen, dass die Fingerabdruckexperten nicht durch Wissen von außen in ihrer Analyse beeinflusst werden, gleich ob es etwa um die vorzeitige Kenntnis von Referenzfingerabdrücken oder um Informationen aus der kriminalistischen Untersuchung geht. Gerade bei zweifelhaften Fällen könnten solche inkorrekten Vorannahmen, die den Experten nicht bewusst sei, eine Rolle spielen. Dazu kommt ein unbekanntes Ausmaß an Fehlern, die die Experten beim Vergleich von Abdrücken machen. Auch hier fehlt es an Kontrollen und Untersuchungen über die Wahrscheinlichkeit von Irrtümern.
Forensiker für latente Finderabdrücke würden traditionell behaupten, sie könnte damit mit hundertprozentiger Genauigkeit die Person identifizieren, von denen sie stammen, die Öffentlichkeit habe daher meist ein falsches Bild: "Diese Behauptungen waren klar übertrieben und werden nun weitgehend als nicht haltbar anerkannt", heißt es im Bericht. Das Justizministerium weise die Fingerabdruckforensiker weiter an, von einer "Identifizierung" in Gutachten und vor Gericht zu sprechen, aber sprachlich ein Element der Ungewissheit anzufügen. Damit setze man sich aber nicht, so der Bericht, wirklich mit dem Grad der Ungewissheit auseinander, der in der Untersuchung latenter Fingerabdrücke besteht, da dies den Forensikern erlaube, Behauptungen zu machen, die wissenschaftlich nicht haltbar sind. Allerdings sei es auch nicht besser, wenn die europäischen Forensiker nach einer Richtlinie des European Network of Forensic Science Institutes (ENFSI) den Grad der Wahrscheinlichkeit einer Identifikation angeben sollen. Dass könne nur eine subjektive Einschätzung sein. Bislang gebe es jedenfalls noch keine wissenschaftlichen quantitativen Abschätzungen der Genauigkeit von Fingerabdruckvergleichen.
Die Autoren kommen zum Schluss, dass die Aussagekraft von Fingerabdruckanalysen nicht übertrieben dargestellt werden sollten. Man könne zwar aus den Unterschieden zwischen einem bekannten und einem latenten Fingerabdruck schließen, dass die Person, der ein Fingerabdruck abgenommen wurde, als Quelle des latenten Ausdrucks ausgeschlossen werden kann, ebenso könne man aus Ähnlichkeiten schließen, dass die Person, der ein Fingerabdruck abgenommen wurde, als Quelle nicht ausgeschlossen werden kann. Aber man dürfe keine Aussagen machen, dass ein Fingerabdruck nur einer einzigen Person zugeschrieben werden kann: "Begriffe wie Identifikation, Übereinstimmung oder Individualisierung und ihre Synonyme implizieren mehr, als die Wissenschaften belegen kann."