Laufen statt surfen

Für ihr Documenta-Projekt müssen die Künstler von tsunamii.net weit laufen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Zwei Chinesen aus Singapur wandern in diesen Tagen von Kassel nach Kiel. Das tun sie nicht aus Freude am Laufen, sondern als Teil ihres Kunstprojekts Alpha 3.4, das zur Zeit bei der Documenta in der Binding Brauerei zu sehen ist. Tien Woon und Charles Lim von der Künstlergruppe tsunamii.net marschieren vom physischen Ort der documenta zu der Serverfarm, auf der die Website der Großausstellung liegt.

Im Gegensatz zur letzten Documenta, bei der Catherine David eine Auswahl von Internet-Arbeiten in einem eigenen Raum zeigt, ist bei der zwölften Documenta fast keine Netzkunst zu sehen. Wie auf dem freien Markt wurden auch in der Kunstwelt die Investitionen in das Internet stark zurückgefahren. Obwohl Globalisierung das Thema der Ausstellung ist, finden sich in Kassel so gut wie keine Arbeiten, die sich mit der technischen Infrastruktur auseinandersetzen, ohne die es keine Globalisierung gäbe. Von der Künstlergruppe tsunamii.net stammt eins von drei Internetprojekten, die bei der Documenta 12 zu sehen ist (Tsumani nennt man übrigens Seebeben, die Flutwellen an der Küste auslösen können). Die beiden Mitglieder von tsunamii.net wandern geduldig jeden Tag acht Stunden in Richtung Serverfarm; Ende Juni wollen sie da sein. Tilman Baumgärtel hat sie am Montagmorgen auf ihrem Mobil-Telefon angerufen, als sie gerade aus ihrem Hotel auscheckten.

Guten Morgen. Wo seid Ihr gerade?

Tien Woon: Irgendwo hinter Hamburg, ich glaube, in Elmenhorst.

Das heißt, dass Ihr zwei Drittel Eures Weges von Kassel nach Kiel für Euer Documenta-Projekt hinter Euch gebracht habt. Worum geht es bei diesem Projekt genau?

Tien Woon: Wir surfen durch das Internet, indem wir uns physisch von Kassel, wo die Documenta stattfindet, nach Kiel, wo der Server der Documenta steht, bewegen. Ein Server ist der Computer auf dem alle Daten der Website liegen, auf die man über das Internet zu greifen kann. Wir haben in Zusammenarbeit mit einer Gruppe von Programmierern ein Programm geschrieben, das "Webwalker" heißt und mit dem man durchs Internet surft, während man geht. Wir tragen einen mobilen Server, Palmtops und ein GPS System, damit sind wir die ganze Zeit online. Während wir laufen, schickt das GPS-System die Information darüber, wo wir gerade sind, ins Internet. Diese Bewegungen kontrollieren vier Monitore in der Binding Brauerei in Kassel, wo man unseren Aufenthaltsort sehen kann.

Warum wollt Ihr diese Strecke überhaupt ablaufen? Der Vorteil des Internets ist doch gerade, dass man sich nicht mehr physisch dahin bewegen muss, wo die Daten sind, die man haben will...

Tien Woon: Wir wollen das Internet als einen physischen Ort zeigen. Es geht uns nicht darum, dass Virtuelle physisch zu machen, sondern eher darum, klar zu machen, dass das Virtuelle eine physische Basis hat. Über das Internet wurde immer gesagt, dass man die Freiheit hat, sich zu bewegen, wohin man will, weil es keine Grenzen hat, dass es ortlos ist und dass es eine Art Staatszugehörigkeit im Internet gibt, die des "Netizen". Angeblich kann man sich frei bewegen und Daten sammeln. Aber in Wirklichkeit hängt all das von Hardware ab, von Kabeln und Backbones. In manchen Ländern gibt es die, in anderen nicht. Zur Zeit sind zum Beispiel viele Server in den USA, weil es da viel billiger ist. In Deutschland kann das 100 Euro kosten, eine Website zu hosten, in den USA nur 30 Dollar.

Das klingt ein bisschen nach einer Renationalisierung des Internets. Ist es nicht gerade ein Vorteil des Netzes, dass man seine Daten da lagern kann, wo man will - auch weit weg von der eigenen Regierung, die kritische Inhalte löschen oder einen deswegen vor Gericht stellen kann?

Tien Woon: Einer meiner Freunde hat seine Website in den Niederlanden, weil es da billiger ist und weil er dachte, dass Holland ein liberales Land ist. Aber was macht er, wenn da die Regierung wechselt und eine rechte Partei gewählt wird, wie es jetzt gerade geschehen ist? Es geht uns nicht um eine Renationalisierung des Internet, sondern darum, darauf aufmerksam zu machen, dass das Netz ein politisierter Raum ist. Es ist nicht mehr so offen und so frei wie zu der Zeit, als das Internet entstand.

Wart mal, mein Kollege will etwas sagen. (Gemurmel im Hintergrund.) Charles sagt, dass die Documenta-Plattformen ein gutes Beispiel dafür sind. Augenblick, ich gebe ihm mal das Telefon...

Charles Woon: Hallo, hier ist Charles...

Hallo, ich bin Tilman.

Charles Woon: Ich finde, dass die Documenta-Plattformen zeigen, was das Problem ist. Die Konferenzen, die der Documenta vorausgingen, fanden alle weit weg von Kassel statt, aber nun ist das ganze Material auf einem Server in Frankfurt abgelegt...

Ja, und jeder kann darauf zugreifen, weil das Internet ein dezentralisiertes Netzwerk ist. Sogar die Leute in Santa Lucia...

Charles Woon: Aber wenn man einen Server in Frankfurt benutzt, heißt das, dass die Daten in anderen Teilen der Welt langsamer ankommt. Und die Leute in Santa Lucia können die Video-Streams vielleicht gar nicht herunterladen. Man hätte wenigstens eine Mirror-Site dort oder in anderen Teilen der Welt aufstellen können, um das Material von diesem Server außerhalb von Europa leichter zugänglich zu machen.

Die Position des Servers betrifft übrigens auch uns. Als wir das Projekt geplant haben, war der Server der Documenta noch in Frankfurt, weil es von einer dortigen Firma gesponsert wurde. Jetzt haben sie den Server in eine Serverfarm in Kiel verlegt, weil die Telekom der Sponsor ist. Als wir das gehört haben, haben wir gesagt: "Verdammt, jetzt müssen wir viel weiter laufen." (lacht)

Zu dem Server zu laufen wirkt fast wie ein Akt der Sühne dafür, dass man heute über das Netz so leicht an Daten kommt...

Charles Woon: Naja, normalerweise soll es ja so sein, dass man selbst ein bisschen Arbeit hat, und dass dann der Computer den größten Teil der Arbeit für einen erledigt. Bei uns ist es genau anders herum: wir tun den größten Teil der Arbeit, und dann muss der Computer nur noch ein bisschen tun. Wir wollen die Technologie langsamer machen. Die Technik, und besonders Computer, werden immer schneller und schneller, und beschleunigt damit auch unser Leben. Wir wollen diese Prozess umkehren und langsamer und langsamer werden. Wenn wir von Kassel nach Kiel laufen, ist das auch ein Akt der Kontemplation.

Wandert Ihr gerne? Seid Ihr Naturfreunde, die sich darüber freuen, in Deutschland herumzuziehen zu können?

Charles Woon: Hm, eigentlich sehen wir gar nicht viel Natur. Wir sehen vor allem Verkehr. Wir müssen die Strassen benutzen, damit man uns in der Ausstellung sehen kann, denn unsere Bewegungen kontrollieren die Computer in der Binding Brauerei. Ich habe auch erwartet, dass wir unterwegs viele Leute kennen lernen, aber tatsächlich sehen wir auf der Strasse fast keine Menschen, sondern nur Autos. Es wirkt fast, als seien nur noch kleine Inseln übrig geblieben, wo Leute laufen können, und der Rest ist für Autos, Lastwagen und Züge.

Mir ist aufgefallen, dass man Euch auf dem Fotos von Euren früheren Projekten fast immer auf Bahnhöfen oder Zuggleisen sieht. Warum? Weil unter den Schienen viele Telekom-Kabel verlegt sind?

Charles Woon: Ja, und weil wir uns für verschiedene Telekommunikationstechnologien interessieren. Zuerst gab es Strassen und Telegrafen, dann Zuggleise und das Telefon, und jetzt gibt es das Netz. Zuggleise, Strassen, Bürgersteige sind vorbereitete Spuren, Strukturen, die den menschlichen Verkehr von einem Ort zum anderen leiten sollen. Und Bahnhöfe sind wie die Nodes in diesen Netzen. Wenn man geht, fühlt man die verschiedenen "Texturen" der Geschwindigkeit. Laufen, Fahren, Radfahren, Zugfahren, das sind alles auch verschiedene Geschwindigkeiten. Für uns ist das Laufen die Geschwindigkeit, die uns erlaubt, mehr von dem zu sehen, was zwischen dem Beginn und dem Ende der Reise ist. Wir erforschen, was beim Internet dazwischen ist.

Und was werdet Ihr machen, wenn ihr in Kiel bei der Firma angekommen seid, die die Documenta-Website hostet?

Charles Woon: Wir mussten lange verhandeln, um in die Serverfarm selbst hineinzukommen, aber schließlich haben wir die Genehmigung bekommen. Wir werden vor dem Servercomputer eine Webcam aufstellen, und das Bild, das die aufnimmt, wird in die Installation in Kassel übertragen. Man wird das Bild auch auf der Website der Documenta bis zum Ende der Ausstellung sehen, vielleicht sogar länger.

Wir wollen so über unser Verhältnis zum Computer nachdenken. Ich habe gesagt, dass unsere Wanderung von Kiel nach Kassel auch ein Akt der Kontemplation ist. Aber das klingt vielleicht zu sehr nach Robert Long. Das Wichtigste an diesem Happening ist nicht unser Gang als solcher, sondern der Versuch, unsere Beziehung zum Computer zu klären. (Krach im Hintergrund.)

Sagt mal, seid Ihr schon wieder auf der Strasse? Ich glaube, ich höre Autos im Hintergrund...

Charles Woon: Nein, aber wir gehen jetzt gleich los. Wenn Du willst, kannst Du ja im Internet nachsehen, wo wir jetzt sind. Und dann kannst Du dahin fahren, um uns zu treffen. (lacht)