Lebensstil bei Hundertjährigen ohne Bedeutung
Sie essen, konsumieren Alkohol und Nikotin und bewegen sich so wenig wie andere Menschen, möglicherweise, so eine Studie, dank ihrer Gene
Viele Menschen nehmen teils schwere Bürden auf sich, um nicht nur gesund zu leben, sondern natürlich deswegen, um möglichst lange zu leben. Vermieden werden soll alles, was dem Körper schädlich sein könnte, während angestrengt den vielfältigen Empfehlungen der Gesundheitsweisen gefolgt wird, diesen so zu trainieren, zu bewegen und fit zu halten, dass ein wie auch immer begründeter vorzeitiger Tod ebenso wie vermeidbare Erkrankungen verhindert wird. Während die einen vor einer Überwachungsgesellschaft warnen, weil Staaten und Unternehmen die technischen Möglichkeiten des weitestgehenden Datensammelns nutzen, sind die neuen Puritaner, getrieben von der Sorge um sich selbst bzw. um ihren Körper, in dem sie stecken, eifrige Selbstkontrolleure und -überwacher, die alle möglichen Daten sammeln und streng nach sehr unterschiedlichen, weil von Moden abhängige Vorschriften mit ihrem Körper umgehen, der wie eine Maschine gewartet werden will, um hohe Leistung, langes Leben und ästhetische Aussehen zu gewährleisten.
Einen gewissen Dämpfer könnte dem zwanghaften Optimismus der Körperoptimierer eine Studie von Altersforschern des Albert Einstein College of Medicine of Yeshiva University versetzen. Nach dem Ergebnis führen Menschen, die 95 Jahre und älter werden, keinen besonders gesunden und kontrollierten Lebensstil, sondern essen, rauchen, trinken und bewegen sich wie andere Menschen auch. Allerdings gibt es, wie zu erwarten, natürlich Einschränkungen, wodurch sich gerade nicht sagen lässt, dass der Lebensstil völlig egal ist.
Für die Studie, deren Ergebnisse im Journal of the American Geriatrics Society veröffentlicht wurden, haben Nir Barzilai und Kollegen 477 Ashkenazi-Juden befragt, die am Projekt der Universität über mögliche Langlebigkeits-Gene teilnahmen und zwischen 95 und 112 Jahre alt waren. Dass 75 Prozent dieser Altersgruppe Frauen waren, lässt schon Schieflagen zwischen den Geschlechtern erahnen. Ausgewählt wurde die Gruppe der Ashkenazi-Juden deswegen, weil diese von einer kleinen Gruppe abstammen und genetisch einheitlicher sind als andere Bevölkerungsgruppen. Deswegen sind sie ähnlich wie die Isländer eine beliebte Gruppe für Genstudien, schließlich kann man hier auch leichter die genetischen Varianten sehen.
Gefragt wurden die greisen Studienteilnehmer nach ihrem Lebensstil seit dem 70. Geburtstag, wobei unterstellt wurde, dass dieser Zeitabschnitt auch für den Rest der Lebenszeit repräsentativ sein soll (woran man durchaus Zweifel erheben könnte). So gaben sie Gewicht und Körpergröße an, berichteten von ihrem Alkohol- und Rauchkonsum, ihrer körperlichen Aktivität und ihren Essgewohnheiten. Zum Vergleich wurden Daten von 3.164 Personen herangezogen, die in derselben Zeitspanne wie die über 95-Jährigen geboren wurden und für eine andere Studie zwischen 1971 und 1975 befragt wurden.
Die Hundertjährigen leben nach dem Vergleich in etwa genauso wie die übrigen Menschen. Bei den superalten Männern tranken beispielsweise 24 Prozent täglich Alkohol, in der Vergleichsgruppe waren es nur 22, bei den Frauen war es mit 12,1 Prozent versus 11,3 Prozent ähnlich. Nur 43 Prozent der hundertjährigen Männer und 47 Prozent der Frauen haben mäßig Sport betrieben, während dies 57 Prozent der Männer und 44,1 Prozent der Frauen in der Vergleichsgruppe sagten. Auch eine Ernährung mit wenig Kalorien oder der BMI-Index zeichnet die Hundertjährigen nicht aus. Auch wenn es einen ähnlichen Prozentsatz an Übergewichtigen in beiden Gruppen gibt, so zeichnen sich die Hundertjährigen dadurch aus, dass sie deutlich weniger zur Fettleibigkeit neigen. Bei den männlichen Hundertjährigen waren 4,5 Prozent fett, in der Kontrollgruppe 12,1 Prozent fett, bei den Frauen waren es 9,6 Prozent gegenüber 16,2 Prozent.
Die Wissenschaftler vermuten, dass neben dem Risiko der Fettleibigkeit nicht in erster Linie der Lebensstil, sondern bestimmte Langlebigkeits-Gene den Unterschied ausmachen. Sie könnten dafür sorgen, dass die negativen Folgen eines ungesunden Lebensstils nicht so durchschlagen, der bei genetisch weniger glücklich ausgestatteten Menschen zu einem früheren Tod führt. Die Körper der Langlebigen würden also irgendwie mit Umwelteinflüssen anders umgehen können, sagen die Wissenschaftler. Ob es an den Genen liegt, ist freilich nur eine Vermutung, ebenso wenig ist klar, welche hier eine Rolle spielen. Man darf aber erwarten, dass die Forschung an den genetischen Voraussetzungen des langen Lebens durch diese Studie an Schwung gewinnen wird. Mit Gentests, vielleicht schon bei der PID, ließe sich vielleicht deren Vorhandensein oder Abwesenheit und damit die tickende Lebensuhr schon feststellen. Und noch interessanter wäre freilich, ob sich solche Langlebigkeits-Gene, sollte es sie geben und sie wider Erwarten keine erhebliche Nebenwirkungen haben, auch mittels einer Gentherapie künftig in den Körper von Erwachsenen oder von künstlich erzeugten Embryonen einbauen ließen.
Unbeantwortet bleibt allerdings auch die Frage, ob eine bzw. welche als gesund geltende Lebensweise bei den genetisch Kurzlebigeren das Leben verlängert könnte - oder ob dies hier auch egal ist, man also genetisch zum kurzen Leben verdammt ist. Barzilai jedenfalls will den Menschen keinen Freibrief ausstellen. Selbst wenn die Hundertjährigen trotz schlechter Gewohnheiten so alt geworden seien, sollten diejenigen, in deren Familie Langlebigkeit nicht auftritt, durchaus auf ihr Gewicht achten, nicht rauchen und Sport ausüben, "da diese Aktivitäten erwiesenermaßen für die allgemeine Bevölkerung große gesundheitliche Vorteile, eine längere Lebensspanne eingeschlossen, haben".
Die Wissenschaftler fragten die Hundertjährigen auch, weswegen sie glauben, ein so hohes Alter erreicht zu haben. Für ein Drittel spielt die Familiengeschichte eine Rolle, aber ein Fünftel meint doch, die körperliche Aktivität sei eine Ursache, 19 Prozent sagen, die positive Einstellung zum Leben, sei wichtig, für 12 Prozent ist es ein aktives Leben, für 15 Prozent geringer Alkohol- und Nikotinkonsum. Für 8 Prozent ist es einfach Glück, für 6 Prozent hat es was mit der Religion zu tun. Da kann sich jeder etwas herauspicken, aber wenn es sich um ein Geschenk der Gene handeln sollte, ist es einfach Schicksal oder Glück.