Lautlos im Orbit?

Um die ISS ist es ruhig geworden - allerdings nur in den Medien

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Es drängt sich zunehmend der Eindruck auf, als würden unsere beiden letzten verbliebenen Astronauten nur noch auf einem Geister(-raum)schiff vor sich hin vegetieren. Doch der Schein trügt. In Wahrheit wird auf der ISS nach wie vor hart gearbeitet, dies umso mehr, weil vier Hände nun einmal weniger schaffen als sechs. Trotz aller Probleme, Finanznöte und ungeachtet der "Columbia"-Katastrophe geht der Traum von einer ständig bemannten Raumstation weiter. Gleichwohl ist für die Medien die "Station" uninteressant geworden. Vom Alltag der Astronauten im All wollen die meisten nichts mehr wissen. Für sie ist die ISS eine lautlose Station im Orbit - dies allerdings zu Unrecht.

Bilder: NASA

Für die Medien ist die Internationale Raumstation scheinbar nur noch ein Geister(-raum)schiff. Derzeit greifen nur wenige Reporter zur Feder, nur wenige renommierte Zeitungen und Zeitschriften leisten sich den Luxus, um das Geschehen über den Wolken in turnusmäßigen Abständen zu kommentieren. Kaum Extra-Beiträge, kaum Features, in denen die bisherigen Stationen der "Station" nochmals in nuce skizziert oder der kürzlich vollzogene Wachwechsel im All mit der einhergehenden Zäsur, dass fortan nur noch zwei Astronauten auf der ISS hausen, thematisiert wurde.

Das Schweigen im Blätterwald

Selbst aufgeschlossene Raumfahrt-Spezialisten, die in Bezug auf die ISS immer für ein Feature oder einen Kurz-Bericht gut waren, üben sich einstweilen in Zurückhaltung. Kehrt im All der Alltag ein, bleiben auch die Ticker der großen Agenturen dieser Welt stumm - dies scheint offensichtlich ein ungeschriebenes mediales Gesetz zu sein. Das Schweigen im Blätterwald spricht vielmehr eine deutliche Sprache.

Denn es liegt in der Natur dieses Genres, dass im Fernsehen, im Radio oder in der Yellow Press und in den Boulevard-Gazetten dieser Welt das abgehobene Thema Raumfahrt meist dann erst einen berichtenswerten irdischen Rückbezug hat, wenn sich weltraumtechnische Katastrophen oder Raumfahrer-Tragödien ereignet haben oder zumindest anbahnen: Der Presse-Rummel um den Skylab- und MIR-Absturz (vgl. Orbitales Intermezzo der Mir jetzt nur noch Geschichte) Raumstation oder der Medien-Auflauf bei dem Challenger- respektive Columbia-Unglück sind noch in (wenig) guter Erinnerung.

Auch die jüngste am 4. Mai von der Expedition Six Crew inszenierte nicht ganz so geglückte Landung war nach dem Geschmack der Medien, landete doch beim ersten Rückflug einer ISS-Besatzung mit einer Sojus-Kapsel (Soyus) dieselbige gleich 460 Kilometer vom eigentlichen Zielgebiet entfernt in der kasachischen Steppe - und der Aufprall soll dabei nicht von schlechten Eltern gewesen sein.

Mit großer Wahrscheinlichkeit ist dieser "kleine" Fauxpas nicht (direkt) auf menschliches Versagen, sondern auf eine Fehlfunktion in der Steuerung zurückzuführen. Beim Landeanflug der Kapsel Sojus TMA-1 (hierbei handelte es sich um das bisherige "Rettungsboot", das an der ISS angedockt war; jetzt dient das neue Sojus-Raumschiff, mit dem die Expedition Seven Crew geflogen ist, als Rettungskapsel) war die Computersteuerung von einer gleitenden Flugkurve auf eine ballistische Flugbahn umgesprungen; es dauerte Stunden, bis ein Bergungsflugzeug die Kapsel entdeckte. "Die Besatzung trifft keine Schuld", sagte der Vorsitzende der Untersuchungskommission Nikolai Selenschtschikow.

Immerhin geben der Start und der Flug des Sojus-Raumschiffs und die Landung der Kapsel durchaus Anlass zur Hoffnung, dass die bemannte Raumfahrt wieder aus ihren Startlöchern kommt und so langsam Tritt fasst. Schließlich war es nach der Tragödie der 'Columbia' Anfang Februar die erste bemannte Mission im All.

Vorwürfe an NASA wegen Columbia-Absturz

Mittlerweile hat auch die unabhängige Untersuchungskommission nach drei Monaten intensiver Ursachenforschung ihren vorläufigen Bericht zum Absturz der Raumfähre 'Columbia' vorgelegt. Die Ermittler, die mehr als 84.000 Teile der 'Columbia' (zirka 38 Prozent des Shuttles) mosaiksteingerecht zu einem Gesamtbild verdichtet haben, gehen davon aus, dass die Panne, die zum Absturz der Raumfähre führte, sich bereits Sekunden nach dem Start ereignete. Demnach war das Shuttle am 16. Januar dieses Jahres 81 Sekunden nach dem Start beschädigt worden, als sich ein Stück Isoliermaterial vom Außentank losriss und auf die linke Tragfläche prallte. "Die Raumfähre trat mit einem schon existierenden Problem in der linken Tragfläche in die Erdatmosphäre ein", sagte Kommissionsleiter Harold Gehman.

Das Problem war klein genug, dass die Fähre es zurück bis über Texas schaffte, aber groß genug, dass Gase in die Tragfläche gelangen konnten, die starke Hitze verursachten und schließlich zum strukturellen Versagen führten

In einer Senatsanhörung (U.S. Senate Commiteee on Commerce, Science & Transortation) hielt Gehman dem NASA-Management allerdings vor, vor dem Unglück nicht genügend zur Risikoabklärung unternommen zu haben. Kritisch merkte er an, die NASA habe es versäumt, während des Flugs der Fähre Satellitenfotos zu machen, um zu klären, ob ein Flügel beim Start beschädigt wurde. Tatsächlich hatten dies einige NASA-Ingenieure kurz nach dem Start der 'Columbia' in diversen E-Mails gefordert, da es zu dem Zeitpunkt schon Hinweise gab, dass abgelöster Isolierschaum von einem der Außentanks beim Start gegen den Flügel geschlagen war. Möglicherweise sei nicht nach genügend Optionen gesucht worden, die sieben Astronauten an Bord zu retten, so Gehman, der glaubt, dass die Astronauten vielleicht doch zu retten gewesen wären. Zu diesem Zweck hätte man die "'Columbia'" viele Tage länger im Orbit belassen müssen, um adäquate Rettungsmöglichkeiten einzuplanen.

Einen heftigen Seitenhieb musste sich die NASA zudem von einem Astronauten der ersten Stunde gefallen lassen. Kein geringerer als Walter M. Schirra, der seinerzeit zu der Gruppe der ersten sieben US-Astronauten zählte und insgesamt 295 Stunden im All weilte, gab sich zu einem Kommentar her, der an Deutlichkeit fürwahr nichts zu wünschen übrig ließ. "Ich glaube, die haben den Blick für die Sicherheit verloren", sagte dieser kürzlich bei einem Besuch des Palm Springs Air Museum in Anwesenheit von 250 interessierten Gästen. "Ich habe nie geglaubt, dass das Shuttle sicher ist. Wir haben einen Hitzeschild, der ganz gut arbeitete. Aber die Kacheln sind sehr fragil." Der Tod der sieben Raumfahrer sei vollkommen sinnlos gewesen:

Die Columbia flog hoch, um wissenschaftliche Experimente durchzuführen. Wozu haben wir dann die Raumstation? Man hätte die Columbia modifizieren müssen, damit es an die Raumstation andockt, anstatt mit all diesen Experimenten herumzufliegen

Nächster Shuttle-Start noch dieses Jahr

Eigentlich sollte der überfällige Mannschaftswechsel längst im Rahmen der geplanten Atlantis-Mission im März 2003 über die Bühne gegangen sein. Hätte aber die STS-107 Mission nicht so ein tragisches Ende genommen, wäre der auf den 26. April angesetzte Sojus-Taxi-Flug mit dem ESA-Astronauten Pedro Duque längst über die orbitale Bühne gegangen. Obgleich Duques Flug zwangsläufig nach hinten verschoben werden musste, steht inzwischen immerhin fest, dass er und sein ESA-Kollege André Kuipers, die ihr Trainingsprogramm wie geplant fortsetzen, auf jeden Fall noch zur ISS fliegen werden.

Pedro Duque wird sehr wahrscheinliche Ende 2003 starten und an Bord der Raumstation eine Reihe "lebenswissenschaftlicher" und physikalischer Experimente durchführen. Möglicherweise werden die amerikanischen Raumfähren schon Ende des Jahres wieder fliegen. Wie NASA-Chef Sean O'Keefe letzte Woche in einem Interview mit dem Nachrichtensender CNN betonte, lasse sich die US-Raumfahrtbehörde zwar nicht unter Zeitdruck setzen, da Sicherheit nun einmal Vorrang habe. Aber dennoch hoffe er, dass bis zum Ende des Jahres der nächste Shuttle-Flug zur Internationalen Raumstation startet. Trotz seiner Kritik an der NASA fordert auch Ex-Astronaut Walter M. Schirra, die bemannte Raumfahrt weiterhin voranzutreiben.

Es muss einfach weitergehen. Wenn wir jetzt ein neues Gerät bauen, wird es womöglich erst in 10 Jahren fertig sein. Die Raumstation ist dann längst Geschichte.

Über den nächsten Shuttle-Start entscheidet übrigens nicht der NASA-Chef, sondern der "neue" Leiter des Shuttleprogramm. Zum direkten Nachfolger des alten Chef, Ron Dittemore, der Ende April seinen Rücktritt bekannt gegeben hatte, ernannte die US-Raumfahrtbehörde NASA den 46-jährigen William W. Parsons, der zuvor das John Stennis-Raumfahrtzentrum in Missouri leitete. Parsons erklärte, es sei sicher nicht die beste Zeit, das Shuttleprogramm zu übernehmen. Er freue sich aber trotzdem auf die Herausforderung.

Neue Crew hat sich eingelebt

Während das altgewährte Trio der "Expedition Six Crew", die seit November 2002 an Bord im All war, jetzt wieder festen Boden unter den Füssen hat, schwebt nun erstmals ein Duo durch die Internationale Raumstation. Yuri Ivanovich Malenchenko und Dr. Edward Tsang Lu sollen auf der größten und modernsten Raumstation aller Zeiten voraussichtlich rund sechs Monate ausharren.

Nachdem die neue zweiköpfige Besatzung vor einigen Wochen noch von der "Expedition Six Crew" in ihre neuen Aufgaben zum Betrieb der Station und der Experimente an Bord eingewiesen wurde, hat der All-Tag das Duo bereits eingeholt. Die Orientierungsphase ist beendet. Was in der Theorie oder in der Simulation auf Mutter Erde noch bis zum Effeff durchexerziert wurde, setzen die Raumfahrer jetzt per manus in die Tat um. Und hierbei geht es - anders als dies die Medien mittels ihrer größtenteils spärlichen Berichterstattung suggerieren - keineswegs lautlos und gemächlich zu. Vielmehr stehen gegenwärtig Wartungsaufgaben und das Üben von Notfallszenarien wie Feuer- und Notevakuierungsverfahren ganz oben auf der Liste. Bei den Wartungsarbeiten beispielsweise konzentrierte sich das ISS-Team auf das russische Service Module Swesda (vgl. Das russische Modul Swesda ist erfolgreich gestartet), wo sie Lüftungsschläuche reinigten und zugleich eine Bestandsliste von der Ausrüstung des russischen Kommunikationssystems anfertigten. Kürzlich aktivierte die Crew auch das wissenschaftliche Experiment "Investigating the Structure of Paramagnetic Aggregates from Colloidal Emulsions" (InSPACE), das neue Flüssigkeiten analysiert, die bei der Optimierung von "irdischen" Bremssystemen, Robotern, Flugzeugfahrwerken und Vibrationsdämpfungssystemen helfen könnten.

Mit anderen Worten: Auf bzw. in der 389.5 Kilometer über der Erde schwebenden ISS wird nach wie vor geschwitzt, geschuftet, geforscht, beobachtet, dokumentiert und trainiert. Mal überprüfen Malenchenko und Lu einzelne technische Apparaturen, mal checken sie das komplette Lebenserhaltungssystem nebst Solarstromanlage, Wasserversorgung, Sonnenpaddeln etc.; mal steht das Computersystem zur Disposition, mal das tagtägliche, körperliche Training auf dem Programm und ein anderes Mal darf mit den Lieben daheim geplauscht werden. Mit ein wenig Phantasie muss man den beiden also zugestehen, dass sie binnen 24 Stunden einige Arbeitstage mehr absolvieren als wir Daheimgebliebenen, umkreist doch die "Station" die Erde 15 mal innerhalb von 24 Stunden.

Inwieweit nach 1.648 Tagen im All (Stand: 26.05.2003) aufwändigste Technikprojekt der Menschheitsgeschichte selbst im Orbit ausharren wird, steht nach all den technischen und finanziellen Problemen der jüngsten Vergangenheit auf einem ganz anderen Blatt. Derweil droht nämlich just jene Seite im Buch der Raumfahrthistorie, die von der ISS so eindrucksvoll aufgeschlagen wurde, schneller zu vergilben als vorgesehen. Denn wenn das finanzielle Loch weiter wächst, könnte die mittlerweile selbst leicht ins Trudeln geratene ISS in wenigen Jahren von demselbigen restlos verschlungen werden oder eines Tages wirklich zu einem menschenleeren Geister(-raum)schiff verkommen. Und mit Geisterschiffen lassen sich bekanntlich keine neuen Kontinente entdecken.