Law-and-Order und Wahlkampf mit Einwanderung

Französische Regierung umwirbt rechtsextreme Wähler

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Grenze zwischen Konservativen und Rechtsextremen in Frankreich ist mitunter porös. Zwar bestehen zwischen den Erben des Gaullismus und jenen des historischen Faschismus kaum überbrückbare Differenzen hinsichtlich der Geschichte. Ob es um die Bewertung der Kollaborationsvergangenheit oder auch um jene des Algerienkriegs ­ den Präsident Charles de Gaulle aus realpolitischer Einsicht heraus beendete ­ geht, haben historische Richtungsentscheidungen auf beiden Seiten tiefe Gräben hinterlassen. Aber in anderen Teilen der bürgerlichen Rechten, namentlich auf ihrem wirtschaftsliberalen Flügel, sind diese Abgrenzungen von geringerer Bedeutung. Und mit der Erosion der zentralen Mythen des Gaullismus (weitgehend unabhängiger Nationalstaat, bedeutende Rolle des Staates im Wirtschafts- und Sozialleben) verblasst auch die Erinnerung an historische Weichenstellungen.

Nicolas Sarkozy am 11.Juni 2005. Bild: UMP

Auf der Suche nach künftigen politischen Mehrheiten, scheinen bedeutende Teile der bürgerlichen Rechten auf die Wählerschaft des rechtsextremen Front National (FN) zu schielen - und machen auch kein Hehl daraus. Am 30. Juni antwortete der amtierende Innenminister Nicolas Sarkozy, der wahrscheinliche nächste Präsidentschaftskandidat der Union pour un Mouvement Populaire (UMP) im Jahr 2007, auf eine entsprechende Nachfrage von Journalisten: "Ich ziele nicht darauf ab, die Wählerschaft des FN zu gewinnen; ich habe sie bereits."

Denkmal für ehemalige Rechtsterroristen

In den letzten Jahren, vor allem seit der Spaltung der rechtsextremen Partei von Anfang 1999, hat die konservative Rechte einige ehemalige Kader des FN aufgenommen. Im März 2004 wurde der Bürgermeister der Marseiller Trabantenstadt Marignane, Daniel Simonpieri, als parteiloser Abgeordneter in die gemeinsame Fraktion der beiden bürgerlichen Parteien UMP und UDF im Bezirksparlament von Marseille aufgenommen. Davor hatte Simonpieri ein Vierteljahrhundert lang, von 1974 bis 1999, ohne Unterbrechung dem Front National angehört. Später gehörte er noch bis 2002 der Abspaltung des FN unter dessen ehemaligem Chefideologen Bruno Mégret an, dem MNR (Mouvement National Républicain), der in einem städtischen Saal in seiner "Kommune" Marignane gegründet worden war. Doch aufgrund der chronischen Erfolglosigkeit des MNR, der heute nuroch eine Splittergruppe darstellt, kehrte Simonpieri der Partei den Rücken.

Vorige Woche nun machte Simonpieri, der nach seinem Austritt aus den Parteien der extremen Rechten aus der Medienberichterstattung verschwunden war, erneut Schlagzeilen. Auf beiden Seiten des Mittelmeeres. Denn der offiziell zum Bürgerlichen "geläuterte" Simonpieri ließ auf einem städtischen Friedhof in Marignane ein Denkmal für die "113 Kämpfer und Erschossenen, die fielen, damit L'Algérie française (das französische Algerien) leben kann", errichten. Damit sind niemand anders als die Rechtsterroristen der OAS (Organisation Armée Secrète, "Organisation geheime Armee" oder auch "bewaffnete Geheimorganisation") gemeint, die 1962/63 unter Präsident Charles de Gaulle hingerichtet wurden. Die OAS bombte und mordete seit dem Frühjahr 1961 gegen den Rückzug aus dem Kolonialkrieg in Algerien, den der Präsident ­ der zuvor noch mit dem Versprechen gewählt worden war, ihn erfolgreich zu Ende zu führen ­ angeordnet hatte. Zu ihren Aktionen gehörten Bombenanschläge auf arabische Märkte und andere Menschenmengen ebenso wie gezielte Morde an französischen «"Verrätern" und regierungsloyalen Polizeifunktionären. Unter den vier Namen, den das Denkmal von Marignane trägt, findet sich der von Jean-Marie Bastien-Thiery. Er hatte ein Maschinengewehr-Attentat gegen de Gaulle ausgeführt, das jedoch scheiterte.

Am 6. Juli sollte das Denkmal eingeweiht werden. Die geplante Feier wurde jedoch verhindert, da der Präfekt ­ der juristische Vertreter des Zentralstaats ­ in Marseille, Christian Frémont, den Auflauf verboten hatte. Rund 600 Rechtsextreme und Kolonialnostalgiker, darunter viele hochrangige Funktionäre des Front National, kamen dennoch zusammen. Sie mussten jedoch überwiegend vor den Friedhofstoren bleiben. Neben Antirassismusgruppen und der Liga für Menschenrechte (LDH erklärte auch die Stiftung für das Andenken Charles de Gaulles ihre Empörung.

Signale an rechtsextreme Wähler?

Die Frage, ob man nicht über eine "Normalisierung" der Beziehungen zur extremen Rechten gelangen müsse, um deren Wähler bei der Suche nach einer Mehrheit einbeziehen zu können, stellt sich für die französischen Konservativen seit 15 bis 20 Jahren. Unter der Führung von Jacques Chirac haben sich die verschiedenen Rechtsparteien, die sich 2002 zur neuen Sammlungsbewegung und konservativ-liberalen Einheitspartei UMP zusammenschlossen ­ nur ein Teil der christdemokratischen UDF blieb organisatorisch selbständig ­ eine Annäherung an den Front National jedoch mehrheitlich stets abgelehnt.

Es existiert jedoch noch eine andere "Linie", eine andere Position in ihren Reihen. Besonders um rechtsextreme Wähler bemüht war dabei vor nunmehr 10 Jahren ein konservativer Spitzenpolitiker, der zeitweilige Premierminister Edouard Balladur. Dieser wurde bei der Präsidentschaftswahl 1995 von seinem innerparteilichen Rivalen Chirac ­ beide gehörten damals dem neogaullistischen RPR (Rassemblement pour la République ) an -, der gegen ihn antrat, aus dem Rennen geschlagen.

Balladur empfing in den Monaten nach seinem Amtsantritt 1993 mehrmals Vertreter des Front National zu politischen Sachgesprächen. Dabei ging es freilich keineswegs um Koalitionsverhandlungen ­ dafür war der FN zu offen neofaschistisch, und an eine Regierungsbeteiligung wagte kaum jemand ernsthaft zu denken -, wohl aber um eine "Entpannung" gegenüber der rechtsextremen Partei. Eine solche Schaffung eines angenehmen und entspannten Klimas im Umgang mit den Neofaschisten sollte es den Bürgerlichen leichter fallen, deren Wähler zumindest im entscheidenden zweiten Wahlgang ­ denn in der Stichwahl war und ist der FN nur selten vertreten ­ anzuziehen. Die WählerInnen sollten angesprochen werden, indem man "ihre" Partei symbolisch aufwertete.

Im Juni 1998 ging Balladur dann als Oppositionspolitiker sogar so weit, mit dem FN über die Einführung der "Inländerbevorzugung" (préférence nationale) debattieren zu wollen. So heißt das Kernstück des rechtsextremen Programms, anders ausgedrückt: die systematische Bevorzugung der gebürtigen Franzosen bei Arbeitsplätzen, Sozialleistungen und Kindergeld. Balladur erklärte damals, man solle eine Kommission einrichten, um in aller Ruhe darüber zu debattieren, ob die gesetzliche Einrichtung einer solchen "préférence nationale" sinnvoll sei oder nicht.

Einer stimmte ihm dabei zu und wollte "in Ruhe" über das Thema "diskutiert" wissen, nämlich der damalige Generalsekretär der Neogaullisten: ein gewisser Nicolas Sarkozy. Der dachte sich sogar extra eine Begründung aus: Da das Prinzip der "Inländerbevorzugung" im Staatsdienst ohnehin gelte, jedenfalls in den hoheitlichen Bereichen (Polizei, Justiz... denn dort ist es Einstellungsvoraussetzung, über die französische Staatsbürgerschaft zu verfügen), sei die Sache gar nicht dramatisch und man könne auch locker darüber reden.

Seitdem Balladur die Wahl von 1995 verlor, kam es zu keinen Treffen mit Unterhändlern des FN mehr. Doch am 27. Juni dieses Jahres wurde die unterbrochene Tradition erstmals wieder aufgenommen. Zwei Vertreter der rechtsextremen Partei, der Europaparlamentarier Jean-Claude Martinez und ihr Generalsekretär Carl Lang, wurden am Amtssitz des Premierministers Dominique de Villepin zu Sachgesprächen empfangen. Es ging um die Auswertung der Ergebnisse beim Referendum zum EU-Verfassungsvertrag von Ende Mai. Sicher, am selben Tag wurden auch andere Parteien empfangen, sämtliche Linksparteien empörten sich jedoch lautstark über diese "Aufwertung" der ­ zur Zeit eher in der Krise steckenden ­ Rechtsextremen. Am lautesten tönte Sarkozy, der sich als Innenminister, als eigentlicher "starker Mann" der Regierung und als Vorsitzender der konservativen Sammlungsbewegung UMP in einer Person äußerte, dieser Empfang sei "völlig normal".

Inhaltlich forderte Sarkozy bei seiner Anhörung vor allem einen vorläufigen Stopp jeder weiteren Erweiterung der EU, d.h. im Klartext das Draußenhalten der Türkei. Dafür sprach sich auch der Front National aus, der freilich daneben noch den Rücktritt von Präsident Jacques Chirac als Verlierer des Referendums verlangte.

Thema Zuwanderungspolitik

Schon ist seit einem Regierungsseminar vom 9. Juni ferner die Rede davon, dass die Einwanderungspolitik wieder zum Wahlkampfthema werden soll. Seit der Spaltung und nachfolgenden Krise der extremen Rechten von 1999 hatten die anderen Parteien dieses Thema vorübergehend ruhen lassen und aus den Wahlkämpfen draußen gehalten. Dabei stellt Sarkozy es aber geschickter an als seine Amtsvorgänger, die wie der damalige Innenminister Charles Pasqua in den frühen 90er Jahren unrealistische ideologische Slogans herausgaben wie "Zéro immigration" ("Null Einwanderung", Pasqua 1993). Diese ideologische Maxime war ohnehin in der Praxis nicht durchzuhalten, da Gesetze und Gerichte für die Einhaltung rechtsstaatlicher Mindesstandards ­ etwa bei der Untersuchung von Asylanträgen und beim Recht auf Familiennachzug für legal in Frankreich lebende Einwanderer ­ sorgten. Der extremen Rechten fiel es damit leicht, auf die "Inkonsequenz" und die "leeren Versprechen" der regierenden Konservativen hinzuweisen und dadurch ihre eigenen Positionen zu stärken.

Sarkozy ist in dieser Hinsicht geschickter und "moderner". Er verbindet ganz offen die Bedürfnisse der französischen Wirtschaft mit Angeboten an den rassistischen Teil der Wählerschaft.

"Selektive Einwanderung" lautet heute das Stichwort: Die Höchstqualifizierten, die mit ihrem Humankapital den Effekten der "Überalterung" der französischen Gesellschaften entgegen steuern und dem nationalen Wettbewerbsstaat von Nutzen sein sollen, dürfen kommen. Im Gegenzug soll die Zahl der aufgrund des Rechts auf Familiennachzug sowie des Asylrechts Einwandernden drastisch reduziert werden. "Einwanderung zur Arbeit statt Einwanderung durch Rechtsanspruch" oder auch "Ausgewählte Zuwanderung statt erlittene Zuwanderung", proklamiert dabei Nicolas Sarkozy. So will der Minister und künftige Präsidentschaftskandidat den Familiennachzug durch Verschärfung der Kriterien (Wohnraum, Integration der in Frankreich lebenden Familienmitglieder) um mindestens die Hälfte reduzieren, Eheschlüsse zwischen Menschen mit französischer und ausländischer Staatsbürgerschaft systematisch aus den Verdacht von "Scheinehen" hin durchleuchten lassen und die medizinische Notversorgung für "illegale" Einwanderer deutlich einschränken. Letzere, Aide médicale d¹Etat (AME) genannt, erlaubt es bisher Menschen, die ohne gültige Aufenthaltspapiere in Frankreich leben und deswegen keinerlei Sozialversicherungsschutz aufweisen, sich dennoch in dringenden Fällen im Krankenhaus behandeln zu lassen.

Ferner soll die Zahl der Abschiebungen unerwünschter "illegaler" Einwanderer, die in Frankreich bei 9.000 im Jahr 2001 und bei 16.000 im vorigen Jahr lag, auf 25.000 im laufenden Jahr gesteigert werden. Beim Gipfel der Innenminister der sogenannten G5-Staaten (das sind die Länder, die einen "harten Kern" der EU bei der Zusammenarbeit in repressiven Dingen bilden wollen: Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Italien, Spanien) in Evian am 5. Juli 2005 konnte Sarkozy seine Amtskollegen für die Ideen gemeinsamer Kollektivabschiebungen größerer Gruppen von unerwünschten Migranten aus diesen Ländern gewinnen. Dabei ist etwa an die Einrichtung von Sonderflügen gedacht, um die Abschiebungen wirtschaftlich zu rentabilisieren. Am gleichen Ort warb Sarkozy für seine Idee, die Herkunftsländer für einen "Deal" zu gewinnen: Wenn deren Regierungen möchten, dass ihre Hochqualifizierten in Frankreich oder Europa arbeiten dürfen ­ in der Hoffnung, dass diese Gelder nach Hause an ihre Familien überweisen und so die Nationalökonomien am Laufen halten -, dann sollen sie gefälligst ihre Hungerleider bereitwillig zurücknehmen.

"Bisher kann nie mehr als ein Drittel der angeordneten Abschiebungen wirklich durchgeführt werden", bemängelte Sarkozy, "weil die Konsulate ihrer Herkunftsländer Schwierigkeiten bei der Rücknahme" der Unerwünschten bereiteten. Das will der Minister jetzt geändert wissen: Nur jene Länder sollen bei der Vergabe von Visa an ihre BürgerInnen (oder Untertanen) "großzügig" behandelt werden, deren Konsulate bereitwillig "Passierscheine" für Abschüblinge aus Frankreich ausstellen. Denn ohne ein solches diplomatisches Dokument, das den (unfreiwilligen) Grenzübertritt erlaubt, können Abschiebekandidaten nicht außer Frankreichs geschafft werden. Dabei bedeutet der vorgeschlagene Deal jedoch für die Herkunftsländer, dass ihnen ihre gut ausgebildeten Bildungseliten abgeworben werden, während ihnen die Hungerleider und Überflüssigen zurückgeschickt werden.

Sarkozy, der "Ordnungmacher"

Ansonsten punktet Sarkozy derzeit vor allem mit Law & Order-Rhetorik. So versprach er in der letzten Juniwoche, eine Plattenbausiedlung in der Pariser Vorstadt la Courneuve "mit dem Hochdruckreiniger zu säubern", nachdem sich ein tragischer Unfall ereignet hatte: Bei einem privaten Streit zwischen zwei jungen Männern hatte der eine zu ballern begonnen, doch die Kugeln trafen einen unbeteiligten elfjährigen Jungen. Sarkozy wollte dafür "die Dealer, Gesetzesbrecher und Sans papiers" bezahlen lassen. Bei einem mit großem Aufwand durchgeführten polizeilichen Durchkämmen der Siedlung wurde jedoch nichts Spektakuläres gefunden. Der Aufsehen erregendste Fund war ein rotlackiertes Mofa.

"Ist bei Sarko eine Sicherung durchgebrannt?", fragte deswegen die eher konservative, Boulevardzeitung 'France Soir" am 24. Juni. "Der Saubermacher" lautete der Aufmacher einer anderen Boulevardzeitung am Vortag, und die linksliberale Libération widmete ihm den Titel "Der Wiederholungstäter".

Der Minister machte mit heftiger Richterschelte weiter. 2003 war ein wegen Mordes verurteilter Straftäter aus einer elsässischen Haftanstalt nach 17 Jahren Gefängnis unter Auflagen ­ dazu zählte eine zehnjährige Justizaufsicht - freigekommen, nachdem Psychiater und Experten ihm allesamt positive Prognosen ausgestellt hatten. Jetzt wird er verdächtigt, im Pariser Umland einen neuen Mord begangen zu haben. Sarkozy zufolge soll "der Richter" jetzt persönlich "bezahlen", auch wenn in Wirklichkeit ein mehrköpfiges Kollegium den Beschluss fasste.

Dabei setzt der Innenminister sich ebenso über das Prinzip der Gewaltenteilung hinweg wie über die Erkenntnis, dass in vergleichbaren Fällen die Rückfallquote nach offiziellen Statistiken niedriger ist als die Wahrscheinlichkeit, dass ein bisher unbescholtener Bürger künftig ein Verbrechen begeht. Soll man also vorsichtshalber alle einsperren, um jedes Risiko auszuschalten? Bei den vorzeitigen Haftentlassungen, unter Auflagen und behördlicher Aufsicht, ist die Rückfallquote ferner nur halb so hoch als in den Fällen, in denen keinerlei Maßnahmen zum Versuch der Wiedereingliederung in die Gesellschaft vorgenommen werden.

Auf solche Feinheiten kommt es dem Minister jedoch nicht an, ebenso wenig wie auf das Prinzip der Gewaltenteilung. Die rechtsextreme Wählerschaft scheint Sarkozys Ausfälle dagegen zu goutieren: Drei Viertel von ihr sympathisieren mit den Ansichten des Mannes zur Sicherheitspolitik. Dagegen demonstrierten am 1. Juli mehrere hundert Richter gegen den Innenminister, um ihn daran zu erinneren, dass die Gewaltenteilung zu den bürgerlich-demokratischen Minimalstandards zählt.