Lebensretter werden zu Kriminellen erklärt
Seite 2: Verkehrung der Tatsachen
Die deutsche Regierung trägt die repressive europäische Migrations- bzw. Flüchtlingsabwehrpolitik mit. Praktisch wie rhetorisch. Dem Beschlagnahmungsakt jetzt ging eine monatelange Hetzkampagne gegen die unabhängigen Seenotretter voraus. Italienische Staatsanwälte, aber auch die europäische Grenzschutzagentur Frontex behaupteten, NGOs würden mit den libyschen Schleppern gemeinsame Sache machen (Vorwürfe gegen NGOs)
In Libyen, einem Land weitgehend ohne Staat, stranden Flüchtlinge aus vielen Ländern Afrikas und fallen dort in die Hände krimineller Schlepperbanden, die aus deren Not ein Geschäft machen. Oftmals mit Gewalt treiben sie die Fluchtwilligen auf meeruntaugliche Schlauch- oder Holzboote und überlassen sie ihrem Schicksal. Wie viele in den letzten Jahren bisher ertrunken sind, weiß niemand. Man muss von einer fünfstelligen Zahl ausgehen. Eine sechsstellige Zahl von Menschen konnte allein 2017 davor bewahrt werden.
Diese Retter, die bei ihren Einsätzen immer wieder auch selber in Gefahr sind, werden nun mit jenen gleichgesetzt, die die Migranten in den sicheren Tod schicken. Auch deutsche Politiker stimmen in diesen ungesitteten Chor ein. "Wir wollen kein Reiseunternehmen auf dem Mittelmeer", so der CSU-Bundestagsabgeordnete Michael Frieser vor kurzem. Die privaten Rettungsorganisationen würden "nicht den Flüchtlingen helfen", sondern "die Geschäfte der Schlepper betreiben". Er folgt wortgetreu den Äußerungen seines Innenministers. "Wenn wir jeden retten wollten, würden wir die Geschäfte der Schlepper betreiben", hat Thomas de Maizière schon vor einiger Zeit verlautbart und damit klargestellt, dass er "nicht jeden retten" will.
Die SPD übt sich vorrangig in Schweigen, wie die Reaktion des SPD-geführten Außenministeriums im Fall "Iuventa" zeigt. Als im Frühjahr 2016 der Gründer der Seenotrettungsorganisation SOS Mediterranée, Klaus Vogel, zusammen mit Justizminister Heiko Maas in der TV-Talkshow "Drei nach neun" saß und von den dramatischen Rettungsaktionen berichtete, brachte es der Sozialdemokrat fertig, diese Leistung mit keinem Wort (in Worten: keinem Wort) zu würdigen. Stattdessen brummelte auch er etwas von "Schleppern" und versuchte so, die Retter in den Dunstkreis der Kriminellen zu rücken.
Eine geradezu böswillige Verkehrung der Tatsachen. Nicht wenige zivile Retter nehmen berufliche und finanzielle Risiken auf sich, brechen mit ihren bisherigen Existenzen, um im Mittelmeer zu helfen. Das Betreiben der 80 Meter langen "Aquarius" beispielsweise, die mehrere hundert Menschen an Bord nehmen kann, kostet im Monat über 300 000 Euro. Sie müssen durch Spenden immer neu aufgebracht werden.
Der neue harte Kurs gegen die Nicht-Regierungsorganisationen lässt sich zeitlich ziemlich genau an dem im Februar 2017 beschlossenen EU-Libyen-Deal festmachen. Die Europäische Union will mit der international anerkannten west-libyschen Regierung zusammenarbeiten - im Gegensatz zu den Herrschenden in Ost-Libyen - und die Küstenwache stärken, um die Fluchtwege nach Italien zu blockieren.
Mindestens ein Vorfall ist seither bekannt geworden, bei dem die libysche Küstenwache Schüsse während einer Bergungsaktion des Schiffes "Aquarius" abgab, was zu Panikreaktionen führte.
Die andere Seite der EU-Grenzpolitik ist die Ablehnung der italienischen Forderung, weitere europäische Häfen für Flüchtlinge zu öffnen - in Spanien, Frankreich, Griechenland etwa. Damit bleibt alle Last der Aufnahme an diesem einen Land hängen.
Der "Verhaltenskodex" stellt internationales Seerecht auf den Kopf
Die italienische Regierung dachte sich daraufhin eine eigene Maßnahme aus, um die zivilen Rettungsschiffe unter ihre Kontrolle zu bringen. Unverändert fischen sie Tag für Tag Menschen aus dem Wasser und bringen sie in Kooperation mit der italienischen Rettungsleitstelle, dem Maritime Rescue Coordination Center (MRCC), in ausgewählte Häfen oder laden sie auf größere Schiffe um, die dann die Küste ansteuern.
Die NGOs sollen, geht es nach dem Willen Italiens, einen spezifischen sogenannten "Verhaltenskodex" ("Code of Conduct") unterschreiben. Weigern sie sich, soll ihnen die Einfahrt in italienische Häfen verwehrt werden.
Mit diesem geplanten Verhaltenskodex, einer Art Privatvertrag zwischen NGOs und Italien, eskalierte der Streit vollends. Ein fragwürdiges Dokument, mit dem die Seenotretter nicht nur an die Leine gelegt würden, sondern das auch internationales Seerecht auf den Kopf stellen würde.
Nach dem Code of Conduct sollten sich die NGOs verpflichten, italienische Polizei an Bord zu lassen. Einige lehnen das kategorisch ab, andere sagen, nur ohne Waffen. Wieder andere, nur wenn sie Rettungsaktionen nicht stören würden. Jedenfalls widerspräche das nicht nur dem Neutralitätsgedanken der Retter, sondern auch internationalem Recht. Jedes Schiff stellt ein Hoheitsgebiet des Landes dar, unter dessen Flagge es fährt.
Die Rettungsschiffe sollten die Geretteten nicht mehr auf andere größere Schiffe umladen dürfen, sondern selber in einen Hafen transportieren. Das würde viele Rettungsaktionen verzögern oder gar verunmöglichen. Nach dem internationalen Übereinkommen zum Schutz menschlichen Lebens auf See hat ein Kapitän die Pflicht, Gerettete an einen "sicheren Ort" zu bringen. Das heißt nicht unbedingt, dass sie an Land und in einen "sicheren Hafen" gebracht werden müssen. Ein "sicherer Ort" kann auch ein geeignetes größeres Schiff sein.
Die Rettungsschiffe sollten nachts keine Lichtsignale mehr einsetzen, um keine Schleuser anzuziehen. Das jedoch widerspricht internationalen Kollisionsverhütungsregeln, die gerade verlangen, dass sich Schiffe nachts sichtbar machen.
Und schließlich sollten die Rettungsschiffe laut Code of Conduct libysche Hoheitsgewässer generell und in jedem Fall meiden. Diese Regelung widerspricht dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen. Danach dürfen private Schiffe Hoheitsgewässer nicht nur durchfahren, sondern haben sogar die Pflicht hineinzufahren, sollten sie einen Seenotfall bemerken.
Schwarz auf weiß hat das alles der wissenschaftliche Dienst des Bundestages formuliert und vor wenigen Tagen auf seiner Webseite veröffentlicht.
Auch zu der angekündigten Verwehrung des Hafenzugangs macht der unabhängig arbeitende wissenschaftliche Dienst kritische Anmerkungen: So etwas stehe unter dem Vorbehalt, internationale Konventionen einzuhalten. Außerdem gebe es ein "völkergewohnheitsrechtliches Nothafenrecht". Alles in allem eine Bankrotterklärung für den beabsichtigten "Code of Conduct", der damit eigentlich vom Tisch sein sollte.
Einige Organisationen haben sich geweigert, den Verhaltenskodex zu unterzeichnen, andere wollen das tun. Noch wird darüber verhandelt.