Laudatio auf Birne
Die längst notwendige Rehabilitation von Helmut Kohl
Ich hoffte, mit meiner Laudatio einer der ersten zu sein. Doch Jakob Augstein kam mir – nicht zum ersten Mal – mit folgenden, salbungsvollen Worten zuvor. "Und wenn Gott eine Adresse hätte, müsste man ihm Dank dafür schicken, dass einer wie Kohl seinerzeit im Kanzleramt saß, der die Zeichen der Zeit lesen konnte." Solch theologische Erwägungen las man im Spiegel zu Kohls Zeiten nie. Aber Jakob ist ja auch der Sohn von Martin, nicht der von Rudolf. Augstein lobte allerdings den Europäer und Big-Spender-Kohl, nicht den Innen-, Sozial- und Kulturpolitiker Kohl. Das besorge ich jetzt.
Die Generation von Jakob Augstein (1967) und mir (1959) erlebte noch den träge dahinfließenden Wohlstandsstrom des abklingenden Wirtschaftswunders, die Kreativität der Neuen Wilden, die Harmonie, Toleranz und Freiheit der klassenlosen Gesellschaft der alten Bundesrepublik. Bis zu deren Ende mit der Übernahme der Regierung durch die autistisch-narzisstischen Tony-Blair-Verschnitte Schröder und Fischer 1998 wäre zum Beispiel niemand auf den Gedanken gekommen, auf Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger zu schimpfen oder Banker als Banditen zu verdammen.
Im Berlin der achtziger Jahre, dessen Boulevards gerade von Richard von Weizsäcker mit prächtigen preußischen Eisenleuchten re-imperialisiert wurden, galt Sozialhilfe als anerkannte Existenzform. Die Sozialämter erwarteten Quittungen für die erworbenen Haushaltsgeräte, die Möbel, die Kleidung. Ausbezahlt wurde bar an der Kasse. Im bürgerlichen Bezirk-Charlottenburg, dessen Bürgermeisterin Ingrid Stahmer mit mir die Datei der Sozialhilfeempfänger durchging, um neue Maßnahmeideen zu entwickeln, lebten zehn Prozent der Bevölkerung von Sozialhilfe.
Ich fand aber in der Kartei keinen, mit dessen Hilfe wir die Höfe der Neuen Heimat hätten begrünen und bewirtschaften können.
Studenten konnten gebührenfrei solange studieren, wie es ihre Nebenjobs und Renten, ihr Hör- und Sehvermögen zuließen. 60jährige Studenten ohne Abschluss waren zumindest im Berliner Universitätsbetrieb keine Seltenheit. Die Universität war kein Ausbildungsbetrieb, sondern eine gesellschaftliche und kulturelle Dauerperformance. Eine Art zu leben. Viele Einkommen, insbesondere die von kleinen Freiberuflern und Gewerbetreibenden, waren brutto wie netto. Keine Sozialversicherung, kein Finanzamt setzte einen unter Druck. Keine Belege verlangten nach Buchhaltung und Umsatzsteuer.
Möchte man die Ära Kohl von 1982-1998 auf einen Nenner bringen, so könnte dieser im Sinne von Friedrich dem Großen lauten: Jeder konnte nach Seiner Fasson Selich werden.
Als ich also 1985 meine Diplomarbeit am legendären Soziologischen Institut der Freien Universität Berlin schrieb, sozusagen im Headquarter der 68er Revolution, fiel mir kein treffenderer Titel ein als "Die Bundesrepublik Deutschland – Idealstaat wider Erwarten". Mein Erklärungsansatz damals: durch das konsequente Nicht-Tun (chin.: Wu-Wei) der Kohl-Regierung sei die Selbstorganisation der bundesrepublikanischen Gesellschaft derart befördert worden, dass diese eine idealstaatliche Harmonie, einen vertretbaren Status Quo, ein erwähnenswertes Tao erreicht habe, das alles andere als verdammenswert sei. Es könne nur durch eines bewahrt werden: durch fortgesetztes und andauerndes Unterlassen von Politik.
Damals konnte ich nicht wissen, dass Helmut Kohl mit Angela Merkel eine talentierte Schülerin finden würde, die dieses taoistische Regierungskonzept ebenfalls durchaus erfolgreich praktizieren würde. Auch die DDR verfügte ja über eine respektable Tradition des Nicht-Tuns, aus der Merkel und heute auch Joachim Gauck schöpfen können.
Wir Reformer mit anti-autoritärem Migrationshintergrund haben daraus gelernt, dass wir tunlichst Reformen vermeiden sollten, deren Verwirklichung von Gesetzen und gesetzlichem Zwang abhängt, die also mit der Aufhebung des kategorischen Imperativs verbunden sind. Wolfgang Schäuble konnte solch anarchistischem Treiben leider weniger abgewinnen.
Kurz vor dem Ende von Kohls Amtszeit wurde ich noch Leiter des deutschen Auslandsmarketings, das ich in einem weltweiten Projekt von den anderen, den Ausländern, definieren ließ. Diese Form der fremddefinierten Identität gefiel Kohl: 1997 verfasste er das Vorwort für mein Buch: "Marketing für Deutschland – so sehen uns die anderen."