Leistungsgesellschaft: Müssen Universitäten Gehirndoping verbieten?

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Schulen und Hochschulen sollen Menschen bilden. In diesem Sinne sind gesteigerte Intelligenz und geistige Leistungsfähigkeit ihre ausdrücklichen Ziele. Doch was, wenn zu diesem Zweck Psychopharmaka und Drogen konsumiert werden?

Wer kennt nicht jemanden, der jemanden kennt, der schon einmal daran dachte, seine geistige Leistungsfähigkeit mit Psychopharmaka oder Drogen zu steigern?

Sie haben bestimmt schon einmal vom Gehirndoping oder Neuroenhancement gehört. Seit Jahren möchten Medien uns weismachen, dass es so gut wie jeder tut. Oder immerhin 16 oder 25 Prozent. Das sind die gängigsten Zahlen. Meist geht es dabei um Studierende.

Die 16 Prozent stammen aus einer Bachelorarbeit aus dem Jahr 2000, für die der Drogenkonsum an einem US-College untersucht wurde. Im Fokus der Befragung standen Amphetamin (Szenename: "Speed"), Methylphenidat (der Wirkstoff im Medikament Ritalin) und Kokain.

Substanzkonsum aus Spaß

Kleiner Haken an der Sache: Es ging hier gar nicht um die Leistungssteigerung, sondern Verwendung der Mittel zum Spaß. Immerhin werden diese Stimulanzien auch für Partys, zum Erleben eines Rauschs oder auch zum Abnehmen genommen. Und selbst dann bezogen sich die 16 Prozent auf mindestens einmaligen Konsum.

Die Zahl ist also nicht sehr aussagekräftig. Mit über 400 Zitationen laut Google Scholar dürfte es sich trotzdem um eine der meistzitierten Bachelorarbeiten unserer Zeit handeln. In diesem Sinne war die Veröffentlichung ein voller Erfolg. Meines Wissens haben sich die beiden Autoren danach übrigens nie wieder mit dem Thema beschäftigt.

Die 25 Prozent sind auch auf interessante Weise zustande gekommen. Tatsächlich handelte es sich diesmal um eine methodisch sehr gute Studie von echten Fachleuten, die sich hauptberuflich mit der Erforschung des Substanzkonsums beschäftigen. (Sie selbst nennen es übrigens: Drogenmissbrauch.) Die Ergebnisse sind sogar repräsentativ, was eher die Ausnahme als die Regel ist.

Statistische Ausreißer

Kleiner Haken an der Sache: Die Antworten von fast 11.000 Studierenden von 119 US-Colleges ergaben einen Mittelwert von 4,1 Prozent. Dabei ging es darum, dass die Befragten mindestens einmal im letzten Jahr verschreibungspflichtige Substanzen ohne medizinischen Grund verwendet hatten. (Für den Vormonat waren es übrigens nur noch 2,1 Prozent.)

Wie kommt man nun von 2,1 oder 4,1 auf 25 Prozent? Ganz einfach: Man sucht einen statistischen Ausreißer und lässt den ganzen Rest unter den Tisch fallen. Obwohl an satten 21 Colleges das Ergebnis sogar null Prozent betrug, kommunizierte man nur noch die 25 Prozent, die an einem einzigen College auf die Frage mit "ja" geantwortet hatten.

Diese Studie war ein sogar noch größerer Erfolg: 1.145 Zitationen zählt Google Scholar. Aufmerksame Leser werden zudem festgestellt haben, dass "nichtmedizinische Verwendung" noch lange nicht bedeutet, dass es hier um die geistige Leistungsfähigkeit geht. Stimmt. Das haben die Autoren so auch geschrieben. Doch wen interessieren schon die Details?

Ewige Wiederholung

Wenn die Botschaft, dass Gehirndoping ein neuer und zunehmender Trend ist, nur oft genug wiederholt wird, dann glauben es irgendwann die Leute. So funktioniert auch Propaganda. Das geht übrigens nicht nur auf das Konto der "bösen Journalisten". Nein, auch namhafte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind sehr kreativ mit den Zahlen umgegangen.

Manchmal nahm das solche bizarren Züge an, dass Akademiker aus journalistischen Quellen zitierten, um den angeblich dramatischen Anstieg des Substanzkonsums zu belegen. Das nahmen wiederum Journalisten zum Anlass, wieder darüber zu berichten. Immerhin sagen es ja die Fachleute.

Dies waren nun Beispiele aus den Jahren 2000 und 2005. Doch auch in unserer Zeit geht es so weiter. Die (unabhängige) Groninger Universitätszeitung lancierte beispielsweise erst 2021 mehrere Leitartikel, die wieder ein Szenario verbreiteten, wonach fast alle Studierenden die Mittel für die Klausurphasen nehmen.

Sogar die 16 Prozent kehrten wieder. Allerdings nicht aufgrund der oben genannten Bachelorarbeit. Diesmal wurde eine neue (nicht-repräsentative) Befragung umgedeutet. Schaut man die Zahlen nach, kommt man auf 0,2 Prozent regelmäßige Konsumenten von Stimulanzien wie Methylphenidat ohne Rezept. Es geht also um eine achtzigfache Übertreibung. Wirklich, es ist kein Witz!

Und selbst hier ist es wieder so, dass die Ergebnisse sich im Wesentlichen auf den Konsum "zum Spaß" bezogen. Doch wen kümmern solche Details? Die heiße Story las wohl jemand beim niederländischen Gesundheitsministerium und spielte sie dem Staatssekretär zu.

Folge: Die Niederländische Regierung will jetzt ganz offiziell gegen Gehirndoping vorgehen. Das war für manche Journalisten natürlich ein gefundenes Fressen. Denn wenn sich jetzt sogar die Regierung des Themas annimmt, muss es wichtig sein. Logisch, oder?

Kaum regelmäßige Konsumenten

Nun gut. Dass manche Menschen solche und ähnliche Mittel nehmen, um ihre geistige Leistungsfähigkeit zu steigern, lässt sich nicht von der Hand weisen. Ich verweise seit vielen Jahren darauf, dass sich die Zahlen im einstelligen Prozentbereich bewegen. Das ist aber wohl für die meisten Medien nicht interessant genug.

Dabei bezieht sich das noch auf gelegentlichen Konsum. Wirklich regelmäßig mögen es ein, zwei, mit ziemlicher Sicherheit nicht mehr als fünf Prozent sein. Genau das bestätigte erst vor Kurzem wieder eine repräsentative und landesweite Studie hier in den Niederlanden, die sich den Substanzkonsum von Studierenden während der Corona-Pandemie genauer anschaute:

Demnach haben 1.139 von 28.442 Studierenden – das sind 4,0 Prozent – innerhalb der letzten zwölf Monate mindestens einmal konzentrationserhöhende Mittel ohne Rezept verwendet: junge Männer etwas häufiger als junge Frauen; außer Haus wohnende in etwa doppelt so häufig wie die, die noch bei den Eltern lebten; und Studierende mit Konzentrations-, Lese- oder Rechenproblemen mehr als doppelt so häufig wie der Rest.

Amphetamin konnte man früher frei in Apotheken oder Drogerien kaufen. Darum war der Konsum von Stimulanzien in der Vergangenheit wahrscheinlich verbreiteter als heute. Hier sehen wir die Ergebnisse von Befragungen an High-Schools des Bezirks San Mateo in Kalifornien in den 1970ern. Bis zu einem Viertel der Schülerinnen und Schüler der 10. (rot) bzw. 12. Klasse (blau; gestrichelte Linien) hatte schon einmal Stimulanzien konsumiert. Wöchentlichen Konsum (durchgezogene Linien) gaben bis zu rund fünf Prozent an. Quelle: nach Ferrence & Whitehead, 1980

Nüchtern betrachtet kann man also festhalten: Obwohl Journalisten das Thema seit bald 20 Jahren im Widerspruch zu den Fakten immer wieder hochjazzen, ist es kein Massenphänomen. Es verrät uns mehr über die Aufmerksamkeit unserer Medien (und Wissenschaft, die sich hier auch nicht mit Ruhm bekleckert) als über Gehirndoping.

Einen wirklichen Hinweis auf einen Anstieg lieferten übrigens die Experten aus den USA, die ich oben schon einmal erwähnte. Die wiederholten nämlich im Zeitraum von 2003 bis 2013 ganze sechsmal dieselbe Befragung an einer Universität. Demnach stieg der nichtmedizinische Konsum verschreibungspflichtiger Stimulanzien tatsächlich von 5,4 auf 9,3 Prozent.

Doch Obacht! Auch das bezieht sich wieder nur auf mindestens einmaligen Konsum im Vorjahr. In einer anderen Veröffentlichung berichten die Fachleute, dass 82,1 Prozent der Konsumenten die Mittel weniger als zehnmal genommen hatten. Wenn vier von fünf Studierenden, die es mal ausprobieren, wieder damit aufhören, scheinen es keine Wunderpillen zu sein.

Inzwischen gab es weit über 100 solcher Erhebungen. Deren Ergebnisse sind kaum vergleichbar und streuen zwischen 2,1 und 58,7 Prozent. Damit lässt sich alles und nichts beweisen. Allgemein gilt: je schlechter die Studie, desto höher die Zahlen.