Leben an der Schwelle der Gegenwart
Jugendbewegungen in Osteuropa
Die aus den unerfüllten Versprechungen des Kommunismus und Kapitalismus entstandene Misere und Angst der Jugend wird in Osteuropa zu einem Problem. Die älteren Generationen der Osteuropäer trauern um die "guten, alten Tage" und weisen darauf hin, daß sich damals die Jugend viel besser benahm und daß die anarchistischen Verhaltensweisen und Einstellungen der heutigen Jugend einen "unerwünschten" Import aus dem Westen darstellen. Andere glauben hingegen, daß die Hoffnungen und Träume der Jugend vom gesellschaftlichen Umbruch und von der Armut in den letzten acht Jahren begraben wurden, was für den steilen Anstieg der Jugendkriminalität, des Drogenkonsums und der Suizide verantwortlich sei.
Besonders beunruhigende für beide Einstellungen ist der dramatische Anstieg der nihilistischen und selbstzerstörerischen Jugendbewegungen während der letzten Jahre. Die Gruftis gelten dabei als die größte Bedrohung. Der Name stammt von der deutschen Jugendbewegung, die in Westeuropa und in den USA in den 80er Jahren Anhänger fand. In Osteuropa spiegeln sich in ihr die Spannungen, die für diese Region in den chaotischen 90er Jahren typisch sind. Ihre Neigung zur inneren Gewalt - Drogenkonsum, gefährlichen Sex und Selbstverstümmelung - unterscheidet sie von ihren westlichen Verwandten.
Die Gruftis Osteuropas sind auf viele Weise paradox. Ihre schwarze Kleidung und ihre eingefetteten Haare erinnern an die Punkbewegung, aus der in England und in den USA in den 70er Jahren eine Musikrichtung hervorging. Aber da ihnen die Entschlossenheit und prahlerische Selbstdarstellung der Punks fehlt, richten die östlichen Gruftis ihre Aggression nicht nach außen, sondern nach innen. Das nimmt oft die Gestalt von Todesritualen an. Man bricht in Gruften ein, wo man Alkohol und Drogen (häufig ist die Inhalation von Klebestoff und Lösungsmitteln) konsumiert, Musik macht, düstere Gespräche führt und religiöse Bücher (meist die Bibel) bei Kerzenlicht liest.
Die Gruftis unterscheiden sich von den anderen düsteren europäischen Jugendbewegungen, da sie weder von Haß noch vom Rassismus wie die Skinheads motiviert sind, sondern von einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung gegenüber sich selbst und der Menschheit. Nach Gabor Dettre, einem in Ungarn geborenen Regisseur, der darüber einem Film mit dem Titel "Morgen wird mangels Interesse verschoben" gedreht hat, stellen Selbstverstümmelung und Tod Fluchtmöglichkeiten für die Gruftis dar.
"Sie sagen, daß sie nicht den Tod wünschen", sagt Dettre. "Sie warten nicht auf den Tod. Sie bereiten sich auf ihn vor, weil sie von ihm fasziniert sind. Es sieht so aus, als hätten sie keine Angst vor ihm. Viele sagen, daß der Tod nur besser als das Leben sein kann, weil für sie ihr Leben wirklich voll von Haß, Aggressivität und Schmerz ist."
Für Dettre und andere ist ein Großteil von diesem Haß und Schmerz ein Nebenprodukt der politischen Veränderungen, die in Osteuropa stattgefunden haben. Die Angst, die die Gruftis leitet, sei der gesellschaftliche Abstieg, den die unteren Gesellschaftsschichten erfahren mußten. "Während des Kommunismus ging eine Art von Würde von den unteren Klassen aus", erklärt Dettre. "Aber nach dem Kommunismus hatten diese Familien nichts mehr." Und er fügt hinzu: "Diese Jugendlichen scheinen die begabtesten und sensibelsten ihrer Generation zu sein. Ihre Fragen über den Sinn ihres Lebens sind klüger und gehen tiefer. Sie stellen die Verrücktheit der Welt um sie herum in Frage."
Das Problem mit der Analyse von Dettre und anderen ist, daß sie zu sauber und einfach ist. Die Grufti-Bewegung erstreckt sich nicht nur auf diejenigen, die aus der Arbeiterklasse stammen. Sie resultiert auch nicht aus dem Schwinden des Ansehens des Proletariats und der Auslöschung der sozialistischen Werte, die es repräsentierte. Die Gruftis ziehen wie andere Gruppen Anhänger wegen ihres Bildes an. Daher können genauso viele junge Menschen aus den unteren Klassen in der wachsenden Skinhead-Bewegung Osteuropas gefunden werden. Es geht schließlich nicht darum, wie ein einzelner die Wirklichkeit interpretiert, sondern wie Menschen glauben, eine wirksame Haltung gegenüber der Gesellschaft einnehmen zu können. Das bestimmt, ob sie ein Grufti oder ein Skinhead werden oder welche anderen Meinungen vorhanden und attraktiv sind.
Besorgte Eltern schaffen es nicht einmal, solche Fragen zu bedenken. Sie betrachten als Wurzel des Problems den steigenden Einfluß der postmodernen Jugendkultur, die während der letzten Jahre vom Westen in den Osten gewandert ist. Sie geben der nihilistischen Musik und einflußreichen Botschaften von Popgruppen wie The Cure oder Depeche Mode die Schuld, die von den Gruftis in Stil und Kleidung nachgeahmt werden, und sind der Überzeugung, daß sie den Geist ihrer Kinder verderben.
Aber wenn man mit einem komplexen Problem zu tun hat, ist es zu leicht und zu verführerisch, einer direkten Beeinflussung die Schuld zuzuweisen. Trotz der aus der Zeit des Kalten Krieges noch existierenden Propaganda war die osteuropäische Jugendkultur nicht hermetisch vom Westen abgeschlossen. Die Hippie- und Punkbewegungen entstanden im Osten ungefähr zur selben Zeit wie im Westen, auch wenn sie nicht so offensichtlich zu Tage traten. Daher leitete der Fall der Berliner Mauer nicht einen plötzlichen Einfluß von Ideen der Gegenkultur ein.
Überdies konnten nicht alle westlichen Jugendbewegungen im Osten Fuß fassen. Ein gutes Beispiel sind die Veganer aus Norddeutschland. In einer einzigartigen Vermischung aus einer vegetarischen Überzeugung und Anarchismus zerstörten diese Metzgereien, besprühten die Steaks von Kunden in Restaurants mit roter Farbe und nahmen Eier aus den Taschen von Einkäufern, die sie dann auf dem Boden warfen. Als eine Region, in der Fleisch das Hauptnahrungsmittel der Menschen und ein vegetarisches Programm noch kaum vorhanden ist, hat sich Osteuropa nicht als geeignete Umgebung für Veganer erwiesen.
Die Osteuropäer müssen erkennen, daß Jugendbewegungen ein Zeichen der Zeit sind. Irgendetwas dafür verantwortlich zu machen oder die Gründe in saubere und einfache Kategorien aufzuteilen, wird zu keinem Ergebnis führen und nur ein komplexes, weiterhin zunehmendes Phänomen verstärken.
Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer